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Sonntags [Ende Mai 1774].
Wie liebenswürdig sind Sie, mir Rechenschaft abzulegen über Ihr Tun, Ihr Denken, Ihre Beschäftigung. Wie liebe ich die Begeisterung, die Regsamkeit Ihrer Seele und Ihres Geistes! Mein lieber Freund, Ihnen stehen so viele Wege offen, berühmt zu werden, daß Sie einen Frevel begehen, wenn Sie sich den Krieg herbeisehnen, die Geißel der Menschheit. Betätigen Sie Ihre Fähigkeiten, Ihr Genie. Werden Sie Schriftsteller! Indem Sie die Menschen aufklären und anregen, werden Sie den für eine feinsinnige und mannhafte Seele schmeichelhaftesten Ruhm erringen. Indem Sie Gutes stiften, werden Sie sich des bestverdienten Berühmtseins erfreuen, des einzig wirklich Erstrebenswerten in einer Zeit, wo es nur zu wählen gilt zwischen niedriger Gemeinheit und frivolem Übermut, zwischen Knechtschaft und Tyrannentum. Mein Gott, wie hasse und verachte ich das alles! Ich könnte mir nichts Schrecklicheres denken, als die letzten zehn Jahre meines Lebens noch einmal durchmachen zu sollen. Ich habe das Laster so aus der Nähe in voller Blüte gesehen, ich bin selbst so oft das Opfer der kleinen und gemeinen Leidenschaften der Menschen der Gesellschaft geworden, daß mir ein unüberwindlicher Ekel davor verblieben ist, ein Grauen, das mir die gänzliche Einsamkeit lieber macht als diese schreckliche Gesellschaft.
Aber wohin bin ich geraten? Meine Seele ist ohnehin die Beute des grausamsten und qualvollsten Gefühls; sie hat es nicht nötig, in der Vergangenheit zu wühlen, um sich die erdrückende Last meines Schicksals fühlbar zu machen.
Ich vergehe vor Neugier, den Entwurf Ihres neuen Stückes [»Anna von Boleyn«] kennen zu lernen. Sie werden sich den Stoff erst schaffen müssen, denn es will mir scheinen, als wäre interessante Handlung nur für etliche Auftritte da. Um so mehr Lorbeer werden Sie ernten, wenn Sie die Aufmerksamkeit fünf Akte hindurch in Spannung erhalten. Racine hat dieses Kunststück in seiner »Berenike« fertig gebracht. Ihr Stoff ist großartiger und edler, und er liegt Ihnen vorzüglich. Sie brauchen Ihre Seele nicht erst hoch zu stimmen; ohne künstlichen Aufschwung leben Sie ja ohne Unterlaß auf einer Höhe, die den Alltagsmenschen erhaben vorkommt.
Ach, Liebster, meine Tage werden immer einförmiger; bald werde ich ganz verlassen sein. Alle meine Freunde verreisen, aber es ist das erstemal in meinem Leben, daß ich darüber kein Bedauern empfinde. Selbst auf die Gefahr hin, in Ihren Augen als eine gar zu Undankbare dazustehen, muß ich Ihnen gestehen, daß ich d'Alembert mit wirklichem Vergnügen habe abreisen sehen. Seine Gegenwart bedrückt meine Seele; sie erregt eine Disharmonie in mir, das Gefühl, seiner Freundschaft und seiner Vorzüge unwürdig zu sein. Kurz, machen Sie sich ein Bild von meiner Stimmung! Was mir Trost spenden sollte, das bringt meinem Unglück nur Zuwachs. Aber da ich gar nicht getröstet sein will, so sind mir meine Erinnerungen und meine Kümmernisse teurer als alle freundschaftlichen Sorglichkeiten und Zusprüche. Mein lieber Freund, meine Seele müßte ihrem Leid ganz und gar enthoben werden, sie müßte ihren Schmerzen ganz gehören, – und das liegt einzig und allein in Ihrer Macht!
