Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Die Wissenschaft

Die ganze Kultur Babyloniens ruhte auf religiöser Grundlage. Dies scheint zu ihrem Materialismus in einem Widerspruch zu stehen, der sich aber sofort löst, wenn wir diese Religion etwas näher betrachten: Sie war nämlich ebenfalls Materialismus, wenn auch bisweilen ein geistreicher und durchgeistigter. Jagd und Krieg, Bau und Handel, Gericht und Heilkunst, Geselligkeit und Geschlechtsleben: Alles vollzieht sich unter kultischen Formen. Alles Wissen ist Offenbarung der Gottheit. Alles steht unter dem Zeichen der Magie, die eine Wissenschaft ist. Nicht anders als unsere exakten Disziplinen, ist sie auf der Annahme eines allgemeinen kausal verknüpften Naturzusammenhangs aufgebaut, dessen Einzelvorgänge sich vom Fachmann durch Empirie vorausbestimmen und durch Experiment beeinflussen lassen. Die Magie (und ihre stete Begleiterin, die Astrologie) glaubt nicht minder zuversichtlich an eine weltgültige Gesetzmäßigkeit als unsere Physik und steht ihr in vielen Fällen ebenso ratlos gegenüber: Denn hier wie dort kann dieselbe Ursache zahllose Wirkungen, dieselbe Wirkung zahllose Ursachen haben. Sie ist daher ebenfalls der steten Gefahr verkehrter Systeme, irreführender Grundbegriffe, katastrophaler Fehldiagnosen ausgesetzt. Indes durch geduldige Beobachtung, jahrhundertelange Erfahrungssammlung und stets erneute 323 Versuche läßt sich manches lernen, und das Beste tut die Intuition, ganz wie in der Medizin, mit der die Magie die meiste Ähnlichkeit hat. Theorie und Praxis wandeln sich: was gestern als hohe Kunst und Gelehrsamkeit geehrt war, gilt heute als Dilettantismus und Kurpfuscherei, ganz wie in der Medizin, rohe mechanische Routine diskreditiert den ganzen Betrieb, und die wahre schöpferische Kraft, sowohl im Heilbringer wie im Heilsucher, ist der Glaube, ganz wie in der Medizin.

Das Walten der Götter manifestiert sich am klarsten in den Himmelskörpern, deren Bewegungen von ihnen gelenkt werden. Besonders die Planeten (die Babylonier kannten deren nur fünf) sind die »Dolmetscher«, die »Befehlsübermittler« des göttlichen Willens. Sie bestimmen die Lebensgeschichte jedes Menschen. Noch in später Zeit haben, wie Diodor berichtet (der ein bloßer Abschreiber war, aber einer mit sehr guten Quellen), die »Chaldäer« dem Alexander, dem Antigonos und dem Seleukos ihre Schicksale vorher verkündet; »auch Leuten aus dem Volke prophezeien sie; und wer sich von dem wunderbaren Eintreffen ihrer Prognosen überzeugt hat, muß es für etwas Übermenschliches halten«. Die Sterne sind die »Schrift des Himmels«; man muß sie nur zu lesen verstehen. Entscheidend ist natürlich vor allem die Konstellation bei der Geburt. Allem irdischen Sein und Geschehen entspricht ein himmlisches. Ein jedes Ding, das kleinste wie das größte, ist ein Spiegelbild des Kosmos und zugleich ein Spiegelbild aller übrigen Dinge. Diese »Entsprechungen« lassen sich mathematisch ausdrücken. Alle Zahlen sind heilig, und alle Zahlen haben eine mystische Bedeutung. Übrigens ist es auch chinesischer Glaube, daß alles Irdische im Himmel sein Vorbild habe. Alle Länder und Flüsse, Städte und Tempel der Erde liegen auch am Himmel, und zwar sind die himmlischen früher, die irdischen bloß ihre Kopien. Allerdings erscheinen diese großen Zusammenhänge bisweilen zerrissen oder verdunkelt; dies erklärt sich 324 durch das Wirken widergöttlicher Mächte, die von chaotischer Urzeit her in das Weltgeschehen versprengt sind: eine Lehre, die auch der Gnosis nicht fremd ist.

