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Sie waren in die Thames Street eingebogen und sahn sich plötzlich durch ein pomphaftes nächtliches Begräbnis gehindert, ihren Weg und ihr Gespräch fortzusetzen. Auf beiden Seiten der Straße staute sich eine schaulüsterne Menge, an sämtlichen Fenstern aller Häuser bis zu den Giebelluken hinauf und selbst auf den Dächern standen oder saßen Männer, Frauen und Kinder. Aus ihren Betten gelockt, verzichteten sie schlaftrunken auf Nachtruhe, um des aufsehnerregenden Schauspiels wegen, das langsam und gespenstisch leise an ihren Augen vorüberzog. Es war im Stuart-England die Sitte aufgekommen, gestorbene Pairs und Damen der Nobility nicht bei nüchternem Tageslicht, sondern zur Nachtzeit bei phantastischem Fackelschein zu beerdigen. Und in der Tat ein phantastisches Nachtstück war es, wie der aus vielen hundert tiefschwarzer Gestalten bestehende Trauerzug dem im Sarge ruhenden alten Earl of Rutland folgte. Auch sein Leibroß folgte ihm und seine zwanzigjährige Witwe Lady Althea. Diese war die Freundin der Schwester des jungen Robert Essex, Elinor, ( – jener Maske, von der Lord Seymour am Abend der Doppelhochzeit geküßt worden war ...). Eine Liebschaft mit ihrem angeheirateten Enkel William Lord Roos wurde Lady Althea nachgesagt. Ihr jetzt im neunundsiebzigsten Jahre verstorbener Gatte war der Liebhaber ihrer Großmutter gewesen.
Während Hal, Overbury und Legat, eingekeilt im Gedränge, mehr als zweihundert Fackelträger (außer dem Trauergeleit) vorbeischreiten sahn, bemerkten sie in einiger Entfernung Crew.
»Wenn er mir nachschleicht,« sagte Legat, »so ist es nicht, um zu tun, was ihm eben erst untersagt worden ist. Aber er will herausbekommen, wo ich wohne. Denn wäre ihm das bekannt, so hätte er sich nicht als Menschenjäger unter die berühmten Leute begeben und einen Auflauf in der belebten Cheapside verursacht, sondern hätte mich unauffällig aus meiner stillen Gasse geholt.«
Die beiden Spaliere der Zuschauenden schlossen sich sofort hinter dem Leichenzug. Das durcheinanderflutende Menschengewühl ermöglichte es Hal, Overbury und Legat, einen Vorsprung vor Crew zu gewinnen. Sie verloren ihn aus den Augen. Bei St. Bennet's Church bogen sie in die Bennet Lane ein und gelangten in die Knightrider Street.
Und wieder wurden sie am Weitergehn gehindert, und wieder war es ein Leichenzug, der ihnen den Weg versperrte. Pomphaft und hochadlig ging es auch bei diesem Begräbnis zu, nur daß der Hingeschiedene auf der Bahre kein Earl oder Duke war, sondern ein armseliger, räudiger, toter Köter.
Was sie da vor sich sahn, war ganz einzigartig, grotesk und unheimlich wie eine wüste Szene aus einem Gespensterbuch. Das dem toten Hunde folgende Trauergeleit setzte sich zusammen aus Spitzbuben, Straßendirnen, zerlumpten Bettlern und sonstigem Gesindel. Doch auch ehrliche, von Hunger und Kummer ausgemergelte Gestalten sah man unter den Leidtragenden. Ihre Prozession äffte die nächtliche Bestattung des Earl of Rutland nach. Statt Fackeln wurden flackernde, gelb tropfende Talglichter geschwungen. So wie dem alten Earl jede Insignie seiner Würde – die Grafenkrone, das Ritterschwert, der Helm, der Hosenbandorden – von je einem seiner Standesgenossen nachgetragen wurde, so trugen, andachtsvoll im Gänsemarsch schreitend, Bettler und Huren auf Kissen, die sie mit beiden Händen vor sich hin hielten, ein Hundehalsband, dann eine Peitsche, dann einen Maulkorb und schließlich einen abgenagten Knochen.
»Was tun die da?« fragte indigniert der Prinz.
»Sie rächen sich, mein gnädigster Lord«, erwiderte Legat.
»Wofür?«
»Für ihr Elend, mein gnädigster Lord, für ihren Hunger, für den Schmutz ihrer Spelunken.«
»Und an wem rächen sie sich, Sir?«
»An den Wohlhabenden, den Glücklichen, die zu erwürgen sie zu schwach sind. Darum machen sie ihrem Hasse Luft, indem sie das den Reichen Heiligste – das Begräbnis der Reichen – parodieren.«
»Aufreizend, das muß ich sagen, fand auch ich den nächtlichen Trauerpomp«, bemerkte Overbury.
»Ich glaubte, nur die Puritaner haßten uns!« äußerte der Prinz in leise bedrücktem Ton. Legat schüttelte den Kopf.
»Denen da sind die puritanischen Dickwänste ebenso verhaßt; doch sie hoffen auf sie als auf Bundesgenossen, um ihnen erst zu guter Letzt den Garaus zu machen. Im Naturzustand frißt einer den andern; so begann die Menschheit; und sie könnte so enden ... Was eines Prinzen Auge kaum jemals sieht, – ich, der ich unter diesen Ärmsten lebe, habe es seit Jahrzehnten gesehn: weißglühend ist der Haß. Und weil mich das mit Sorge erfüllt, nenne ich mich einen Atheisten: Wie die Menschen im Naturzustand, so fressen sich ja die Glaubensbekenntnisse; alle Sektierer sprechen von Gott und meinen den Teufel. Der Teufel, den sie meinen, ist die Vernichtung des Königtums. Meine Überzeugung aber ist: der Kampf aller gegen alle kann bloß durch ein starkes Königtum unterdrückt und bekämpft werden.«
»Dort steht Crew; – er beobachtet uns!« flüsterte Overbury.
