Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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54.

Dienstag, den 20. September 1774, sechs Uhr früh.

Um die Fadheit und Dürre meines Briefes von gestern abend wieder gut zu machen, komme ich auf den Einfall, Ihnen zwei Blätter Voltaires und die Lobschrift auf Lafontaine [von Laharpe] zu übersenden, die ich mit ebensoviel Genuß gelesen wie angehört habe. Ich bitte wohl zu beachten, daß ich kein überschwengliches Lob hören will. Es steht Ihnen also völlig frei, abscheulich zu finden, was mir vortrefflich vorkommt.

Der Chevalier von Chastellux, der mich oft besucht, aber stets nur auf den Husch, vergißt es in der Eile immer, sich nach Ihnen zu erkundigen. Er ist sehr zerstreut, beschäftigter und mehr hinter allen möglichen Fürstlichkeiten her wie je. Er hat mir viel von der Treibjagd beim Herzog von Orleans vorgeschwärmt. Heute ist er in der Bretèche. Da wird er Neues von Ihnen hören. Aus konventioneller Rücksicht gegen die Gesellschaft verfällt man in den Ton und in den Gedankenkreis der Leute um einen herum.

D'Alembert und Graf Crillon plaudern oft mit mir von Ihnen. Sie wenden sich an mich, um Neues von Ihnen zu erfahren. In Zukunft werde ich mich aber wohl an sie wenden müssen, denn Sie schreiben mir ja nicht mehr. Ist es nicht so?

Mein Gott, wie toll, wie dumm ist die Leidenschaft! Seit vierzehn Tagen habe ich einen Abscheu vor allem Leidenschaftlichen. Indessen will ich gerecht sein und eingestehen, daß ich bei meiner Verherrlichung der Vernunft und Gelassenheit halb tot bin. Ich habe gerade noch Kraft genug, um meine Abgestorbenheit zu fühlen. Leib, Seele, Gehirn, mein ganzes Ich ist erschöpft, aber dieser Zustand ist mir nicht lästig, so neu er mir ist.

Gute Nacht, mein lieber Freund, denn, wenn es auch schon Tag wird, so habe ich doch noch nicht geschlafen. Noch niemand hat den Einfall gehabt, über den Schlaf und seine Wirkung auf den Geist und die Leidenschaften zu schreiben. Die Naturforscher sollten diesen für Unglückliche so wichtigen Punkt nicht beiseite lassen. Wenn sie nur wüßten, wie sehr die Schlaflosigkeit das Leiden steigert! Die erste Frage an einen Kranken und Unglücklichen sollte immer lauten: Können Sie schlafen? Und die zweite: Wie alt sind Sie?


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