Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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69.

Freitag, den 21. Oktober 1774, abends.

Mein lieber Freund, wie langsam schleicht die Zeit dahin! Seit Montag quält mich diese Saumseligkeit, und ich habe nichts unversucht gelassen, meiner Ungeduld etwas vorzulügen. Ich bin nicht zur Ruhe gekommen, überall bin ich gewesen, alles habe ich mir angesehen, – immer nur mit dem einen Gedanken. Meine kranke Seele hat die ganze Welt nur in einer Farbe angeschaut, alles verhüllt von Trauerschleiern. Sagen Sie mir, wie kann man sich zerstreuen? Wie tröstet man sich? Sie allein können mich lehren, das Leben zu erleiden. Sie allein sind noch imstande, mein Dasein mit jenem wehmutsvollen Zauber zu vergolden, der einen heute glückselig und morgen voller Haß macht.

Lieber Freund, morgen werde ich einen Brief von Ihnen haben. Nur diese Hoffnung verleiht mir die Kraft, Ihnen heute abend zu schreiben. Wenn Sie wüßten, wie arm und verloren ich mich fühle, wenn ich nichts von Ihnen höre! Wie kärglich und flüchtig war Ihr letzter Brief! Wie trübselig und kalt! Es kommt mir vor, als sagten Sie mir nicht recht, was Sie unruhig und sogar aufgeregt macht. Was haben Sie denn? Warum verstecken Sie Ihr Herz? Wollen Sie mir das meine noch einmal zerreißen? Haben Sie mir nicht versprochen, mir alles zu sagen? Wollten Sie mir nicht rückhaltslos vertrauen? Sollte ich nicht Ihre Freundin sein? Wollten Sie Ihre Seele nicht in die meine schütten? Sollte ich nicht in Ihnen leben? Sollten nicht selbst Dinge, die mein Herz verletzen könnten, mir nicht vorenthalten bleiben? Ach, mein lieber Freund, verkennen Sie mich nicht, denken Sie daran, was ich Ihnen bin! Wenn Sie sich das vergegenwärtigen, können Sie mich doch unmöglich absichtlich betrügen oder mir etwas verheimlichen.

Sonnabends früh.

Ich habe gestern nicht weiter mit Ihnen geplaudert, um Sie zu schonen. Ich war so trübgestimmt. Wiederum war ich im »Orpheus«. Diese Musik macht mich toll. Sie zieht mich immer wieder zu sich; ich kann sie nicht einen Tag entbehren. Meine Seele lechzt nach diesem schmerzlichen Genuß. Alles, was mich sonst umgibt, steht in Disharmonie mit mir, und doch habe ich noch nie so viel gute Freundschaft gespürt wie gerade jetzt. Meine Freunde sind die trefflichsten Menschen; sie sorgen und kümmern sich um mich, ohne mir irgendwie dabei lästig zu werden. Ich begreife bloß nicht, was sie an mir reizvolles finden können. Wohl mein unglückliches Geschick! Ja, ja, edle und feinfühlige Seelen lieben die Unglücklichen. Das Unglück übt einen geheimnisvollen Reiz aus. Die Menschen sehen sich gern mitleidig, und fremdes Unglück gibt eine schöne Halbstimmung: man hat Leid und leidet doch nicht selber. Mag man diesen Genuß haben, so lange ich noch lebe.

