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Oktobersturm und nächtliches Gewitter. Heulende Stimmen in der Luft. Blitz auf Blitz. Am feurigen Himmel wälzen, überwälzen sich die zornigen Wolken. Tief schwirrt der Donnervogel. Und von blauweißem Flammenschein übergossen, taucht bei jedem Blitz das düstere Geviert des Hochgerichts von Tyburn aschenbleich aus dem Nachtdunkel auf.
Man könnte es für die gänzlich verfallene Ruine eines dachlosen, säulenlosen und nahezu schon wändelosen Griechentempels halten, – so gewaltig und turmhoch streben die Ecken zum Firmament empor. Ein mit gebleichtem Totengebein besätes quadratisches Feld ist begrenzt von vier mächtigen Steinpfeilern und einer niedrigen, kaum klafterhohen, Mauer. Zwischen je zweien der Pfeiler erhebt sich ein ebenso hoher, doch schmalerer, um armdünne Querbalken mittragen zu helfen, die, übereinander befestigt, alle Eckpfeiler verbinden. Von diesen Balkenvierecken ist das eine ganz oben und das andere, eine Menschenlänge niedriger, in mittlerer Höhe angebracht. Silbergrau und schwarz schimmert das altersmorsche Gemäuer; aus den Fugen der Quadern sprießt Unkraut hervor.
Vom Blendlicht der Blitze wie Totengeister beschworen, werden drei sturmgeschaukelte, hin und her schwankende Menschen sichtbar. In schwindeliger Höhe hängt an einem der oberen Querbalken ein kleiner schmächtiger vornehmer Mann; – sein Adelsvorrecht war es, dem Himmel näher zu sterben als seine beiden Kumpane. Diese wiegen sich ein Stockwerk tiefer im Winde: ein fahler junger Mensch und eine prachtvoll gekleidete Frau. Wohl erst seit wenigen Stunden schweben sie dort – sonst könnte das Antlitz der Frau nicht so ausbündig schön sein.
Im verwitterten Gemäuer der Pfeiler sind unzählige Rabennester. Von den Raben, die sonst, wie Perlen an einer Schnur auf die Querbalken gereiht, dort zu wachen und zu schlafen pflegen, hat die Sturmesnacht die meisten in ihre Brutlöcher hineingescheucht. Bloß ein alter geheimnisvoller Kolkrabe sitzt zwischen dem Jüngling und der Frau und trotzt, ein mystischer Vogel, dem Wetter.
Hundert Jahre alt ist der Rabe; und ein weiser Rabe ist es. Nicht umsonst hießen die Priester des Sonnengottes »Raben« bei den Magiern. Der Nykticorax oder Nachtrabe verachtete die Gemeinschaft der Menschen. Völker gab es, deren Heiland ein Rabe war. Götter gab es, deren Gedanken in Rabengestalt durchs Weltall flogen ...
Seiner flinken glanzigen Augen wegen wird der Alte »Glasauge« genannt.
Blitz auf Blitz. Der Sturm peitscht die drei Gehenkten. Und plötzlich wirft der Sturm einen anderen Kolkraben, als wäre es ein wirbelndes Herbstblatt, ans Hochgericht heran. Mühsam krampft sich der Herangeschleuderte mit den Krallen ins Haar der gehenkten Frau, sinkt ermattet nieder, flattert und vermag sich schließlich auf dem Balken neben Glasauge zu halten.
Ein Rabenmädchen ist es, eine noch junge Maid, kaum zwanzig Lenze hat sie gesehn. Ihrer weichen Stimme wegen heißt sie Garap.
