Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Blutrache und Gastrecht

Unter den Stämmen wogt dauernder Kampf, aber vier Monate im Jahre waltet der »heilige Friede«, der, von allen beschworen und gehütet, mehr Sekurität bietet als die kompliziertesten Staatsverträge der Kulturvölker. Während dieser Zeit hat man selbst vom Todfeind nichts zu befürchten. Sonst aber herrscht die schreckliche Blutrache. Ihre Seele ist nicht bloß das »Aug' um Auge, Zahn um Zahn«, sondern auch das noch viel grausamere: »es straft sich an Kindern und Kindeskindern«; beides lebt bekanntlich noch im Alten Testament. Im 416 Prinzip ist ein Mord erst gesühnt, wenn die ganze Sippe des Schuldigen ausgerottet ist; doch ging man in der Praxis wohl selten so weit, ja es kam sogar öfters vor, daß eine Geldbuße als Entschädigung angenommen wurde. Aber das blutige Gespenst jenes fürchterlichen Vergeltungswahns bedrohte dennoch jegliche Existenz von der Wiege bis zum Grabe. Ein gewisses Gegengewicht bildete das ebenso ausschweifend geübte Gastrecht: Dies sind die beiden Pole, zwischen denen die wilde Seele des Wüstensohnes hin und her geschleudert wurde. Einen Wanderer, ob hoch oder gering, fremd oder stammverwandt, von der Schwelle zu weisen, ja nicht aufs festlichste zu empfangen, galt als der gröbste Verstoß gegen die gute Sitte; und wäre es der Brudermörder gewesen, er mochte im Zelt des Gastgebers ruhig schlafen. Schon daß er das Zeltseil berührt, macht ihn unverletzlich. Eine anziehende Schilderung einer solchen Bewirtungsszene findet sich im ersten Buch Mose. Kaum ist Abraham der drei unbekannten Männer ansichtig geworden, so eilt er ihnen entgegen, verneigt sich zur Erde und bittet sie um die Ehre ihres Besuches. Dann bietet er ihnen Wasser zur Fußwaschung und bestellt bei Sara Kuchen aus drei Maß Semmelmehl, holt ein zartes Kalb aus dem Stall und läßt es zubereiten, trägt Käse und Milch auf und bedient die Gäste persönlich. Übrigens liegt der Blutrache und dem Gastrecht, so gegensätzlich sie erscheinen, ein gemeinsamer Gedanke zugrunde: in die Sippe tritt ein, wer in feierlicher Zeremonie sein Blut mit dem eines Sippenmitgliedes vermischt oder auch nur unter Treuschwüren dessen Mahl teilt: von da an muß einer für den anderen rächend und schützend einstehen; und so wird auch der Gast, wenn er sich zum Tisch setzt, für die Zeit seiner Unterkunft gewissermaßen Blutsbruder und sakrosankt.


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