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Was dem modernen Auge an der griechischen Welt zuallererst auffällt, ist ihre Kleinräumigkeit. Die Entfernung von der makedonischen Grenze bis zum Vorgebirge Tainaron beträgt 420, die Breite der Halbinsel zwischen 100 und 240 Kilometer, die Landschaft Attika war noch nicht so groß wie Luxemburg; die gesamte Einwohnerschaft zählte im fünften Jahrhundert, zu der Zeit der höchsten Blüte, drei bis vier Millionen, mit 582 sämtlichen Kolonien etwa das Doppelte. Auf Kypros allein gab es zehn Königreiche, und wir haben im vorigen Bande gesehen, welche Großmacht Kreta repräsentierte; auch die sizilischen Tyrannen galten als ehrfurchtgebietende Potentaten, obgleich sie immer nur einen Teil der Insel beherrschten. Nach den »periplus«, den Kursbüchern des fünften und vierten Jahrhunderts, dauerte die damalige »Weltreise«, die Fahrt von einem Ende der bekannten Erdoberfläche bis zum andern, nämlich von Syrien bis Südspanien, achtzig Tage, genauso lange wie die wirkliche Erdumkreisung Mister Phileas Foggs in Jules Vernes Roman aus dem Jahr 1872. Der Weg war allerdings weiter als der heutige, denn die antiken Schiffe bewegten sich, wie gesagt, immer möglichst der Küste entlang: Man fuhr also über den Südrand Kleinasiens, die ägäischen Inseln, den Peloponnes und das Westufer Griechenlands nach Kerkyra, setzte von da nach Unteritalien über und begab sich durch die Straße von Messina an die Westküste Italiens, der man in ihrer ganzen Ausdehnung folgte, um schließlich, indem man sich ebenso dicht an Gallien und Hispanien hielt, bei den Säulen des Herakles, der Meerenge von Gibraltar, zu landen. Was jenseits dieser lag, zum Beispiel die kanarische Gruppe, hieß bereits »die Inseln der Seligen«, und man erklärte, über die Säulen hinauszufahren, hätten die Götter verboten.
Da wir uns aber gewöhnt haben, die Geschichte der Griechen mit den Augen ihrer eigenen Historiker zu sehen, die zwar keineswegs übertrieben chauvinistisch waren, aber doch nur aus ihrer Winkelwelt zu urteilen vermochten, so haben sich auch für uns die Dimensionen des Bildes verschoben. Von Persien aus gesehen, waren die Kriege um die griechische Freiheit nicht mehr als ein mißglückter Okkupationsfeldzug gegen eines der vielen Länder der vorderasiatischen Interessensphäre und die andauernden Kämpfe um die griechische Hegemonie. Raufereien unter Zwergstaaten am Rande eines Weltreichs. 583 Vielleicht ist die Kleinheit des hellenischen Kosmos auch einer der Gründe für dessen Kurzlebigkeit. Denn es besteht wahrscheinlich bei den Völkern ebenso eine Relation zwischen Größe und Lebensdauer wie bei den Tierspezies; und natürlich ebenso mit Ausnahmen. Kleinere Säugetiere sind meist schon mit zehn Jahren Greise, während die Riesen unter den Säugern, Elefant und Walfisch, zweihundert Jahre und noch länger leben; andrerseits können aber auch Karpfen und Hecht, Rabe und Papagei bisweilen hundert Jahre alt werden. Im übrigen ist die Lebensdauer nicht bloß eine Funktion der Körpergröße, sondern auch der Intensität des Stoffverbrauchs; daher kommt es wohl, daß die überhaupt höchsten Altersziffern an Schildkröten und Krokodilen konstatiert werden. Bei den Megatherien der Saurierzeit fand sich offenbar Trägheit der Selbstverbrennung mit Überlebensgröße zusammen; diese müssen daher ein wahrhaft »vorsintflutliches« Alter erreicht haben. Beim hellenischen Volksorganismus verhielt es sich gerade umgekehrt; zu seiner Kleinheit kam noch ein enormer Verbrauch durch »innere Reibung«, sowohl auf politischem wie auf geistigem Gebiet. Die griechische Kultur ist schon allein durch ihr Entwicklungstempo ein Unikum in der Weltgeschichte. Friedrich Ratzel drückt den ganzen Sachverhalt mit unübertrefflicher Knappheit in den Worten aus: »Die Geschichte enger Räume ist eine vorauseilende.« Und der vortreffliche Zeitgenosse Schillers, der Historiker Johannes von Müller, sagte: »Die meisten großen Sachen sind durch kleine Völker vollbracht worden.«