Der eigene Gewinn lebt und webt doch in allem. Die Toren oder die Heuchler, die Helvetius angegriffen haben, die haben zweifellos nie geliebt oder nie nachgedacht. Tausende leben ja und sterben, die niemals das eine noch das andere erfahren haben. Um so besser für sie und um so schlimmer für uns. Ich kann Ihnen nicht sagen, welche Abneigung, welchen vielfachen Ekel ich gegen dumme Menschen hege, gegen solche, die so deutlich unter meinem Niveau stehen, daß ich schon im voraus weiß, was sie sagen wollen, ehe sie den Mund öffnen. Ach, ich bin recht krank! Ich kann die Menschen nicht leiden, die mir gleichen. Alles, was nicht mehr ist als ich, erscheint mir zu klein. Nur wenn ich zu jemandem aufblicken kann, habe ich andere Empfindungen als Ekel und Langeweile. Lieber Freund, nur zweierlei kann mich an der menschlichen Gesellschaft reizen: ich muß etwas zu lieben oder zu bewundern haben. Geist ist nicht genug; viel Geist muß da sein. Dieser Art aber kenne ich keine sechs oder sieben Leute, keine sechs oder sieben Bücher. Allerdings gibt es mehr Menschen, die ich schätzen muß, aber das ist aus Gründen des Gefühls und des Vertrauens und ändert nichts an meiner allgemeinen Anschauung. Es bleibt dabei: was geringer ist als ich, das belästigt und quält mich; was gleich viel ist wie ich, langweilt und verdrießt mich; was über mir ist, stärkt mich und trägt mich zu sich empor. Ich möchte immer wie jener Alte sagen: »Freunde, rettet mich vor mir selber!« Sie sehen, die Eitelkeit ist in mir erloschen, aber an ihre Stelle ist eine starke und tödliche Blasiertheit getreten.

Die Gräfin Boufflers ist nicht so blasiert. Wie liebenswürdig ist sie! Ich bin in dieser Woche viel mit ihr zusammengekommen. Am Mittwoch war sie mit zu Tisch bei Frau Geoffrin. Sie war entzückend; jedes Wort, was sie sagte, war paradox. Man griff sie an, aber sie verteidigte sich so geistreich, daß aus ihren falschen Behauptungen beinahe Wahrheiten wurden. Zum Beispiel fand sie, es sei ein großes Unglück, Gesandter zu sein, gleichgültig in welchem Lande und bei welchem Volke. Ihr käme das wie eine schreckliche Verbannung vor. Dann meinte sie, selbst zu der Zeit, wo sie für England geschwärmt hätte, wäre sie höchstens unter der Bedingung dauernd dahingegangen, daß sie fünfundzwanzig vertraute Freunde und sechzig bis siebzig andere ihr unentbehrliche Leute hätte mitnehmen können. Das sagte sie im größten Ernste und mit so viel Lebhaftigkeit, daß wir alle glaubten, es käme ihr aus vollem Herzen. Sie hätten nur die verdutzte Miene des Lords Shelburne dabei sehen sollen!

Das ist ein urnatürlicher Mensch, seelenvoll und energisch. Er fühlt sich auch nur zu denen hingezogen, die ihm ähnlich sind, zum mindesten in der Natürlichkeit. Er hat Malesherbes kennen gelernt und ist von ihm entzückt. Er sagte mir: »Zum ersten Male in meinem Leben habe ich gefunden, was ich für nicht tatsächlich möglich gehalten habe: einen Menschen, dessen Seele vollständig frei von Furcht und Hoffnung ist und doch dabei voller Leben und Feuer. Nichts in der Welt kann seinen Frieden stören, nichts ist ihm unentbehrlich, und er hat den regsten Anteil an allem, was gut ist. Kurzum, meinte er schließlich, ich habe auf meinen Reisen viel gesehen, aber nichts hat einen tieferen Eindruck auf mich gemacht wie dieser Mann. Wenn ich in dem bißchen Zeit, das mir zu leben übrig bleibt, noch etwas Gutes schaffe, so wird mich, dessen bin ich sicher, der Gedanke an Malesherbes dazu begeistern.«

Lieber Freund, das ist ein schönes Lob, und der es ausgesprochen hat, ist ein höchst interessanter Mensch. Er hat Geist, Wärme, Enthusiasmus. Er erinnert mich an die beiden Männer, die ich geliebt habe und für die ich leben oder sterben möchte. In acht Tagen reist er wieder ab, und das ist mir lieb; denn er ist schuld – durch die Gesellschaften ihm zu Ehren –, daß ich Tag für Tag irgendwo mit fünfzehn Personen zu Tisch sitze. Das ermattet schließlich selbst meine Vorliebe. Ich muß Ruhe haben. Mein Körper ist erschöpft.

Gute Nacht, mein Lieber! Ich erwarte einen Brief. Nun wissen Sie, was mir not tut.


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