Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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75.

Montag, elf Uhr abends, den 1. November 1774.

Mein lieber Freund, es ist mir, als gehörten Ihnen alle Regungen und Gefühle meiner Seele. Ich muß Ihnen alle meine Gedanken offenbaren. Ich glaube, sie sind nicht mein Eigentum, ehe ich sie nicht Ihnen mitgeteilt habe.

Hören Sie mich also an, und urteilen Sie über mein Urteil oder vielmehr über meinen Instinkt, denn in Dingen des Geistes, des Geschmacks und der Kunst habe ich nur Instinkt. Die Akademie von Marseille hat Chamfort mit vollem Rechte preisgekrönt. Mir erscheint seine Lobschrift [auf Lafontaine] hervorragend; sie hat mir einen großen Genuß bereitet und wird mir noch mehr bereiten. Wie gedankenreich und geistvoll ist sie, zugleich scharf, wuchtig, voll Begeisterung und Weisheit! Stilistisch voll Leben, Seele, Feuer! Reich an glücklichen Wendungen! Wie originell die Sprache und Darstellung! Mit einem Worte, ich bin wirklich entzückt davon, und ich würde Ihnen am liebsten zehn Zitate, eins reizvoller als das andere, daraus anführen, wenn ich nicht fürchtete, Ihnen den Genuß zu verderben. Mein Lieber, ich empfehle Ihnen besonders die Seite 44. Sagen Sie mir, habe ich recht? Ist sie nicht voll der erlesensten Empfindungen? Ist das nicht eine Verherrlichung der Wohltätigkeit und der Dankbarkeit? Sind da nicht alle Gefühle wiedergegeben, die eine empfindsame, erhabene und leidenschaftliche Seele am liebsten selbst erfahren und anderen einflößen möchte?

Lieber Freund, diese Schrift befriedigt mich so sehr, daß ich wünschte, Sie hätten sie geschrieben. Allerdings bin ich überzeugt, dann wäre sie noch schöner geworden! Sie flögen noch höher empor, und Sie würden auch Chamforts Fehler nicht machen. Doch rasch, sagen Sie: ist meine Schwärmerei übertrieben? Zum mindesten entspringt sie aus mir selbst. Ich habe noch mit niemandem darüber gesprochen. Um neun Uhr erhielt ich die Lobschrift, und ich verging vor Ungeduld, allein zu sein. Ich habe sie dann gelesen, und Sie erfahren den ersten Eindruck, selbst auf die Gefahr hin, daß Sie den gesunden Menschenverstand in mir vermissen.

Lieber Freund, möge Sie nichts abschrecken, mir alles vorzulesen oder lesen zu lassen, was Sie dichten. Ich will die Magd Molières sein. Ich will keine Meinungen abgeben, nur alles nachfühlen. Es ist ein Zeichen von Geschmack und Geist, daß Sie den Stoff konzentriert haben. In den vortrefflichsten Tragödien gibt es langweilige Strecken. Diesen doppelten Fehler werden Sie nun vermieden haben. Ihr Stück wird voll Schwung und Spannung bleiben; Stoff und Handlung werden einen immer in Atem halten. Ihre Persönlichkeit wird an keiner Stelle zum Vorschein kommen, aber die Seele und das Genie Guiberts werden das Ganze durchdringen und beleben.

Mein lieber Freund, warum schwören Sie förmlich, mich nichts mehr unmittelbar und sofort lesen lassen zu wollen, wo ich doch alles kennen und nachfühlen möchte? Sind denn die Gracchen nicht Sie selbst? Ist das, was Sie begeistert, nicht etwas, was ich hören und überdenken möchte mein ganzes Leben lang?

Mein Gott, wie falsch hatten Sie mich zunächst verstanden, und wie trefflich sprechen Sie nunmehr über Milord Shelburne! Gewiß, besonders darum achte und liebe ich ihn, weil er der Führer der Opposition ist. Sie sollten tiefunglücklich sein, daß Sie in einem Staate wie dem unsrigen geboren worden sind. Wenn ich, ich gebrechliches und unglückliches Geschöpf, noch einmal auf die Welt kommen sollte, so wollte ich lieber der geringste Abgeordnete in einem Parlament als der König von Preußen werden! Nur der Ruhm Voltaires vermag mich zu trösten, keine geborene Engländerin zu sein.

Noch ein Wort über den Lord Shelburne, und nie wieder werde ich ihn erwähnen, denn: das Geheimnis, nicht langweilig zu werden, liegt ja darin, niemals alles zu sagen!

Wissen Sie, worin er Kopf und Herz Erholung von der Politik suchen läßt? In wohltätigen Handlungen, die eines Monarchen würdig sind. Er ist der Schöpfer von öffentlichen Bildungsstätten für alle, die im Bereiche seiner Besitzungen wohnen. Er kümmert sich bis ins einzelnste um ihre Erziehung und ihr Wohlergehen. So erholt sich ein Mann, der keine vierunddreißig Jahre alt ist. Seine Seele ist ebenso feinfühlig wie groß und energisch. Ich wünschte, Sie hätten diesen Engländer kennen gelernt. Am 13. reist er wieder ab. Für das französische Leben ist er nicht geschaffen. Er wollte der Eröffnung des Parlaments beiwohnen. Bis dahin hatte er Zeit, sich in Paris den Zerstreuungen hinzugeben. So viel Muße hat er in seinem ganzen Leben nicht gehabt. Er findet sie wonnig und angenehm. »Ich habe Genuß daran,« hat er mir kürzlich gesagt, »weil ich das nicht immer so habe, denn auf die Dauer muß so ein Dasein zur lästigsten Langenweile weiden.« Welch ein Riesenabstand zwischen ihm und einem Franzosen! Denken Sie an die galanten Herren unseres Hofes! Montesquieu hat recht: Die Staatsverfassung macht die Menschen. Ein befähigter Mann von Energie, Leidenschaft und Genie ist in unserem Lande wie ein in einem Menageriekäfig eingesperrter Löwe. Das Bewußtsein seiner Kraft wird ihm zur Folter. Er ist ein Titan, der auf der Erde hinkriechen muß.

Ich habe mit Ihnen geschwatzt, und nun bin ich zufrieden. Gute Nacht, mein lieber Freund!


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