Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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156.

Dienstag, den 7. November 1775, um die Zeit der Post.

In zwei Dritteln ihres Lebens ist die vernünftigste Frau toll oder kindisch. Ist es nicht kindisch oder toll, wenn ich dem Drang, Ihnen zu schreiben, nachgebe, wo ich doch sicher bin, daß ich meinen Brief nicht abschicke? Aber, mein Lieber, mich mit Ihnen beschäftigen in greifbarerer Art als bloß in Gedanken, das hilft mich trösten, das erfrischt mich innerlich. Das gibt meiner Seele, die gelähmt war, ihre ganze Spannkraft wieder. Wenn ich Ihnen damit nicht diene, tue ich schließlich etwas für die große Leidenschaft, die mein Leben tyrannisiert.

Ihr Briefchen vom Sonntag habe ich zehnmal gelesen. Haben Sie es für besonders herzlich und eindringlich gehalten? Dann dürften Sie sich gewaltig geirrt haben, denn es war sehr kühl, und es hat den Eindruck, den es machen soll, ganz und gar nicht gemacht. Ach, Sie sind weder in Aufregung noch in Verzweiflung! Höchstens geht Ihnen ein wenig die Selbstzufriedenheit verloren, wenn der Briefträger kommt. Eine Viertelstunde später ist das vorüber. Ach, mein Bester, in Ihnen ist nichts tief, nichts von Dauer! An gewissen Tagen würde selbst die Nachricht von meinem Tode kaum Eindruck auf Sie machen. Gestehen Sie, daß ich Sie gut kenne! Vielleicht aber haben Sie flüchtige Augenblicke, wo Sie über meinen Tod erschüttert wären.

Erinnern Sie sich, daß ich Ihnen vor langer Zeit schon einmal gesagt habe, daß die Eindrücke, die man auf Sie macht, so rasch wieder vergehen, daß man sie nicht Gefühle nennen kann. Sie sind nichts als Nuancen, trunkene Momente, Träume der Eigenliebe. Mehr ist auch Ihre Liebe nicht, denn Sie haben weder jene Teilnahme, kraft der man sich über die Leiden des Geliebten beunruhigt, noch jenen blinden Drang, an allem teilzuhaben, was den Freund begeistert. Ihnen fehlt die Zärtlichkeit, eine kranke Seele zu trösten, und ebenso das gute Herz, das jedem Schmerze vorbeugt. Ich sage es Ihnen immer wieder: Ihre Liebe ist keine Liebe!

Sie sind wohl einer jener Weltmänner, in deren Gesellschaft sich eine der Leidenschaft preisgegebene Frau am allerleichtesten Illusionen machen kann hinsichtlich dessen, was nun einmal das erste und einzige Interesse eines Weibes ist. Sie sind liebenswürdig und lebhaft; jede Ihrer Regungen ist impulsiv und warm wie die Leidenschaft. Im vertrautesten Verkehr erscheinen Sie so außerordentlich reizend und ungezwungen, daß man eine ziemliche Menschenkenntnis haben muß, um sich zu sagen: das entquillt alles einem angeborenen Instinkt, keineswegs dem tiefen Gefühl. Und doch ist diese Erkenntnis so wahr, daß Sie selbst da, wo Sie scheinbar ganz selbstvergessen sind, unfähig wären, einer Geliebten ein wirkliches Opfer zu bringen. Und stünde der Seelenfriede oder gar das Leben derjenigen in Gefahr, die sich Ihnen hingegeben hat, so würden Sie doch keinen einzigen Ihrer ehrsüchtigen Pläne, nichts von Ihrem realen Glück hingeben. In Entscheidungsstunden stehen Sie einsam da, allein mit Ihrem Egoismus.

Erinnern Sie sich, daß ich Ihnen in der ersten Zeit unserer Bekanntschaft, ohne Taten von Ihnen als Beweise zu kennen, mehrfach gesagt habe, ich hielte Sie für grenzenlos selbstsüchtig. Sie waren betroffen, und es fiel Ihnen damals nicht schwer, sich zu verteidigen. Heute liegen die Dinge anders. Ich kann Ihnen vernichtende Exempel und Beweise bringen und, um Sie ganz zu entwaffnen, brauche ich bloß zu sagen: Sie kannten die Echtheit meiner Leidenschaft, Sie kannten die Energie meines Charakters. Sie entschlossen sich zu einer Heirat, ohne damit Ihre Laufbahn oder Ihr Vermögen irgendwie besonders zu fördern. Sie wußten, daß mich die Verwirklichung dieses Entschlusses entweder unverzüglich töten oder in Schmerzen hinsiechen lassen mußte. Und doch haben Sie geheiratet und zwei Tage darauf die Grausamkeit begangen, mir einen so infamen Brief zu schreiben, daß ihn jeder, dem die Situation klar gemacht würde, einfach für unecht oder unglaublich halten müßte.

