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Die Bücher des Alten Bundes erheben den Anspruch, Geschichtswerk und Religionsurkunde zu sein; sie sind aber beides weder durchwegs noch im strengen Verstande. Sie enthalten Legenden und Märchen, Epen und Novellen, Chronik und Biographie, Kirchen- und Zivilrecht, Theosophie und Liturgik, Lieder und Aphorismen, öde und noch dazu falsche Statistik und Vermächtnisse großer Poeten. Sie bilden aber auch kein geschlossenes Kunstwerk und lassen sich daher nicht mit anderen großen Nationaldichtungen, etwa der Ilias, auf eine Stufe stellen, denn selbst wenn diese nicht von Homer verfaßt sein sollte, so ist sie doch zweifellos von Dichtern komponiert, das Alte Testament hingegen von Redaktoren kompiliert. Indes darf man diesen Tadel (wenn er überhaupt einer ist) nicht überspannen. Wenn man darauf hinweist, daß die einzelnen Teile in Stil, 484 Tendenz, geistiger Höhenlage, zeitgeschichtlichem Hintergrund nicht einheitlich sind, so könnte es sich in einzelnen Fällen, zum Beispiel bei den Propheten, um verschiedene Reifephasen desselben Autors handeln; vor allem aber darf man nicht vergessen, daß der Begriff »Stil« im Altertum einerseits entwickelter, andrerseits weniger entwickelt war als heutzutage. Entwickelter: denn es gab unverrückbar festgelegte Genres und einen streng vorgezeichneten Wortvorrat und Formenschatz, und eben darum unentwickelter: denn Individualität war nicht Ziel des schriftstellerischen Ehrgeizes. Ferner verstieß es noch keineswegs gegen den literarischen guten Ton, sich mit fremden Federn zu schmücken oder umgekehrt sich in einen fremden Autor zu verstellen, und es hat oft der subtilsten und mühseligsten Untersuchungen bedurft, um in dieses Gewebe von naiven Entlehnungen, brutalen Fälschungen und virtuosen Stilkopien einigen Einblick zu gewinnen.
Das erste und älteste im Alten Testament sind Kriegs-, Sieges-, Spott- und Klagelieder, das letzte und jüngste die Stücke, die in der griechischen Zeit entstanden: Sprüche, Prediger, Hoheslied, die beiden Bücher der Chronika und die sogenannten »Apokryphen«, jene Schriften, die von den Katholiken als »deuterokanonisch« (später in den Kanon aufgenommen) ebenfalls zu den heiligen gerechnet werden, nach Luther »der Heiligen Schrift nicht gleichzuachten, doch gut und nützlich zu lesen sind« und von den Reformierten verworfen werden. Da sie nur in der griechischen Übersetzung standen, so wurden sie von den Juden ebenfalls nicht anerkannt. Daß andrerseits der Kohelet, eine ganz von weltstädtischer Skepsis erfüllte Serie von Lebensmaximen, und das Hohelied, ein Kranz bäuerlicher Hochzeitslieder, Aufnahme gefunden haben, ist sonderbar; es hatte seinen Grund darin, daß sie beide unter der Autorität Salomos auftraten und das Hohelied außerdem allegorisch gedeutet wurde: der Liebende als Jehova, die Geliebte als Israel. 485 Erst Herder erkannte den wahren Charakter der Dichtung als einer Sammlung erotischer Gesänge, »die nicht mehr miteinander zusammenhängen als eine Reihe schöner Perlen, auf einer Schnur gefasset«; sie seien nicht alle von Salomo gedichtet, aber »im größten Verstande salomonisch, ein Abdruck von dem Geschmack, von der Liebe, von der Üppigkeit und Zier, wie sie zu Salomos Zeiten und sonst nimmer im hebräischen Volke herrschten«, als »göttlich autorisierter Beleg seines Charakters und Lebens«. Erschaut man es mit solch tiefem Dichterauge, so gehört das Hohelied in der Tat in die Heilige Schrift. Aber auch der »Prediger« entbehrt trotz seiner fast hamletischen Bitterkeit, die an jeglichem Sinn verzweifelt, die Welt als verkehrt und selbst die Weisheit als Tollheit durchschaut, und seinem alexandrinischen Epikureismus, der einen guten Tag für das Beste am Leben hält, dennoch nicht einer, obschon tief versteckten, Frömmigkeit, die vor der Unerforschlichkeit Gottes und der Rätselhaftigkeit seiner Schöpfung ehrfürchtig haltmacht. Es ist ein ungemein feiner Zug, daß die Verkündigung der Eitelkeit alles Irdischen gerade aus dem Munde Salomos fließt, dessen Gestalt von der doppelten Strahlenkrone höchster geistiger und materieller Macht umglänzt ist.
Als das Kernstück des Kanons hat aber immer der Pentateuch gegolten, weshalb die Juden den Namen Thora, der eigentlich nur diesem zukommt, auf die ganze Sammlung ausdehnten. Man spricht aber richtiger von einem Hexateuch, denn das Buch Josua, das die Einnahme, Verteilung und Besiedlung Westpalästinas erzählt, bildet mit den Mosebüchern eine untrennbare Einheit: Die ganze heilige Geschichte findet in der Eroberung des Gelobten Landes erst ihren Sinn und Abschluß. Und tatsächlich entspringen alle sechs Bücher denselben Quellen. Man unterscheidet vier Hauptgeschichten: den Jahwisten (kurz mit J bezeichnet), den Elohisten (E), den Deuteronomisten (D) und die sogenannte Priesterschrift (P). Beim Jahwisten 486 und Elohisten spielt die Gottesbezeichnung sozusagen die Rolle eines Leitfossils. Das Deuteronomium, bekanntlich das fünfte Buch Mose, ist das Gesetz, das König Josia im Jahre 621 verlesen ließ, aber nicht als neues, sondern als wiederentdecktes: Er gab sich den Anschein, als habe er es beim Umbau des Tempels aufgefunden. Der Priesterkodex, der im wesentlichen das dritte Buch Mose, Leviticus, mit den angrenzenden Partien des zweiten und vierten umfaßt, ist die Gesetzgebung Esras vom Jahr 444: Auch diese gab sich, obgleich aus dem babylonischen Exil importiert, als uralt. Um aber die neuen Teile mit den alten einigermaßen zur Deckung zu bringen, wurden diese beide Male, zuerst im Sinne von D, dann von P, einer systematischen Bearbeitung unterzogen: da das Gesetz von jeher bestand, aber trotzdem, was nicht gut abzuleugnen war, nicht gehalten wurde, konnte Israel nicht in Unkenntnis, sondern nur in Ungehorsam gehandelt haben und seine Geschichte nichts als ein einziger großer, immer wieder erneuter Abfall gewesen sein. Mit einem Wort: die Gesetzgebung von D und P hat rückwirkende Kraft. Aus dieser Entstehungsgeschichte des Hexateuchs erklärt es sich, daß alle wichtigen Gesetze darin dreimal vorkommen: auf der Stufe von E als Dekalog, von D als »zweite mosaische«, von P als levitische Gesetzgebung.