Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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Donnerstags, elf Uhr abends.

Ich bin ohne Nachricht von Ihnen. Ich hoffte auf keine, aber ich wartete doch darauf. Ach, mein Gott, wie können Sie nur sagen, meine Seele sei des Schmerzes ledig? Gestern bin ich daran beinahe gestorben. Ich hatte einen Anfall von Verzweiflung und infolge davon Weinkrämpfe, die vier Stunden gedauert haben. Mein Lieber, ich liebe Sie wahrlich bis zur Tollheit, wenn ich Sie sehe, so ungestüm, daß ich glaube, nie heißer geliebt zu haben. Aber meine Liebe bedarf doch Ihrer Gegenwart; mein ganzes übriges Leben verfällt den Erinnerungen, der Sehnsucht und den Tränen.

Ja, reisen Sie ab, erklären Sie mir, Sie liebten eine Andere! Ich wünsche es, ich will es. Mein Leid ist so groß, so herzzerreißend, daß ich keine andere Arznei erhoffe als den Tod. Die, die Sie mir eingeben, wirkt wie Opium. Sie betäubt meine Leiden, aber heilt sie nicht; im Gegenteil, ich werde nur schwächer und empfindlicher. Sie haben recht, ich kann nicht mehr lieben, ich vermag nur noch zu leiden. Ich hatte meine Hoffnung auf Sie gesetzt und mich darein verloren; ich glaubte, der Genuß, Sie zu lieben, würde mein Unglück besänftigen. Ach, ich fliehe vergeblich davor; immer wieder ruft es mich, immer wieder zieht es mich in seinen Bann und es läßt mir nur eine Zuflucht. Reden Sie nicht von der, die ich im Leben der Gesellschaft finden soll; sie ist für mich nur eine lästige Fessel, und wenn ich d'Alembert dahin bringen könnte, nicht länger mit mir zusammen zu wohnen, so bliebe meine Türe geschlossen.

Wie können Sie glauben, daß Werke des Verstandes mehr Gewalt über mich hätten als der Reiz, als der Trost der Freundschaft? Ich habe die würdigsten, die aufmerksamsten, die ehrbarsten Freunde. Jeder versucht nach seiner Art und Fähigkeit, mir in das Herz zu dringen. Ich bin gerührt von so viel Güte, aber ich bleibe unglücklich. Sie allein, mein Lieber, können mir, wenn auch nicht das Glück, so doch Freude bringen. Gibt es ein schlimmeres Gift als die Freude? Noch auf der Schwelle des Todes läßt sie mich nach dem Leben blicken.

Sonnabends abends.

Erst heute morgen habe ich Ihren Brief bekommen, und ich weiß nicht, durch wen und wie er zu mir gelangt ist. Durch die Post nicht. Halten Sie mich für toll, wenn Sie wollen, für ungerecht, kurzum für alles, was Ihnen beliebt, aber nichts soll mich abhalten, Ihnen zu sagen, daß ich gewiß mein Lebenlang keinen schmerzlicheren Schlag empfangen habe, keinen schimpflicheren als den, den mir Ihr Brief zufügt. Und mit gleicher Aufrichtigkeit muß ich Ihnen gestehen, daß diese Art Leid, die Sie mir antun, kein Mitleid weiter verdient, denn ich glaube, nur meine Eigenliebe ist verletzt, wenn auch auf eine mir ganz neue Weise. Ich fühle mich so gedemütigt, so betroffen davon, daß ich jemandem das Recht einräumen konnte, mir das zu sagen, was ich da lese, mir das mit so viel Naivität zu sagen, daß ich daraus schließen muß, er wolle mir damit nur sein Herz ausschütten, ohne selber zu ahnen, daß er mich tödlich beleidigt. Ach, wie prächtig haben Sie den Marquis Mora gerächt! Wie grausam bestrafen Sie den Wahn, die Verirrung, die mich zu Ihnen gezogen haben! Wie verabscheue ich diese Illusion!

Ich will auf keine Einzelheit eingehn. Sie haben viel zu wenig Herzensgüte und Zartgefühl, als daß sich meine Seele zu Klagen erniedrigen könnte. Mein Herz, meine Eigenliebe, mein ganzes Wesen, alles, was mich fühlen, denken und atmen läßt, kurzum: mein Ich ist empört, verwundet und beleidigt auf immer. Sie haben mich stark genug gemacht, nicht um mein Unglück zu tragen – es kommt mir größer und schwerer vor denn je –, aber ich werde fortan sicher sein, von Ihnen nicht noch mehr gequält und noch unglücklicher gemacht zu werden. Dieser schwere Schlag macht meine große Schuld wett. Ich fühle es – und dabei täuscht mich mein Schmerz nicht –, wenn der Marquis Mora noch lebte und Ihren Brief läse, so würde er mir verzeihen. Mich trösten und Sie verachten. Ach, mein Gott, überlassen Sie mich meinem Leid; es ist mir tausendmal lieber als das, was Sie Ihr Gefühl nennen. Das ist mir abscheulich. Es ist der reine Hohn, und meine Seele stößt es mit dem tiefsten Grauen von sich.

Wie konnten Sie es wagen, wie konnten Sie es über sich gewinnen, Worte hinzuschreiben, die mich entehren und auf immer unmöglich machen mußten, wenn sie in falsche Hände geraten wären! Wenn das der Ausdruck dessen ist, was Sie von mir denken und fühlen, so seien Sie wenigstens überzeugt, daß ich doch nicht so gemein bin, mich rechtfertigen zu wollen und Sie um Gnade zu bitten. Glauben Sie getrost, Sie behandelten mich nach Fug und Recht. Es ist mir lieber, ich lasse Sie bei dieser Meinung, als daß ich mich in Auseinandersetzungen einließe. Die Tatsache bleibt. Benehmen Sie sich mir gegenüber, wie Sie können, wie Sie wollen. Ich meinerseits werde fortan, wenn es für mich eine Zukunft geben sollte, zu Ihnen sein, wie ich es von allem Anfang an hätte sein sollen, und wenn mich die Reue nicht an Sie erinnerte, so würde ich Sie bald vergessen. Die Wunden der Eigenliebe machen mein Herz gefühllos.

Ich weiß nicht, warum ich Ihnen auch die Zeilen schicke, die ich vor dem Empfange Ihres Briefes an Sie geschrieben hatte. Sie werden daraus meine Schwäche erkennen, aber nicht mein volles Unglück. Ich erhoffe ja auch gar nichts von Ihnen, ich will nicht getröstet sein. Worüber sollte ich mich eigentlich beklagen? Worüber?

Es gibt Kranke, die schon aufgegeben, noch auf den Arzt warten und ihre Augen auf die seinen heften, um aus ihnen Hoffnung zu schöpfen. Der letzte Laut der Seele ist ein Aufschrei. Da haben Sie die Erklärung meiner Inkonsequenz, meiner Torheit, meiner Schwäche. Ich habe ja die Strafe dafür.

Wenn mich je ein Gedanke befallen sollte, der die Liebe verletzt, die Marquis Mora für mich gehegt hat, so werde ich Ihren Brief wieder lesen. Diese Schmach wird meine Verfehlung entsühnen.

Geben Sie mir diese Blätter zurück! Seien Sie wenigstens noch so ritterlich, den von mir einmal zitierten Vers aus der »Phädra« zu einem Ihrer Grundsätze zu machen.


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