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Der Semit denkt in Stämmen: Im Gegensatz zum Indogermanen weiß er nichts von dem einmaligen und ewigen Wert der einzelnen Menschenseele; deshalb blieb ihm die christliche 417 Ethik ebenso verschlossen wie der christliche Jenseitsglaube. Die israelitische Religionsgeschichte ist die Geschichte der israelitischen Stämme und ihrer Beziehungen zu Jahwe, stets wendet sich dieser an Israel: auch wenn er etwa mit den Erzvätern spricht, sind sie für ihn doch nur Vertreter der Gesamtheit; seine Liebe und Strenge, seine Drohungen und Verheißungen gelten immer nur dem ganzen Volke, niemals steht die Einzelseele in lebendigem Zwiegespräch mit Gott wie überall im Neuen Testament. Auch das mosaische Sündenbekenntnis ist eine Bitte um Vergebung, vollzogen durch die Gemeinde, Reue über die Schuld Allisraels, an der jeder mitträgt: von individueller Verantwortung und Buße ist auch hier keine Rede.
Daß die alten Semiten sich nicht in das Leben der Einzelseele zu versetzen vermochten, weder einer fremden noch ihrer eigenen, hatte seine Wurzel in einem merkwürdigen Mangel, an dem sie allesamt litten: der auffallenden Dürftigkeit und Unfruchtbarkeit ihrer Phantasie. Wir pflegen zwar gemeinhin die Begriffe »Orient« und »phantasiereich« zu assoziieren. Aber hierbei verwechseln wir Exotik mit Romantik. Was uns an den morgenländischen Geschichten und Gestalten besticht und bestrickt, ist das Fremdartige und das Quantitative: die hinauf gesteigerte Quantität ist aber gerade immer das Kainszeichen der Phantasiearmut. Jene »zweite Welt«, die die Heimat aller Dichter ist, war dem Semiten unbekannt; auf Wolken ist er niemals gewandelt. Vortrefflich sagt hierüber Hugo Winckler: »Was der Semit dichtet, ist eine Vergrößerung und Verstärkung der realen Welt: alle Herrlichkeiten der Umgebung ins Gigantische vergrößert und verzerrt, das ist alles, was er zu träumen vermag . . . Es ist das Kind . . . dem das doppelte Maß Zucker begehrenswerter erscheint als das richtige.« Man könnte aber, wie bereits am Anfang des vorigen Kapitels hervorgehoben wurde, mit vielleicht noch größerer Berechtigung sagen: es ist der Geist des Tieres, mit aller seiner Dämonie. Wenn die Tiere uns ihre 418 Träume mitteilen könnten, so würde sich wahrscheinlich herausstellen, daß sie »semitisch« träumen: die kriegerischen von Schlachten, Siegen und Myriaden niedergemetzelter Feinde oder erlegten Wildes, die technisch begabten von riesigen Palästen, Dämmen und Kanälen, und alle von Rudelhandlungen und unwahrscheinlichen Massen und Maßen.
Das semitische Weltbild ist magisch und realistisch, was sich ganz gut miteinander verträgt, denn auch die Magie ist eine Art Realismus, der sich der Wirklichkeit bemächtigen will, nur mit anderen Methoden als den uns geläufigen; die indogermanische Weltanschauung hingegen ist idealistisch und naturalistisch, was ebenfalls sehr wohl zusammen zu bestehen vermag; sie betrachtet nämlich die Natur als Idee. Wer mit der kantischen Philosophie ein wenig vertraut ist, wird wissen, was das bedeutet. Aber es läßt sich auch in einfachen Bildern ausdrücken. Man vergleiche die runde Kuppel einer Moschee mit dem Himmelspfeil eines Doms, das architektonische Prinzip des Stalaktiten mit dem des Spitzbogens, die Magie und Naturferne der Arabeske mit der transzendenten und dennoch naturbürtigen Ornamentik des gotischen Stils. Welch ein völlig verschiedenartiges Gefühl für Gott und die Welt spricht sich in diesen Gegenstücken aus! Oder man denke an zwei so einprägsame Volksfiguren wie Faust und Salomo: beide große Zauberer, aber dieser aus Machthunger, jener aus Wissensdurst; beide große Weise, aber der eine dem Schlüssel dieser, der andere dem Siegel jener Welt zugewandt, und der eine ein Krösus und König, der andere ein simpler Doktor und landloser Wanderer. Schon daß Faust schließlich vom Teufel geholt wird, stempelt ihn zum großen Idealisten. Und doch ist zugleich diese Lösung eine höchst natürliche.
Und hier beantwortet sich auch die Frage, warum die Juden das Christentum, obwohl es aus ihrem Schoß hervorgegangen war, nicht annahmen und warum Mohammed zwar eine 419 Zeitlang schwankte, ob er sein Volk nicht dem Mosaismus zuführen solle, indem er sich, allerdings erfolglos, den Juden als Messias anbot, aber niemals daran dachte, es taufen zu lassen. Carlyle sagt: »Sogar die rohen Skandinavier begriffen, daß diese so solid aussehende Welt im Grund und in Wirklichkeit nichts ist, nichts als eine sichtbare und faßbare Offenbarung der Kraft und Gegenwart Gottes – Sein Schatten, geworfen auf den leeren Busen der Unendlichkeit; nicht mehr.« Und gerade dies: Die Unwirklichkeit der Realität, ist die große Tatsache, die die Semiten niemals begriffen haben. Und doch hätte ihre Geschichte es sie lehren können. Die Weltherrschaften Sargons, Hammurapis, Nebukadnezars und all der andern, sie sind zu Staub zerbröckelt mitsamt ihren Völkern, die nur noch in Büchern leben; das Riesenreich der Araber, einstmals der Schrecken der Menschheit, seine prachtvollen Glieder dehnend von Bagdad bis Granada, ist heute nur noch ein blasses Gerücht, und längst wieder sind seine Beherrscher, was sie vorher waren: armselige Kameltreiber und Söhne der Wildnis. Das Reich aber, das das kleine Israel begründete, ist nicht zergangen, denn es war ein geistiges Reich, seine Bilder, Namen, Begriffe sind noch heute lebendig im Herzen eines jeden Bewohners des Abendlandes: ein sehr merkwürdiger Vorgang, der eine nähere Betrachtung verdient.