Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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122.

Montag abends, den 3. Juli 1775.

Bei Ankunft der Sonnabendspost war ich gerade mit meinem Riesenbriefe fertig. Ihr Brief hat manches geändert, nicht an meiner Art zu denken, doch aber an meinen Gefühlen: Trotzdem war ich betroffen, als ich las, Sie seien nur dem Anscheine nach an mir schuldig, und mein Unglück bedinge Ihre Nachsicht. Sie sprechen das gelassen aus, während ich über Ihre Hartherzigkeit und Ungerechtigkeit dem Tode nahe bin. Mein Gott, woher soll ich die Kraft nehmen, deren ich bedarf? Meine Seele hat keinen Halt mehr, keinen Hafen. Ich hasse Sie nicht, aber mein Leben lang verfluche ich Sie, leide ich, und schmähe ich das Leben, an das Sie mich geknebelt haben.

Ach, warum mußte ich Sie kennen lernen? Warum haben Sie mich zu einer so unglücklichen Sünderin gemacht?

Kühl sprechen Sie es aus, ich sei unglücklich.

Nichts in Ihnen sagt Ihnen also, daß Sie mein Unglück unabänderlich gemacht haben? Dazu wagen Sie es, das Schweigen aus Verzweiflung, die mit dem Tode ringende Mutlosigkeit eine »abscheuliche Laune« zu schelten!

Ach, ich habe Sie voll Hingebung geliebt; meine Seele schwebte so hoch über jedwedem anderen Interesse, im Lande der Leidenschaft, daß es empörend ist, wenn Sie mein jetziges Mich-Abwenden von Ihnen eine »Laune« nennen. Ja, sprechen Sie denn eine ganz andere Gefühlssprache als ich? Im nämlichen Moment, wo Sie mich offenbar wieder zu sich ziehen wollen, verwunden Sie mir das Herz. Ihre Worte morden mir die Seele. Wenn Sie sich über mich beklagen, wo ich doch unter Ihren Kränkungen stöhne, so fehlt es Ihnen nicht bloß an Zartgefühl, sondern einfach an Moral.

Sie sagen, es sei weder Ärger auf der einen, noch Dankbarkeit auf der anderen Seite, was Sie veranlasse, mir wieder die Hand zu bieten; es sei das zärtlichste Gefühl. O, wenn das wahr wäre, so wäre das die Krone meines Unglücks! Aber nein, ich denke, Sie täuschen sich, denn, wenn Sie meine Art Liebe nicht erwidern, wenn Sie gar nicht das Bedürfnis haben, so geliebt zu werden, wie ich liebe, so muß Ihnen der Verzicht leicht fallen, das einzige und höchste Götterbild einer leidenschaftlich-regen Seele zu sein, die, wenn auch nicht Wärme, so doch Bewegung in Ihr Leben gebracht hat. Ich verstehe wohl, daß auch der zerstreuteste und vielbeschäftigste Mensch eine gewisse Leere fühlt, wenn er der Liebe eines Herzens verlustig geht, das stark genug war, zu leiden, und weich genug, alles zu verzeihen. So großmütig oder so kalt war ich aber doch nicht, um Ihnen ein Leid zu verzeihen, das mich martert, nur habe ich genug Vernunft, um im Schweigen Beruhigung zu suchen. Mein Gemüt war so krank, daß ich hoffte, das Verlangen nach Frieden würde mich leise zur Gefühllosigkeit geleiten. Indem ich aufhörte, Sie zu sehen und mit Ihnen zu reden, hielt ich es nicht für unmöglich, daß Sie endlich die Macht einbüßen würden, die Ihnen innewohnt und mir den Verstand raubt und meiner Seele den Frieden. Du lieber Gott, was bringen Sie mit dieser Zauberkraft zuwege? Zweifellos das, daß Sie mir das Leben unglücklich machen und Ihnen – falls Sie ein Ehrenmann sind – das Ihrige zur Qual. Sie müßten eine grenzenlose Ehrsucht besitzen, wie ich sie in Ihnen nicht zu erwecken vermöchte, wenn Sie mir ein Gefühl erhalten wollten, das Sie zu teilen gar nicht imstande sind.

Sie wissen sehr gut, daß meine Seele nicht Maß halten kann. Ihnen von neuem angehören wollen, das hieße sich also Höllenqualen aussetzen. Sie verlangen das Unmögliche, daß ich Sie wahnsinnig lieben und daß dabei meine Vernunft alle meine Regungen im Zaume halten soll. Gibt es in der Natur so etwas?

