Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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124.

Donnerstag, den 6. Juli 1775.

Mein lieber Freund, ich habe gestern keinen Brief von Ihnen erhalten. Sie haben es satt, mit mir zu plaudern, und ich bin des allzulangen Schweigens müde. Hätte ich ein wenig mehr Mut gehabt, wie viel Schmerzen, wie viel Kämpfe hätte ich mir vielleicht erspart? Mein Gott, wenn Sie es wissen, sagen Sie mir: Wie werden meine Qualen enden? Wird mich der Haß, die Gleichgültigkeit oder der Tod davon erlösen?

Mein lieber Freund, ich will nicht nur halb großmütig vor Ihnen stehen. Ich bilde mir ein, Ihnen verziehen zu haben. Also will ich mit Ihnen plaudern, als ob ich zufrieden mit Ihnen wäre.

Passen Sie auf, und zittern Sie! Ich will jetzt zwei »Lobschriften auf Catinat« rezensieren, die beiden einzigen – meiner Einbildung nach, – die in der Akademie ernstlich in Frage kommen. Die Verfasser dieser beiden Schriften sind die Herren von Guibert und von Laharpe. Guibert ist der Verfasser eines vorzüglichen Versuchs über die Taktik und einer Tragödie. Beide Werke haben ihn als Mann von viel Geschmack und Geist bekannt gemacht; sie verraten eine begeisterungsfähige kraftvolle Seele. Mit dieser Vorkenntnis und der günstigen Voreingenommenheit, die einem daraus erstehen muß, habe ich Guiberts »Lobschrift auf Catinat« gelesen und beurteilt. Laharpe kennen Sie besser als ich. Sie wissen, er ist ein hervorragender Schriftsteller, sehr geistreich, sehr gerecht und vor allem vom erlesensten Geschmack. Das muß ich ihm billigerweise vor der Lektüre seiner Schrift einräumen.

Laharpes Schrift ist mit der ihm eigenen Leichtigkeit geschrieben, aber doch mit einer Korrektheit, die er sich gern geschenkt hätte, wenn nicht Herr von Guibert Mitbewerber wäre. Sein Stil ist ebenso flüssig wie erhaben. Diese beiden Vorzüge finden sich so selten beieinander, daß ich beinahe sagen möchte, Laharpes Prosa wetteifert mit Racines Versen. Seine Lobschrift ist die Arbeit eines klugen und urteilsfähigen Kopfes, eines Gelehrten von sanfter, ehrlicher und hehrer Gemütsart. Es finden sich in der Schrift eine Menge glückliche Ausdrücke, treffende Bemerkungen, Gedankenfeinheiten, klar und vornehm ausgesprochen. Und doch ist sie nur das Werk eines vortrefflichen Schriftstellers, eines geistreichen Mannes, während die Schrift Guiberts die Arbeit eines höheren Menschen ist, der mehr als bloß Geist, der Genie hat.

Keiner von beiden ist Philosoph, der eine, weil er nicht nüchtern genug denkt, der andere, weil er nicht gründlich genug denkt. Indessen beurteilt Guibert die Menschen und Erscheinungen so sicher und so enthusiastisch, daß man sich lieber von ihm hinreißen als von einem Philosophen belehren läßt. Der kriegswissenschaftliche Teil ist bei Guibert so sachkundig behandelt, daß sich selbst der hierin laienhafteste Leser ein Urteil über Catinats Verdienst bilden kann. In dieser Beziehung ist Laharpe unverständlich, matt und sehr langweilig.

Wenn man Laharpe liest, wird man angenehm unterhalten, zuweilen gefesselt. Man bekommt Achtung vor dem Können des Verfassers. Wenn ich Guibert lese, fühle ich, wie sich meine Seele erweitert, wie sie reifer wird, lebhafter, kühner. Mitunter geht er freilich zu weit; sein Stil ist nicht immer von gleicher Klarheit und Schärfe; zuweilen fehlt es ihm an innerlicher Einheit. Auch finden sich bei ihm zu alltägliche und dann wieder zu gewagte Bilder.

In künstlerischer Beziehung, stilistisch und rednerisch gebührt meiner Ansicht nach der Schrift Laharpes der Preis. In Hinsicht aber auf seelischen Schwung, geistige Ausdruckskraft und tiefe Wirkung müßte man die von Guibert preiskrönen. Wenn ich die Verfasser persönlich nicht kennte, würde ich mich mein Leben lang danach sehnen, Guibert anzugehören, oder es tief bedauern, daß ich nicht die Seine sei. Ob Laharpe in Paris wohne, danach würde ich mich nicht einmal erkundigen.