Der Alte und die Junge begrüßen sich nach Rabenart. Das Sturmgeheul übergellend, krächzt der Hundertjährige:
»Wir sahn uns lange nicht. Wo kommst du her, Landfahrerin?«
»Als Prinz Hal das Fläschchen austrank, flog ich nach Island und ließ mir von zwölf Goldschmieden die Flügel mit Gold beschlagen.« »Viel entging dir hier. Zwei Wochen lang lag der vergiftete Königssohn im Sterben.«
»Hei! wie der Orkan braust! Welch eine Flammennacht! Schimpfworte möchte man dem Wirbelwind zurufen!«
»Ja, so endet Englands Abendsonnengold in Nacht und Graus und Blitz und Donner! Weltuntergang! ... Eine herrliche Welt fällt nun in Trümmer.«
»Tu mir kund, Glasauge: beklagst du es wie ich?«
»Raben, Dichter und Hofnarren beklagen es ... Kurzsichtige Menschen hielten den strahlenden Untergang für ein Morgenrot. Sie nannten den Prinzen Hal die aufgehende Sonne. Sie sahn nicht, daß eine größere Sonne die schönen Abendschatten warf. Auch die ist im Versinken.«
»Hal war ein junger Adler. Wie die Wikinger einst, wollte er uns Raben füttern, ein Kriegsheld.«
»Master Oliver wird Blutvögel sättigen. Die runden Köpfe werden uns lange Köpfe zu fressen geben. Doch für Adler, Falken und Raben ist keine Bleibe unter Bürgern.«
»Tu mir kund, Glasauge: erfuhr man, daß der Prinz den Tod gesucht?«
»Niemand weiß es außer seiner jungen Mörderin. Niemand außer seinem Freunde Overbury hat die Wahrheit geahnt. Vermutet haben manche einen Giftmord ...«
»Tu mir kund, Glasauge: fand man das Fläschchen?«
»Nein. Als aber die Königin sich von Raleigh ein alles heilendes Mittel (das er von einem alten Indianer erhalten hatte) erbat, schickte er es ihr mit einem Brief: nur wenn der Prinz nicht vergiftet sei, schrieb er, werde die Medizin helfen ... Die Königin glaubt heute noch, ihr Sohn sei ermordet worden. Und das Volk glaubt es auch. Während der Bestattung tauchte ein mutterfadennackter junger Mensch in der Volksmenge auf, – ein Schwachsinniger, eines reichen Elfenbeinhändlers Sohn –, der schrie: Des Toten Seele habe Besitz von ihm genommen und befehle ihm, zu offenbaren, umgebracht habe ihn Viscount Rochester ... Die Büttel wagten nicht, den nackten Jüngling anzutasten. Drei Tage hernach sah sich der König gezwungen, die Leiche des Prinzen aus dem Sarg nehmen und von Ärzten aufschneiden zu lassen. Es versteht sich, daß die Ärzte nicht gern nach Tyburn wollten und eine Lüge dem Gang zum alten Rabenstein vorzogen.«
»Tu mir kund, Glasauge, wer sind die drei Missetäter hier? Wer ist dies herrliche Weibsbild mit der gestärkten Halskrause? Funkelnagelneu ihr Feierkleid! Welche Pracht des Aufputzes! Wahrlich – ein Spiegel der Venus!«
»Die Klosterfrau Ann Turner ist es!«
»Arme tote Salbenbüchse! arme gehenkte Bisamschachtel! Deine Taubenaugen werden weich sein wie Gurken, Melonen und Paradiesäpfel! ... Auch der Schwarzhaarige da sieht wie ein Leckerbissen aus.«
»Das ist Franklin, der Apothekerknecht ... Und dort oben der Glockenschwengel über uns ist Helways, der entsetzliche gutmütige Mensch.«
»Ich dachte, Galgenfleisch seien auch Lady Essex und Rochester. Tu mir kund, Glasauge: warum hängen sie nicht hier?«
»Verurteilt wurden beide, den peinlichen Tod zu leiden. Doch der König begnadigte sie. Aus Feigheit. Denn Rochester hatte, als er verhaftet wurde, gedroht, er werde auf dem Galgenhügel schamlose Dinge bekanntgeben ... Ihr ruchlosestes Satanswerk – der Seelenmord an Hal und an Arbella – blieb und bleibt verborgen. Wegen Zauberei wurden sie gerichtet. Und hingerichtet wurden Helways, Ann Turner und Franklin, weil sie Overbury umbrachten.«
»Tu mir kund, Glasauge, – wußte Overbury so viel?«
»Er wußte viel und ahnte noch mehr. Der sterbende Prinz hatte ihm den Schlüssel zu einem Kästchen gegeben, damit er seine Papiere vernichte. Briefe der Lady Essex waren darunter und ein Schein über Bestechungsgelder, die der spanische Hof an Suffolk und Northampton zahlt.«
»Bei meiner Treue, Glasauge, ich hockte auf dem Mastkorb des Kriegsschiffes, als Northampton auf die Segelstangen nackte Weiber setzte, um dem Prinzen den Schein abzulisten. Tu mir kund: war es Northampton, der Overbury's Mörder dang?«
»Er und Lady Essex zitterten vor dem Mitwisser. Und Frances, die mit Rochester Hochzeit feiern wollte, sah ihr neues Glück durch alte Sünden gefährdet.«
»Hochzeit? ... Lord Essex, ihr Eheherr, lebt doch ...?«
»Sie war noch Lady Essex, als er aus dem Süden heimkam und ihr den vermißten Essexring brachte. In Rom hatte er den Ring Lord Rich, seinem totgesagten Oheim, abgekauft – für viel Schweigegeld abgekauft, damit die Doppelehe Lady Penelope's geheim bleibe.«