So erlauben Sie mir wohl, daß ich Sie für den hartherzigsten und frivolsten aller Männer halte. Mir erscheint es als Gipfel alles Unglücks, das einer leidenschaftlichen lebensvollen Frauenseele widerfahren kann: sich Ihnen in Liebe zu überlassen. Mein Gott, alles, was ich gelitten habe, alles, was ich leide, ist das nicht genug schmerzensreiche Sühne für meine Schwachheit und Verfehlung? Sollen denn die paar Tage, die mir zu leben übrig bleiben, auch noch beladen sein mit Aufregung, Reue und Leid?

Jawohl, mein Bester, Sie haben mich aufs Herz geschlagen. Daran werde ich sterben, und zwar in grausamster Weise: nach und nach. Aber in den verzweiflungsvollen Zuckungen, unter denen mein Leben verblutet, noch im letzten Seufzer, der sich mir entwindet, werde ich Ihnen immer wieder sagen: Warum haben Sie mich nicht für Herrn von Mora sterben lassen? Ich hätte meiner Liebe Genüge getan und meinen Fehltritt gesühnt!

Sie wollten mir offenbar zeigen, daß es noch viel schlimmeres Unglück gäbe. Wie gut ist Ihnen dies gelungen! Ich habe Augenblicke, ich habe Tage, wo ich ganz davon überzeugt bin, daß ich das Unglück erst mit der Liebe zu Ihnen kennen lernte.

Ein gräßliches Schicksal! Vor der schändlichsten Tat meines Lebens versinkt mir mein ganzes übriges Dasein. Mein Schuldbewußtsein raubt mir oft sogar die Erinnerung an die Leidenschaft, die mich acht Jahre lang beseelt hat. Ach, was wissen Sie von den Extremen des Leids und der Leidenschaft! Sie verstehen nicht einmal so recht die Herzen, die Sie erobern. Ich gehöre mir selber nicht mehr an, wenn ich Sie vor mir habe. Ihre Gegenwart verzaubert all mein Leid und Weh. Mit Ihnen kommt und geht dieser Fieberrausch, und wenn Sie da sind, weiß ich kaum mehr, wie unglücklich ich eben war. Mein Liebster, wenn ich Sie sehe, habe ich keine andere Sehnsucht als nach Ihrer Liebe. Dann ist selige Sonne in meiner Seele. Ich habe kein Maß für Ihr Herz; ich vergesse, daß Sie schlecht sind: ich liebe Sie.

Aber solche Erschütterungen sind allzu heftig für meinen jetzigen Zustand. Wenn Sie weg sind, bin ich ganz erschöpft. Ich habe keine schmerzensfreie Stunde, ich habe alle Tage Fieber.

Ich werde nicht wieder gesund, aber das will ich auch gar nicht; ich möchte nur meinen Frieden finden und ein wenig Ruhe, etwas von der Ruhe, die mir die Natur bald ganz gewähren wird. Der Gedanke daran ist mein ewiger Trost. Ich habe keine Kraft mehr zur Leidenschaft; meine Seele ermattet und quält mich. Nichts hält mich aufrecht; Hoffnung und Sehnsucht sind mir erstorben. Die langen schlaflosen Nächte haben mich halb wahnsinnig gemacht. Es ist mir unverständlich, daß mir nicht schon zwanzigmal vor anderen Leuten Worte entschlüpft sind, die das Geheimnis meines Lebens und meines Herzens verraten. Zuweilen übermannen mich mitten in der Gesellschaft die Tränen, und ich muß hinwegfliehen.

Ach, wenn ich Ihnen meine grenzenlose Verlassenheit noch so genau vormale, ich vermag Sie doch nicht zu rühren, denn Sie werden diese Zeilen wohl niemals lesen.

Alle Welt glaubt, es wäre der Verlust Moras, der mich tötet. Mein Lieber, wenn man wüßte, daß Sie es sind, daß mir Ihre Heirat den Todesstoß versetzt hat! Wie würde man mich ehren und Sie verachten! Aber alle diese Anklagen wären nicht so laut und schwer wie die meines Gewissens. So vielen schmerzlichen Gedanken unterliege ich. Nur wenn ich mein Herz ausschütte, spüre ich ein wenig Erleichterung.


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