Lieber Freund, ich vergehe vor Ungeduld zu erfahren, was Sie von meiner Kritik halten, aber ich fordere Ihr Ehrenwort, daß Sie keinem Menschen davon Mitteilung machen, selbst Ihrem besten Freunde nicht. Ich möchte nicht noch einmal die Entrüstung oder Verherrlichung erleben, die mir dereinst mein Urteil über die beiden Lobschriften auf Lafontaine eingetragen hat, das Sie übrigens mit Recht fad und abgeschmackt fanden.

Ihnen gegenüber kenne ich weder Eigenliebe noch Selbstüberschätzung. Da bin ich gern dumm, da rede ich, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Aber vor den Anderen, da – lege ich mir zwar auch keinen Zwang an, dazu habe ich keine Kraft mehr, aber da sage ich gar nichts. Ich begnüge mich, zu erklären: das ist gut, das ist schlecht, und das ist mittelmäßig! Ich hüte mich aber wohl, mich auf Begründung einzulassen. Sicherlich würde das mich ebenso langweilen wie meine Zuhörer. Was kann einem daran liegen, geistreich zu sein vor Leuten, die einem nicht ans Herz gewachsen sind?

Freitag, den 7. Juli.

Kürzlich habe ich Ihnen erzählt, daß ich von meinen Freunden umschart sei, aber seit zwei Tagen herrscht eine allgemeine Flucht. Die Besichtigungen, die militärischen Übungen, der Landaufenthalt, die Badereisen haben mich einsam gemacht. Nur der neapolitanische Gesandte [Caraccioli] ist dageblieben; er besucht mich alle Tage, aber er ist mir zu lustig; er kreuzt meine Stimmung.

Der gute Condorcet ist wieder zurück.

Lieber Freund, ich werde Ihnen gelegentlich eine ärgerliche Geschichte erzählen, in die ich mich Ihretwegen eingelassen habe. Man hatte eigentlich nichts weiter gesagt als Dinge, die ich mir Ihnen vor acht Tagen selber zu schreiben erlaubt habe, aber es regte mich doch bis zur Wut auf. Ich habe grobe und beleidigende Worte gebraucht und habe mir Feinde gemacht. Aber was tut's? Ich habe mein Mütchen gekühlt, ich habe Sie verteidigt. Es dünkte mich maßlos ungerecht und dreist, daß man Sie zu richten wagte. Schlechtes von Ihnen zu denken, das soll mein Privilegium sein. Ich möchte, daß die anderen Sie so beurteilen, wie ich fühle, daß Sie sind: vornehm, genial, enthusiastisch. Aber niemand soll sagen: »Er ist liebenswürdig!« Was für ein albernes Lob! Es spricht jedem wahren Vorzuge Hohn! »Er ist liebenswürdig!« In die weltmännische Sprache übertragen, heißt das soviel wie: »Er ist frivol, ein ordinärer Kerl ohne Charakter!« Was sind die sogenannten liebenswürdigen Leute bei uns zu Lande denn in der Tat mehr?

Sie machen sich über mich lustig, daß ich vor Ihnen ein Geheimnis bewahrt hätte, das sich bereits die Spatzen auf den Dächern pfiffen. Aber wenn Sie nicht ganz zum Kleinstädter geworden sind, so werden Sie wissen, daß bei einem Geheimnisse der vorliegenden Art drei Tage von großer Bedeutung sein können. Übrigens hatte ich zu schweigen gelobt: Pflicht geht über Logik.

Hoffentlich erhalte ich morgen von Ihnen einen Brief. Er wird recht nüchtern und kühl sein, er wird mir nicht gefallen, und – wer weiß? – vielleicht gereut mich meine Rückkehr zu Ihnen bitterlich? Ich hätte Ihnen glauben sollen: Sie waren wirklich »des Leids nicht wert«, das Sie mir angetan haben. Diese Ihre Worte hätten mir die Tiefe der Seele erleuchten sollen und mir einen zehnjährigen Bund noch heller vor Augen führen! Sagt nicht Klarissa sterbend ähnliche Worte zu Belfort, dem Freunde ihres Lovelace? Sah sie nicht bei diesem Gedanken im Tode eine tröstliche Notwendigkeit?

Richardson war ein Kenner der Menschen, der Liebe und der Leidenschaften. Frau Riccoboni dagegen kennt nur die Eigenliebe, den Hochmut und ein wenig Sentimentalität. Aber mehr nicht.


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