Sie wissen, daß ich nicht zu heucheln verstehe! Daß ich mir nie unrechtmäßigen Besitz anmaße! Und selbst wo es sich um mein Lebensglück handelt, will ich es nicht Umständen oder Berechnungen danken, die mit zärtlicher Liebe oder lodernder Leidenschaft in mir nichts zu tun hätten! Sie wissen es, sehen es: ich vermag von meinen geistigen Fähigkeiten dem Geliebten gegenüber keinen Gebrauch zu machen.

Ich habe schon zuviel von mir gesprochen. Ich möchte etwas von Ihnen über alles das hören, wovon ich so lange Zeit nichts erfahren habe. Sie müssen mir Rechenschaft über Ihr Denken, Tun und Fühlen geben. Ich habe ein Recht dazu. Wie konnten Sie in Ihrem Briefe darin so zurückhaltend sein? Sie sagen ja selber, Ihr Herz und Ihr Geist seien übervoll! Wem wollen Sie es ausschütten? Gibt es auf der Welt jemanden, der Sie besser verstände als ich?

Was Sie mir über Ihren »Konnetabel« schreiben, habe ich dem Marschall von Duras gegeben, der mir von neuem erklärt hat, das Stück käme zur Aufführung. Sie sollen gegen Ende des Monats Urlaub erhalten und im September den Rest Ihrer Dienstzeit in Metz nachholen. Er hat Ihnen das alles mit der letzten Post selber geschrieben. Ich wiederhole es nur zu meiner eigenen Befriedigung.

Zum Wettbewerb sind fünfzehn »Lobschriften auf Catinat« eingelaufen, aber nur eine bereitet mir Unruhe. Morgen soll ich sie zu lesen bekommen, und ich verspreche Ihnen meine Kritik. Wir wollen sehen, ob ich ebenso wie die Akademie urteile. Um zu einem gesunden Urteil zu gelangen, will ich Haß und Liebe völlig beiseite lassen; dann sollen Sie sehen, ob ich Verstand habe.

Lassen Sie die »Gracchen« ganz liegen? Wenn Ihr Ehrgeiz auch erloschen sein mag, versprechen Sie sich denn durch dieses Werk gar keine Vermehrung Ihres literarischen Ansehens?

Gestehen Sie mir doch, warum sagen Sie, für Sie gäbe es nichts mehr auf der Welt? Sollte das schon die Wirkung jener Alleinherrscherin sein, die es fertig gebracht hat, daß sich Graf Crillon glücklich dabei fühlt, nicht mehr zu sein als bloß der Gatte der Gräfin Crillon? Das ist zweifellos viel wert, aber geistvoller, froher und liebenswürdiger macht es ihn nicht. Was tut's? Crillon ist glücklich. Aber um dieses Glück beneide ich ihn nicht. Ist es übrigens wahr: in Livorno soll es eine geistreiche Dame geben?

Wie lächerlich wären Sie, wenn Sie nicht der reizendste Mensch auf der Welt wären! Ihr Brief ist ein Mischmasch von Vertrauen auf meine Liebe und von Argwohn, daß ich Sie nicht geliebt hätte. Das ist sehr spaßig. Halb weltmännisch, halb vertrauungsvoll! Vielleicht lieben Sie mich gar? Zum mindesten sind Sie ebenso voller Widersprüche wie ich. Sollte ich Sie angesteckt haben?

Mein lieber Freund....

Da ist mir ein Wort entschlüpft, das ich mir in diesen Tagen mehrfach vorwerfen mußte, wenn ich in Ihrer Angelegenheit für Sie warb. Freund? Kann man jemanden Freund nennen, den man über alles haßt? Was für Erinnerungen verführen mich dazu? Sollte mein Haß der erste Ring jener Kette sein, die eine dunkle Gewalt erbarmungslos um alle die Unglücklichen schweißt, die ihr einmal verfallen sind? Das verstehen Sie wohl nicht?

Mein lieber Freund, ja, mein liebster Herzensfreund, wollen wir wieder einig sein? Wollen wir einander verzeihen? Wir haben beide Anlaß genug, nachsichtig zu sein. Erinnern Sie sich daran, daß ich krank, sehr krank bin. Wenn Sie wollen, daß ich lange lebe, so helfen Sie mir, stützen Sie mich, machen Sie alles Leid vergessen, das Sie mir angetan haben!

Antworten Sie mir. Ein ganzes Buch soll es sein!

Leben Sie wohl! Leben, Sie wohl!

Sind Sie nicht müde?


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