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Aber haben sie auch, inmitten ihrer so herrlichen Natur, einen ebenso starken Natursinn entwickelt? Man wird, wenn man moderne Maße anlegt, diese Frage verneinen müssen. Eine unmittelbare Gefühlsbeziehung hatten sie bloß zu gewissen Ausschnitten der Natur. Sie liebten nur die Dinge der Nähe: die weinroten, weißbehelmten Wellen der Küste, die stahlblauen Flüsse und glasgrünen Seen, die moosbesäumten Bäche, in deren Silber die bunten Steine schimmerten, die uralten Bäume mit ihrem dichten hellen Laubdach, die üppigen Büsche mit ihrem Frühlingsmantel aus Gold und Scharlach. Aber schon die Berge waren für sie höchstens noch Bildrahmen, jede weite Fläche bedrückte sie, die Hochwelt empfanden sie bloß als schrecklich und den Horizont sahen sie überhaupt nicht. Die aufgehende und versinkende Sonne ist für sie ein Naturphänomen, das sie einfach registrieren. Auch für die Poesie der Nacht hatten sie gar kein Organ: der Mond, der in der modernen Lyrik fast die Hauptperson ist, spielt in der griechischen fast nur die Rolle eines unzulänglichen Beleuchters. Der schweigende Wald, die raunende Quelle, die hallende Schlucht, die träumende Trift war ihnen unheimlich. Hier waltete eine Gottheit. Wenn man will, ist auch dies ein Naturgefühl, aber ein völlig anderes als das heutige. Der antike Mensch beseelt die Natur ganz objektiv mit Personifikationen, der moderne höchst subjektiv mit Stimmungen: für diesen ist sie ein ewiger Spiegel, der ihm seine innersten Regungen, geheimnisvoll vertieft, zurückstrahlt, für jenen ein fremdes Auge, das ihm kühl, stumm und fast feindselig entgegenblickt. Offenbar ist die Natur ebenso ein Produkt unserer Apperzeption, wie wir dies in der 615 Einleitung zum ersten Bande von der Geschichte nachzuweisen versuchten. Die griechische Natur war klassisch, weil der griechische Mensch sie klassisch empfand. Wir erwähnten bereits, daß er kein Auge für Halbtöne besaß. Dies hatte aber seinen Grund zum Teil darin, daß die hellenische Landschaft an Übergangsstimmungen tatsächlich arm ist: Selten liegt sie im Duft des lasierenden Nebels, des langsam absterbenden Tages (denn die Dämmerung ist sehr kurz, und fast plötzlich wird es Nacht) und des verglimmenden Herbstes mit seinen sordinierten Mischfarben. Man kann daher ebensogut sagen: Der griechische Mensch empfand klassisch, weil seine Natur ihn dazu anleitete. Solche Sätze lassen sich immer umkehren. Denn man weiß eben nicht, was das frühere ist, die Natur oder der Mensch, und vielleicht ist schon diese bloße Fragestellung töricht. Die Verrechnung zwischen Objekt und Subjekt ist unergründlich.
Nietzsche sagt einmal: »Es war Abend, Tannengeruch strömte heraus, man sah hindurch auf graues Gebirge, oben schimmerte der Schnee. Blauer beruhigter Himmel darüber aufgezogen. So etwas sehen wir nie, wie es an sich ist, sondern legen immer eine zarte Seelenmembran darüber – diese sehen wir dann.« Und gerade diese Seelenmembran sahen die Griechen niemals. Denn sie wußten weder, was Membran noch was Seele sei. Über keiner ihrer Schöpfungen liegt ein Schleier. Und wäre es nicht beinahe lächerlich, von irgendeinem Hellenen, auch dem edelsten und tiefsten, zu sagen, er habe »Gemüt« besessen? In der Verschiedenartigkeit des Naturempfindens liegt auch, beiläufig bemerkt, der Grund, warum historische Filme niemals echt wirken. Es stimmt nämlich höchstens das Kostüm, aber keinesfalls die Landschaft. Sie könnten nur überzeugen, wenn es gelänge, sie so auf die Leinwand zu bringen, wie die damaligen Menschen sie sahen. Urban Gad erzählt in seinem Buch Der Film, er habe einmal Don Quichote gedreht 616 und bei der Vorführung zu seinem Entsetzen bemerken müssen, daß in den spanischen Naturaufnahmen sich Telegraphendrähte befanden. Solche Telegraphendrähte gibt es aber in jeder Don-Quichote-Landschaft, auch wenn sie nicht sichtbar sind.