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Fontneuve, Sonnabend abends [am 22. Oktober 1774].
Liebe Freundin!
Ich habe auf Ihre Briefe vom 9. und vom 14. zu antworten. Auch wenn ich Ihnen nichts zu erwidern hätte, würde ich schreiben. Ich antworte nicht bloß, weil Sie mir geschrieben haben. Solch oberflächliches Hin- und Herschreiben, wie es in der Welt gang und gäbe ist, soll nie und nimmermehr zwischen uns bestehen! Meine Briefe sind Ihnen ein Bedürfnis; ich versichere Ihnen: es soll nie ungestillt bleiben. Es macht mir Freude, und die Freude, ist das nicht das Leitmotiv, das Hauptband aller Zuneigung?
Ich liebe Sie, aber nicht aus Pflichtgefühl, Ehrsinn und Dankbarkeit. Mein Gefühl ist völlig ursprünglich, und ich glaube, sogar unabhängig von dem Ihrigen. Sie machen mich überglücklich, indem Sie sagen, meine Liebe sei das wirksamste Mittel, Ihre Schmerzen zu lindern. Es soll Ihnen niemals fehlen! Es soll Ihnen immer zu Gebote stehen! Und es wird vor allem nie die häßlichen Folgen haben, die dies abscheuliche Opium hat, das Ihre Leiden nur fortzaubert, um sie dann um so schlimmer zu machen. Können Sie mir zuliebe nicht darauf verzichten? Liebe Freundin, das Opium ist nur für Menschen, die das Vertrauen zu sich selber verloren haben, die niemanden haben, auf dessen Herz sie sich verlassen können! Ist das bei Ihnen der Fall? Haben Sie nicht Freunde, deren Glück innigst mit Ihrem Dasein verwoben ist? Haben Sie insbesondere nicht mich? Fühlen Sie nicht, daß ich immerdar bei Ihnen bin? Selbst in diesem Augenblick, da uns dreißig Meilen trennen, müssen Sie es spüren, denn alle meine Gedanken umspinnen Sie!
Ich rate Ihnen die Musik. Ich begreife nicht, wie ich so lange habe leben können, ohne sie zu lieben; vor allem, daß ich sie nicht geliebt habe, als ich unglücklich war. Der Grund ist, daß ich immer nur unsere französische Singerei gehört hatte, die nie einen Nachhall in meiner Seele fand. Gluck, mit seiner »Iphigenie«, mit seinem »Orpheus«, hat mir einen neuen Sinn erweckt! Diesen Winter werde ich diese Musik mit Entzücken genießen. Ich werde sie genießen in dem Zimmerchen,Juliens Theaterloge. wo ich dem »Dorfwahrsager« [von Rousseau] so wenig Gehör geschenkt!
Liebe Freundin, wie hat sich übrigens der Chevalier von Chastellux an Ihre Vorliebe für den »Orpheus« gewöhnt, er, der diese Oper für noch hundertmal schlechter als die »Iphigenie« erklärt hat? Wahrscheinlich plaudern Sie mit ihm gar nicht darüber, und das machen Sie recht. Er versteht doch nichts vom seelischen Eindruck, der gute Chevalier!
Mein Vater kommt erst im Januar nach Paris. Er trägt sich mit dem Gedanken, mich zu verheiraten. Demzufolge soll ich in dieser Gegend Wurzeln schlagen. Ich erzähle Ihnen noch davon. Ich werde Ihnen meine Lage genau darlegen. Sie sollen mir einen Rat geben. Wenn ich gezwungen sein sollte, zu heiraten, so möchte ich, der Vorschlag ginge von Ihnen aus. Dann würde mich mein Schicksal Ihnen nicht entfremden. Alles in allem bin ich weit davon entfernt, in ruhiger Stimmung zu sein. Ich bin fern dem Glück, und ich sehe keinen Weg, der mich ihm näher bringt.
Sie können mir nicht mehr hierher schreiben. Schreiben Sie nach Bordeaux, wo ich einige Zeit verweilen werde. Nach Livorno zu meinem Regiment muß ich auch. Dann aber werde ich eilen, so sehr ich kann. Ich zähle die Tage. Liebste, Sie sind mir mehr als die Meinen. Immer wieder lese ich Ihre Briefe. Wie sind Sie gütig, wie liebenswert, und wie seelenvoll! Ihr Erfolg in der Gesellschaft, die Verehrung Ihrer Freunde, der Mylord Shelburne, alles das zählt für mich nicht zu Ihren Reizen. Ich liebe Sie keineswegs, weil es Mode ist, Sie zu lieben! Ich liebe Sie, weil es mich zu Ihnen zieht!
Leben Sie wohl, liebe Freundin! Grüßen Sie d'Alembert von mir, den Grafen Crillon, den Chevalier [von Chastellux], Herrn von Vaines und alle, die von mir sprechen!
Seit acht Tagen nun schon will ich an Frau von Boufflers schreiben. Ich komme bei ihr zu keinem Anfang – und bei Ihnen zu keinem Ende. Nochmals: Leben Sie wohl!
Hippolyte.