Wenn Sie wüßten, wie mir alle Bücher fad und kalt vorkommen! Wie unnütz es mich dünkt, Rede und Antwort zu stehen. Zunächst drängt es mich, auf alles zu entgegnen: Wozu? Wem frommt's? Aber ich habe noch nie eine Antwort auf diese Frage erhalten. Und so kommt es, daß ich bisweilen stundenlang dasitze, ohne ein Wort zu sagen. Seit vier Wochen habe ich die Feder nur in die Hand genommen, um Ihnen zu schreiben. Ich weiß wohl, daß ich mir mit dieser Art und Weise jegliche Freundschaft verscherze, aber es ist mir recht. Meine Seele ist kriegsgewohnt; sie hat keine Furcht mehr vor den kleinen Übeln des Lebens.
O, das Unglück macht den Menschen einheitlich! Wenn man alles verloren hat, wird man sehr anspruchslos. Mein lieber Freund, wieviel Wohltaten schulde ich Ihnen? Wieviel Dank muß ich Ihnen abstatten? Sie haben neues Leben in meiner Seele entzündet. Sie haben die Sehnsucht in ihr erweckt, auf ein »Morgen« zu warten. Sie verheißen mir Nachrichten von sich, und an diese Hoffnung klammert sich all mein Denken. Sie haben mir noch Schöneres versprochen. Sie wollen zu mir kommen; aber ich muß wie Andromache sagen:
Nur kleine Gnaden heischt das Unglückskind.
Leben Sie wohl! Ich mißbrauche Ihre Zeit und Ihre Güte, aber es ist so süß, so natürlich, sich vor dem Geliebten zu vergessen. Mein Leid ist so heftig, meine Seele so krank, mein Körper so angegriffen, daß Sie sicherlich, und wäre es nur aus Barmherzigkeit, bei mir blieben und mir den Balsam der Teilnahme und des Trostes tief ins Herz einträufeln möchten.
Morgen mehr! Ihr Brief, den ich erwarte, wird mich beseligen, und ich werde nicht verfehlen, darauf zu antworten.
Donnerstags, nach dem Eintreffen der Post.
Schau, schau! Ich habe keinen Brief bekommen, und das überrascht mich weit weniger, als es mich betrübt. Es ist so einfach: Die Genießer des Lebens vergessen derer, die da leiden. Und ich werde mich wohl hüten, Ihnen einen Vorwurf aus etwas zu machen, das doch nichts weiter ist als eine ganz natürliche Folge Ihrer Seelenstimmung, von dem Ort abhängig, an dem Sie weilen.
Der Chevalier [de Chastellux] ist heute bei Ihnen. Er wird Ihnen Grüße von mir ausgerichtet haben. Mir war neulich gar nicht wohl, als er mich besuchte. Ich hatte eben einen Weinkrampf gehabt, ähnlich dem, den Sie miterlebt haben. Ich hatte einen Teil der Nacht geweint. Ich hatte nicht schlafen können, – ich litt zu sehr. Jetzt geht es mir besser; nur fühle ich mich schwach und matt. Gestern abend habe ich mich heftig aufgeregt. Ich habe im Laufe einer Plauderei Einzelheiten erfahren, Schriftzüge vor Augen bekommen, Worte gelesen, bei denen ich hätte sterben mögen. Ach, mein Blut und mein Leben wären nur ein geringer Dank für solche Liebe. Und die Ihrige dagegen?
Der Abbé Morellet hat mir in diesen Tagen erzählt, harmlos wie er ist, Sie seien stark verliebt in die jüngere Gräfin Boufflers. Sie beschäftigten sich angelegentlichst mit ihr und seien voller Eifer, ihr zu gefallen usw. Wenn das nun auch nicht völlig wahr ist, so klingt es doch so wahrscheinlich, daß es mich dünkt, ich hätte mich nur darüber zu beklagen, daß Sie mich nicht in Ihr Geheimnis gezogen haben. Wenn Sie mich los sein wollen, so verlange ich von Ihnen nur eins: Sagen Sie mir die Wahrheit! Glauben Sie mir, es gibt keine, wirklich keine, die ich nicht anhören könnte! Möglicherweise erscheine ich Ihnen so schwach, daß Sie mich schonen möchten. Aber ich bin nicht schwach. Im Gegenteil, ich fühle mich kräftiger denn je. Ich habe die Kraft zu leiden und ich fürchte nichts in der Welt, nicht einmal das, was Ihrer Meinung nach das Allerschlimmste für mich wäre. Doch, leben Sie wohl!