Ein anderes wichtiges Mittel zur Erkundung der Zukunft war die Leberschau, die mit unserer Chiromantik Ähnlichkeit hatte. Ebenso wie jede Hand andere Linien aufweist, gibt es nicht zwei Lebern, die einander völlig gleichen. Eine Schafsleber ist aber noch viel komplizierter gebaut als eine menschliche Hand. Zudem galt den Babyloniern die Leber als der Sitz der Gefühle: Freude, Zorn, Kummer, Liebe dachte man sich dort lokalisiert. »Deine Leber wird sich aufheitern«, heißt es in der Dichtung von der »Höllenfahrt der Ischtar«; auch wir sprechen ja noch von einem cholerischen oder gelbgalligen und einem melancholischen oder schwarzgalligen Temperament und sagen, jemandem sei etwas über die Leber gelaufen. Die Leber entspricht in allen ihren Teilen sowohl dem Makrokosmos des Himmels als auch dem Mikrokosmos des menschlichen Körpers: daher redete man beim Orakel von Berg, Fluß, Straße, Palast, Palasttor und von Ohr, Bein, Finger, Zahn, Gebärmutter der Leber. Sehr verbreitet war auch die Becherschau, bei der man Öl in Wasser goß und die Figuren prüfte; auch der Schimmel an der Hauswand vermochte manches zu kündigen. Ferner war das Wahrsagen aus dem Vogelflug schon vollständig ausgebildet. Rabe und Adler galten als besonders prophetische Geschöpfe, aber im Grund sind alle Tiere ominös: Pferde und Hunde, Löwen und Gazellen so gut wie Fische und Salamander, Skorpione und Ameisen. Auch Träume enthielten natürlich Vorzeichen, die aber erst von berufenen Traumdeutern ausgelegt werden mußten. Ganz wie in der Psychoanalyse tritt die Deutung hier als Wissenschaft auf. So träumt zum Beispiel Gudea von einem Mann, der von der Erde zum Himmel reicht; neben ihm befinden sich verschiedene Baugeräte und ein Esel. Die Erklärung lautet: der übergroße Mann ist der Gott, 325 dem Gudea einen Tempel errichten soll; die Geräte bedeuten den Bau; der Esel ist Gudea selber. Daß der deutungsuchende Träumer mit dem Esel zu besetzen ist, dürfte auch bei der Psychoanalyse den durchschnittlichen Sachverhalt nicht unzutreffend bezeichnen.

Die Wissenschaft des Haruspizes ist von Mesopotamien über fast die ganze Welt gewandert: nach Osten zu den Chinesen, nach Westen über die Hethiter und Etrusker zu den Griechen und Römern, und noch unsere Großeltern befaßten sich alljährlich am Silvester mit »Bleigießen«. Auch die üble Bedeutung der linken Seite ist babylonisches Erbteil: im genaueren Sinne bedeutete rechts: »was mich angeht«, links: »was den Feind angeht«; deshalb war auf der linken Seite ein günstiges Omen schlecht, ein ungünstiges gut. Obgleich wir gewiß nicht berechtigt sind, alle diese Dinge, die freilich bei uns längst zu Spielerei oder Aberglauben herabgesunken sind, mit überlegenem Lächeln abzutun, so liegt doch ebensowenig ein Anlaß vor, in ihnen Äußerungen einer hohen Veranlagung zu mystischer Schau zu erblicken. Die Sumerer mögen noch im Besitz großartiger Geheimnisse gewesen sein, die sie aus altersgrauen Zeiten (vielleicht noch von Atlantis her) über die Flut gerettet hatten; für die Babylonier war all ihre virtuos gemeisterte Magie und Astrosophie nichts als ein Mittel, das Lebensgeschäft möglichst vorteilhaft abzuwickeln. Wenn sie die Sternenschrift Gottes auf dem großen Zifferblatt des Himmels zu lesen und zu deuten unternahmen (und es ist mehr als wahrscheinlich, daß sie es wirklich vermochten), so taten sie das aus sehr profanen Gründen.


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