Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Die griechischen Formen

Zur richtigen Beurteilung des Griechischen muß man sich vor Augen halten, daß es, auch als es längst schriftlich fixiert war, immer noch in erster Linie eine gesprochene Sprache war. Vor dem fünften Jahrhundert gab es in Griechenland überhaupt kein Lesepublikum. Ein Literaturwerk wurde ausschließlich für Hörer niedergeschrieben und daher mit einer Bedachtnahme auf Rhythmus und Klangwirkung ausgearbeitet, von der wir uns keinen Begriff mehr machen können. Aber auch später änderte sich hieran nichts, denn man war gewohnt, laut zu lesen. Diese Tatsache findet sich bei den antiken Schriftstellern, als allzu selbstverständlich, nie erwähnt, nur einmal als Kuriosität das Gegenteil: Augustinus erzählt in seinen Konfessionen, er habe seinen Lehrer Ambrosius oft beobachtet, wie er seine Augen über die Zeilen gleiten ließ, »Stimme und Zunge aber ruhten«, und er kann sich diese Anomalie nur damit 629 erklären, daß Ambrosius entweder Fragen von Eintretenden über den Sinn einer dunklen Stelle vermeiden oder sein Organ schonen wollte. Reiche Leute hielten sich zum Vorlesen hochbezahlte Spezialsklaven. Auch schrieb man stets laut. Hätte sich diese Sitte erhalten, so wären große Teile der modernen Literatur, zumal der wissenschaftlichen, wohl niemals zu Buch gebracht worden.

Aber es hatten nicht nur Tempo und Tonfall eine Bedeutung wie heute höchstens noch in der Lyrik, sondern man mußte auch auf einprägsame Schlagkraft und sofortige Verständlichkeit des Ausdrucks in einem Maße achten, wie es jetzt nur noch vom Bühnenautor gefordert wird. Deshalb gibt es im Griechischen nur »populäre« Literatur, die Leben und Fluß des Gesprochenen mit der Präzision und Gedrungenheit des Geschriebenen, anmutige Anschaulichkeit mit begrifflicher Schärfe und Erhabenheit mit Deutlichkeit verbindet. Ernst Curtius sagt in seiner Griechischen Geschichte: »Die ganze Sprache gleicht dem Leibe eines kunstmäßig durchgeübten Ringers, an dem jeder Muskel zu vollem Dienste ausgebildet ist.« So sind zum Beispiel die Partikeln, die sich in solcher Feinheit und Fülle in keiner zweiten Sprache finden, in der Tat die Gelenke des Sprachkörpers, die ihm eine bewunderungswürdige Biegsamkeit und Schnellkraft verleihen. Indem sie es auf mühelose Weise ermöglichen, allenthalben Dämpfer und Drücker, Lichter und Lasuren aufzusetzen, dienen sie auf unvergleichliche Weise der Dramatisierung der Sprache, so daß es ein »Papiergriechisch« kaum gibt; der ausgezeichnete Schulmann Paul Cauer nennt sie sehr treffend »zum Laut gewordene Gestikulation«.

Mit dem Deutschen teilt das Griechische den Vorzug, daß es über alle drei bestimmten Artikel verfügt, während zum Beispiel der ganz unpersönliche Römer überhaupt keinen und der ungeschlechtliche Engländer nur einen einzigen besitzt. Hingegen fehlt der unbestimmte, was vielleicht in der Abneigung 630 des Griechen gegen alles Nichtumgrenzte seinen Grund hat. Von den alten indogermanischen Kasusformen ist der Ablativ und der Instrumentalis verlorengegangen, der Lokativ nicht ganz (Ἰσϑμοῖ, Μαραϑῶνι, Σαλαμῖνα), die anderen sind reich entwickelt. Man vergleiche damit die romanischen Sprachen, die überhaupt nur einen Kasus haben, indem der Akkusativ gleich dem Nominativ ist und Genitiv und Dativ mit Präpositionen umschrieben werden, die vom lateinischen de und ad abgeleitet sind. Mit welcher einzigartigen Subtilität, und dabei stets klar und knapp, das Griechische durch die Genera, Tempora und Modi seiner Verba die Nuancen der Möglichkeit und Notwendigkeit, Verstärkung und Einschränkung, Wünschbarkeit und Reziprozität in ihren jeweiligen Zeitlagen und Dauergraden auszudrücken weiß, ist allbekannt. Ein großes Fördernis bietet auch die Freiheit in der Wortstellung (ermöglicht durch die scharf und eindeutig geprägten Endungen) und in der Bildung verkürzter Satzformen (infinitivischer, partizipaler, des absoluten Genitivs und Akkusativs). Am erstaunlichsten aber ist die Kraft der griechischen Wortbildung, die in ihren tausendfachen Ableitungen und Zusammensetzungen einen unerschöpflichen Schatz an Sprachgut zur Verfügung stellt: sie gestattet es, einen Stammbegriff in alle seine Verzweigungen zu verfolgen und mit einem einzigen Wort Zusammenhänge wiederzugeben, für die andere Sprachen eines ganzen Satzes bedürfen. Diesen Grad von Beweglichkeit, der dem Lateinischen und seinen Tochtersprachen völlig fehlt, besitzt sonst nur noch das Deutsche, doch sind die deutschen Formen weder so wohltönend noch so handlich und plastisch wie die griechischen. Von βουλεύω, ratschlagen, zum Beispiel bildet der Grieche: βουλή Rat, βούλευμα Ratschluß, βουλευτήριον Ratsversammlung, βουλευτήριος Ratgeber, βουλευτής Ratsmitglied, βουλφόρος dem Ratsmitgliede zukommend, βουλήεις wohlberaten, βουληφόρος ratpflegend, βούλαρχος Urheber des Rats 631 und noch viele andere Kompositionen, die sich nach Bedarf ins Beliebige vermehren lassen. Thetis, die Mutter Achills, nennt sich δυσαριστοτόκεια: die zu ihrem Unheil den Edelsten geboren; keine andere Sprache vermag Ähnliches, nur im Deutschen gäbe es dafür etwa das Wort: »Unglücks-Heldenmutter«, aber es klingt nicht gut. Es ist nur zu begreiflich, daß die Wissenschaften sich seit jeher griechischer Ausdrücke bedient haben, und mit besonderer Vorliebe gerade die sogenannten »realistischen«: Physik und Chemie, Zoologie und Botanik, Technik und Medizin, bei denen doch wohl kaum jene »Hellomanie« im Spiele ist, die man den Humanisten zum Vorwurf zu machen pflegt. Ferner ist es in einer Sprache, die mit solcher Leichtigkeit Begriffe zu kombinieren, zu schattieren und zu verschieben vermag, fast unmöglich, nicht zu philosophieren, und auch hierin wird das Griechische nur vom Deutschen erreicht. Man kann sagen, daß die Ideen Platos bereits in der griechischen Sprache vorgebildet waren, wie die Gedanken Meister Eckharts in der deutschen.


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