Jedoch gerade in diesem Augenblick lenkte ein tolles Geschehnis die Argusblicke des Polizeibeamten ab. Der lautlos sich hinschleichende Trauerzug wurde jählings zum Stillstand gebracht durch das taktlose Benehmen eines jungen Frauenzimmers, welches aus einer Seitengasse dahergelaufen kam und, vor Lachen sich windend, mit ihrem Fuß dem toten Köter einen Rippenstoß versetzte, so daß er von der Bahre flog und auf das Straßenpflaster rollte. Das Weibsstück, das sich so schamlos und empörend benahm, war die Diebin Moll Cutpurse. Sämtliche Leidtragenden blieben stehn und riefen ihr unflätige Schimpfwörter zu.
»Das ist Leichenschändung, Moll!« schrie sie ein einäugiger Bettler an. »Hebe sofort den alten Earl auf – oder ...«
»Verzeihung, liebe Freunde, wie konnte ich das wissen! Ist dies ein alter Earl? Ich dachte, es wäre ein toter Hund! ... Merkwürdig, daß Menschenaas und Hundeaas zum Verwechseln ähnlich sind!«
»Hebe sofort den alten Earl auf – oder wir legen dich auf die Bahre!«
»Ich lege mich selbst darauf!« lachte Moll. Und sie setzte sich rittlings auf die Bahre. »Jetzt bin ich das tote Vieh, der alte Earl, oder nennt mich meinetwegen das lustige Altengland, das ihr zu Grabe tragt!«
»Nein, ich schlage etwas anderes vor!« rief Bill Breakfence, ein baumlanger berüchtigter Einbrecher. »Wir bringen sie an die Himmelspforte. Ich will gehenkt sein, wenn Moll mit ihrem Mundwerk sich nicht Eingang verschafft, – selbst wenn sie den teuflischesten der Schurken darstellt!«
»Sei du der gestrenge Sankt Petrus, Bill,« rief ein Bordellknecht, »schwenke einen Dietrich als Himmelsschlüssel! Frage sie, was sie auf Erden tat!«
»Wer bist du, verlorene Seele?«
»Ja, wer soll ich sein?« fragte Moll die Umstehenden. »Der Earl of Rutland!« rief einer.
»Ich danke für Koloquinten, – ich will Kayennepfeffer!« lachte Moll.
»Sei der Earl of Northampton, der greise Schürzenjäger, Moll!«
»Es gibt noch Schlimmere bei Hof!« sagte Moll.
»Sei König James, Moll!« rief eine Straßendirne.
Alle stimmten diesem Vorschlag zu.
»Wie war dein Lebensgang, verlorene Seele?« fragte der Einbrecher.
»Ach, ja, Petrus, ich bin der gute König Jimmy. Doch glaube mir: Es ist ein Mißverständnis, daß ich hier heraufgeschleppt worden bin. Was habe ich hier oben zu schaffen? Dein Amtsbruder drunten wird mir mehr Verständnis entgegen bringen. Denn sieh mal, Petrus, so gut wie unter meinem Regiment haben es die Huren und Diebe früher nicht gehabt. In keinem Bordell sind soviel Huren beisammen wie am englischen Hofe, und kein Gefängnis beherbergt so viele Spitzbuben wie das lustige Whitehall – – –«
Lautes Beifallgemurmel erscholl, verstummte dann jedoch plötzlich. Ein schrilles Pfeifen durchschnitt die Nachtluft, wie wenn ein Messer einen Vorhang aufschlitzt. Crew und zwei Constables kamen herbeigestürzt. Von der St. Mildred Church her erblinkten nahende Hellebarden. Das theaterspielende Lumpengesindel stob auseinander. Nur Moll, die nicht geschwind genug von ihrem Reitsitz auf der Bahre absteigen konnte, fiel der Polizei in die Hände.
Wohin der Atheist und seine beiden Beschützer sich gewendet hatten, entging der Aufmerksamkeit Crew's. Sie waren während des Wirrwarrs in die Sermon Street eingebogen, hatten aus der Ferne die Festnahme Moll's noch sehn können, doch nicht, was weiter mit ihr geschah. Den Kirchhof der St. Paul's Kathedrale umgehend, erreichten sie Paternoster Row.
Das Haus, vor welchem Legat stehn blieb, um sich dankend zu verabschieden, lag der Turnerschen Apotheke quer gegenüber.
»Dort auf dem Dach«, sagte er, »habe ich meine bescheidene Sternwarte, – falls man nämlich einem Maulwurfshaufen den Namen Montblanc geben darf.«
»Ich werde zu Ihnen hinaufkommen, wenn ich Sehnsucht nach Sternen habe!« versprach der Prinz.
»O mein gnädigster Lord, die morsche Treppe wurde nicht für Prinzenfüße gebaut. Droben freilich ist reinere Luft als in Londons Gassen.«
»Auch reinere als in Whitehall, Master Legat! Vielleicht werde ich doch noch Ihr Schüler werden! ...«