Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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34.

Montags, vier Uhr nachmittags [Mai 1774]

Lieber Freund!

Das Recht der Wiedervergeltung nehme ich in diesem Augenblicke gewiß nicht in Anspruch, denn mit mir beschäftigen Sie sich sicherlich nicht. Du lieber Gott, warum sollten Sie auch an mich denken, inmitten so vieler und so verführerischer Zerstreuungsmittel, wo ich es doch, selbst wenn wir beide miteinander allein sind, nicht zuwege bringe, die Alleinherrscherin Ihrer Gedankenwelt zu sein.

Wissen Sie, warum ich Sie lieber am Abend als an den übrigen Stunden des Tages bei mir habe? Weil diese Stunde Ihrer Tätigkeit ein Ende macht. Dann liegt alles hinter Ihnen: die Besuche da und dort, bei Frau so und so, bei Meister Gluck, und all die hundert unnötigen Geschichten, denen Sie offenbar nur deshalb Anteil schenken, um mich recht schnell wieder verlassen zu können. Aber glauben Sie ja nicht, ich wolle Ihnen hiermit Vorwürfe machen. Das sind einzig und allein Betrachtungen, deren ich mich bei meiner lebhaften Teilnahme für Sie nicht erwehren kann. Ich bin jedoch weit entfernt, Forderungen aufzustellen. Hundertmal rufe ich mir tagsüber zu: Macht über dich selber mußt du erringen! Du mußt deine Gefühle soweit eindämmen, daß sie dir keine Seelenqualen mehr verursachen können. Dann wirst du anspruchslos und für alles dankbar sein! Das heißt soviel als: wäre mir zufällig die Seele voll von Leidenschaft, so müßte ich sie eher austreiben, als daß ich sie mit Ihnen zu teilen suchte.

Wissen Sie aber, mein Lieber, woher ich die Kraft hierzu schöpfen könnte? Aus meiner innersten Überzeugung, daß es Ihnen nun einmal nicht gegeben ist, eine rege, leidenschaftliche Seele zu beglücken. Ich will durchaus nicht sagen, obgleich der Gedanke daran so nahe liegt: ich sei nicht imstande, eine tiefe Neigung zu erwecken, ich dürfe gar nicht den Anspruch erheben, jemanden zu reizen und zu fesseln. Ach, das ist ja sonnenklar. Das veranlaßt mich nicht zu meiner Bemerkung, es sei Ihnen nicht gegeben, eine große empfindsame Seele zu beglücken. Eine solche Seele müßte das Antlitz der Frau von Forcalquier, der zwanzigjährigen, haben. Dazu die Hoheit der Frau von Brionne, Aglajas Anmut und den Witz der Frau von M[ontsauge], als Zier noch draufgepfropft den der Frau von Boufflers. Doch wenn dieses Idealgeschöpf erstünde, ich wiederhole es nochmals, es wäre Ihnen nicht gegeben, damit glücklich zu sein. Warum aber? Warum? Das will ich Ihnen sagen. Weil Sie ehrgeizig sind, weil die Liebe bei Ihnen nur das typische Symptom Ihrer Jugend ist, mit Ihrem Innenleben aber gar nicht zusammenhängt, wenn sie bisweilen auch eine gewisse Wallung darin erregt. Ihre Seele steht hocherhaben darüber, ritterlich, vornehm und tatenlustig, aber ohne Sehnsucht, ohne Zärtlichkeit und ohne Leidenschaft. Soll ich beweisen, was mir klar vor Augen liegt? Gut, lesen Sie nur Ihren »Konnetabel«; seien Sie dann ehrlich zu sich selber und gestehen Sie sich: »Sie kennt mich. Sie hat mir das Geheimnis meines Herzens erzählt!«

Ach, glauben Sie mir, ich habe nichts als Verzweiflung davon, Ihnen so tief ins Herz zu schauen! Ich bin voller Sehnsucht nach Liebe; meine höchste Freude ist es, zu lieben, was ich liebenswert finde. Es ist mir so unmöglich, mit Maß zu lieben, daß es das größte Unglück wäre, was es geben könnte, wenn ich in Ihnen etwas entdeckte, was meine Leidenschaft eindämmen und vielleicht ganz auslöschen würde: denn ich will Ihnen naiv gestehen, daß ich ohne Gegenliebe nicht lieben kann. Wenn ich aber vom Gegenteil überzeugt bin, dann habe ich die Kraft einer Märtyrerin und fürchte keinerlei Ungemach. Unter Leiden und unter einer Last von Leiden könnte ich noch das Leben süß finden und den anbeten und segnen, der an meinem Leid schuld ist, aber nur unter der Bedingung, daß ich wieder geliebt werde, und zwar geliebt aus dunklem Drange, nicht aus Dankbarkeit, aus Galanterie oder aus Moralität. Alles das ist abscheulich und nur geeignet, eine empfindsame Seele zu schänden und zu demütigen.