»Tu mir kund, Glasauge, – band der Ring die gelockerte Essexehe nicht?«
»Die kleine zweibeinige Schlange versagte sich ihrem Gatten und verleumdete ihn beim König: unfähig sei er, die Ehe zu vollziehn. Zwar bewies Robert Essex, daß es Verleumdung war ...«
»Wie?«
»Auf Befehl des Königs wurde, unter Aufsicht mehrerer Matronen, eine unberührte Jungfrau ihm ins Bett gelegt. Und am folgenden Morgen bestätigten die Matronen die Entjungferung. Trotzdem fand sich ein Bischof, der die Ehe wegen Behexung schied. Und der König verlobte Frances mit Rochester. Nun schwamm Frances im Freudenmeer; – jedoch solange Overbury atmete, war sie ihres Glückes nicht sicher und wagte nicht, die Brautkerzen anzuzünden.«
»Tu mir kund: wie sicherten die Würgengel ihr Glück?«
»Overbury hatte sich geweigert, als Gesandter an den Zarenhof zu gehn und hatte erregt ausgerufen: ein freier Engländer könne selbst vom König dazu nicht gezwungen werden. Dies hinterbrachte Rochester dem König und hetzte ihn auf, die Widerspenstigkeit mit Haft zu strafen; zugleich tröstete er Overbury, Freundschaft heuchelnd, und versprach ihm schnelle Freilassung aus dem Tower. Nun geschah es, daß ein Londoner Kind, ein fünfjähriges Mädchen, dem Towerzwinger zu nahe kam und von einem Bären zerfleischt wurde. Zur Buße ließ Northampton den schuldigen Bären öffentlich – auf einer Bühne – zu Tode martern wie Sankt Sebastian; er setzte auch Sir William Waad, den Vogt des Towers, ab und ersetzte ihn durch den gutmütigen, süßstimmigen Sir Gervaise Helways. Gift, das Franklin wählte und das Mistris Turner in den Tower trug, wurde an die Speisen Overbury's getan. Er magerte zum Gerippe ab. Zu Tränen rührte sein Anblick Helways und Ann Turner, mildherzig führten sie ihn in die königlichen Gemächer der wahnsinnigen Arbella. Für den Prinzen Hal hielt ihn Arbella, lachte und küßte ihn. Eine Rose schenkte sie ihm und sagte, die bedeute Martyrium; – auch er werde nun bald im Elfenland leben wie sie. Helways und Ann Turner weinten laut. Tags darauf starb Overbury.«
»Ha! wie der Blitz den Himmel spaltet und den Horizont zerreißt! ... Seit wann dämmert Arbella im Tower hin, wahnsinnumnachtet? Tu mir das kund, Glasauge!«
»Seitdem sie versucht hatte, mit William Seymour zu entfliehn. Während sie auf einem Schiff gefangen wurde, entkam er auf einem anderen Schiff nach Holland. Durch ihn wurden die Verbrechen aufgedeckt.«
»Durch ihn ...?«
»Nach Overbury's Tod war Franklin nach Holland entwichen. Dort wurde er fromm, bereute. Und als er erfuhr, daß Seymour Elinor heiratete, suchte er ihn auf und beichtete ihm staunenerregende Dinge: er sei es, der als Lord Seymour verkleidet die betäubte Arbella vergewaltigt habe und die Schuld an ihrem Wahnsinn trage; – denn als sie im Wagen entführt wurde, war Seymour noch nicht nach England zurückgekehrt. Nach diesem Geständnis zusammengebrochen, offenbarte er alle anderen Greuel. Und Seymour erwirkte von Holland, daß der Giftmischer ausgeliefert wurde.«
»Warum blieb Seymour solange in Holland? Tu mir das kund, Glasauge.«
»Anfänglich hoffte Seymour wohl, Arbella aus dem Tower befreien zu können. Als er erfuhr, daß sie in Wahnsinnsnacht für immer versank, schloß er die Ehe mit Elinor.«
»Arbella war doch schon umnachtet, als ich nach Island flog ...«
»Von ihrem ersten Wahnsinnsausbruch genas sie nach wenigen Tagen. Es war des verscheidenden Prinzen Wunsch, daß sie mit Seymour England heimlich verlasse.«
»Tu mir auch das kund, Glasauge, – sah sie den Prinzen noch einmal?«
»Ja, einmal noch. Für eine pestähnliche Seuche hielt der König des Thronfolgers Siechtum und reiste ab. Verboten wurde der Prinzessin Elisabeth, das Krankenzimmer zu betreten. Doch einmal nachts kam sie verkleidet an des Bruders Bett, der innig an ihr hing. Da erbat er sich von ihr die letzte Freude, ehe sich hinter ihm das Grufttor schloß: sie solle wiederkommen und Arbella mitbringen. Das tat sie. Und glücklich starb er. Arbella hielt seine erkaltende Hand, bis sie vereist war. Mehr Seligkeit, als ihm der Tod gab, hätte das Leben ihm nicht schenken können ... O Hal, du schönes Wesen, du echtes Götterkind, ich liebe dich, weil deine Seele wie ein Kristallkelch an einem kleinen Sprung zugrunde ging. Uns Lebenden gewittert die Verzweiflungsnacht – nicht dir ...!«
Während so der mystische Vogel sprach, zerrissen Zaubergeister den Wolkenvorhang, und rot erdämmerte ein ferner Morgenschein.