Nein, wir wollen aus dem herrlichsten Geschenk, mit dem die Natur uns begnadet hat, kein Werk der Barmherzigkeit machen oder gar eine gemeine Handlung! Mein lieber Freund, es gibt Augenblicke, wo ich mich Ihnen gleich fühle. Mit Kraft, Erhabenheit und souveräner Verachtung stehe ich über allem, was kleinlich und unritterlich ist. Kurzum, ich verachte das Leben aus tiefster Seele, und wie es sich auch zeigen mag, es kann mich nicht einen Moment erschrecken. Es ist für mich fast immer nur Drang nach Tätigkeit.

Da ich also Sie und mich kenne, wiederhole ich Ihnen nochmals: Wir wollen uns lieben oder uns für immerdar voneinander lossagen! Wir wollen alle beide Wahrheit und Großherzigkeit bezeigen und genug Achtung voreinander hegen, um zwischen uns alles für möglich zu halten, nur nicht Lug und Trug und nur nicht ein Weiterleben in jenem Hangen und Bangen, das notgedrungen vorherrschen muß, wenn man der Gegenliebe nicht sicher ist. Mein lieber Freund, das ist ein Zustand, in dem man weder Vertrauen zu sich selbst noch zum Geliebten hat. Man hat an nichts Freude. So sehne ich mich zum Beispiel in diesem Augenblick leidenschaftlich danach, daß Sie heute abend aus Auteuil zurückkämen, und fast im selben Augenblick ist mir wiederum so zumute, als ob es mir lieber wäre, Sie blieben dort. Begreifen Sie die Ursache dieses Kampfes zwischen der Sehnsucht der Seele und dem Willen, der aus der Reflexion entspringt? Schlußfolgerung: Ich liebe Sie bis zur Tollheit, aber ein Etwas sagt mir, man dürfe Sie nicht so lieben. Dieses Etwas dröhnt so laut um meine Seele, daß ich ganz still verharre und nichts als diese gräßliche Warnung auf mich einwirken lasse.

Ich schicke Ihnen Ihre Arbeiten wieder zurück, damit Sie selbst die Kritik übernehmen mögen. Legen Sie die letzte Hand daran und halten Sie sich überzeugt, daß niemand auf der Welt so viel Wert legt auf das, was Sie schaffen und zu schaffen fähig sind, als ich. Ohne selber so zu sein, glaube ich, daß jemand seine ganze Eitelkeit, seinen Stolz, seine Tugend, seine Freude, kurz sein ganzes Dasein darin gipfeln könnte. Sie zu lieben. Ich habe eben ganz anders gesprochen. Und doch nicht! Ich habe gesagt, was ich dachte, was ich wußte. Jetzt finde ich mich veranlaßt, zu sagen, was ich fühle. Mein Herz ist so stark im Lieben, und mein Geist so klein, so schwach, so beschränkt, daß ich mir eigentlich jede Äußerung und jeden Ausdruck untersagen sollte, der nicht vom Herzen kommt, denn dieses spricht: ich harre Ihrer, ich liebe Sie, ich möchte ganz die Ihre sein und dann sterben!

Adieu! Es kommt Gesellschaft. Ich bin so erfüllt von Ihnen, so verloren in meinen Jammer, daß die Menschen nichts mehr für mich sind als eine lästige Fessel.

Zweierlei nur verschönt mir das Dasein: Sie um mich zu haben oder allein zu sein, – aber ganz allein, ohne Bücher, ohne Licht, in tiefer Stille. Es fällt mir nicht ein, mich über meine Schlaflosigkeit zu beklagen. Von den vierundzwanzig Stunden des Tages sind das die guten. Bewundern Sie, bitte, daß es mir so schwer fällt, von Ihnen zu lassen, während Sie keinen Blick, keinen Gedanken zurück auf mich wenden. Lieber Gott, sind Sie darum glücklicher? Ja!


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