Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

9.

Donnerstag, den 1. Juli 1773.

Gott, wenn Sie wüßten, wie ungerecht ich bin, wie heftig ich Sie angeklagt habe! Wie oft ich mir gesagt habe, daß ich von Ihrer Freundschaft nichts erwarten, nichts begehren dürfe! Und warum? Weil ich keine Nachricht von Ihnen erhielt. Sagen Sie mir nur: warum erheischt man so ungestüm etwas von einem Menschen, auf den man gar nicht rechnet? Tatsächlich, ich glaube, daß Sie meine Inkonsequenz verzeihen möchten, aber ich, ich darf nicht so nachsichtig sein. Mir geht sie tiefer zu Herzen als Ihnen.

Ich weiß nicht mehr, was ich Ihnen schuldig bleibe, was ich Ihnen gewähre. Ich weiß nur, daß mich Ihr Fernsein niederdrückt, und doch kann ich nicht dafür stehen, ob Ihre Gegenwart mir gut täte. Mein Gott, was ist das für ein gräßlicher Zustand, in dem einem Freude, Trost, Freundschaft, kurz alles Gift wird? Was soll ich tun? Sagen Sie mir das! Wo kann ich die Gelassenheit wiederfinden? Ich weiß nicht, wo ich die Kraft hernehmen soll, um so starken, einander so entgegengesetzten Eindrücken standzuhalten.

Ach, wie oft man vergeht, ehe man stirbt! Das ganze Leben ist mir eine Qual, zu nichts nütze, aber man hindert mich daran, eine Bürde abzuwerfen, der ich unterliege. Es ist der Übel schlimmstes, daß man mich dem Leben erhalten will; man peinigt mich in gleicher Weise, indem man mich verzweifeln läßt oder in Rührung versetzt. O mein Gott, lieben, geliebt zu werden, ist das nicht etwas Schönes! Ich erdulde alles Leid, und dabei muß ich mir noch den Vorwurf machen, die Friedensstörerin, die Unglücksbringerin des geliebten Mannes zu sein! Meine Seele ist erschöpft vor Schmerz, mein Körper ganz zerrüttet, und doch lebe ich, muß ich leben. Warum wollen auch Sie es? Was liegt Ihnen an meinem Leben? Was ist es Ihnen wert? Was bin ich Ihnen? Ihr Geist ist so beschäftigt. Ihr Leben ist so reich an Inhalt und Wechsel! Wie soll Ihnen Zeit bleiben, mein Leid zu beklagen, und genug Mitgefühl, mir meine Freundschaft zu erwidern! Gewiß, Sie sind liebenswürdig, Sie reden von Teilnahme, aber es dünkt mich, es wäre besser gewesen, ich hätte nie welche in Ihnen erweckt.

Sie können meine Briefe nicht entbehren? Sollte das wahr sein? Gewiß, Sie sagen es ja! Warum haben Sie aber dann so lange gezögert, mir zu schreiben? Warum richten Sie Ihre Briefe nicht unmittelbar an mich? Der Umweg über Straßburg hat sie zwei bis drei Tage aufgehalten. Für jemanden, der acht Monate darauf verwendet, bloß um seine Neugier zu befriedigen, hat das nichts zu sagen; es ist aber viel zu viel für den, der nur ein einziges Interesse im Leben hat.

Ich bin entzückt – und damit wollte ich eigentlich anfangen –, daß Sie mit dem König von Preußen zufrieden sind. Was Sie mir von dem Zauber schreiben, der um ihn weht, das ist so reizend, so ritterlich, so gerecht, daß ich es nicht für mich behalten konnte. Ich habe es allen vorgelesen, die es zu hören wert sind. Frau Geoffrin hat eine Abschrift davon erbeten. Ich habe den Brief noch weiter gegeben, nicht zu seinem Nachteile.

Sie gehen also nicht nach Rußland. Ich bin herzlich froh darob. Ach, lassen Sie mich's Ihnen noch einmal sagen, wie sehr beglückend ich Ihre Freundschaft finde. Sie antworten auf alles, Sie plaudern, selbst in einer Entfernung von tausend Meilen sind Sie bei mir.

Warum liebt Sie eigentlich jene Dame [Frau von Montsauge] nicht bis zum Wahnsinn, so wie Sie es möchten, wie Sie es verdienten? Könnte ihr Herz, ihr Dasein einen besseren Inhalt haben? Meiner Treu, sie hat weder Geist noch Gemüt! Ich bin fest davon überzeugt. Sonst müßte sie Sie lieben, und sei es nur aus Eitelkeit.

Doch, was habe ich mich darein zu mischen? Sie sind zufrieden, oder wenn Sie es nicht sind, so ist Ihnen das Leid doch recht, das sie Ihnen antut. Jene andere Unglückliche aber? Die liegt mir näher am Herzen. Haben Sie ihr [der Frau von Boufflers] geschrieben? Grämt sich die Ärmste immer noch so sehr?

Ich habe noch gar nicht erzählt, daß neulich bei der Gräfin Boufflers sehr viel von Ihnen und von Ihrem »Konnetabel« die Rede war. Die kleine Boufflers meinte bei dieser Gelegenheit, sie hielte Sie für außerordentlich verliebt, und sie hätte deshalb ihr Augenmerk scharf auf Frau von M[ontsauge] gerichtet. Einer der anwesenden Herren behauptete, Sie seien es nicht mehr, Sie hätten sie geliebt, aber das wäre aus. Er glaube, daß Sie mit einer und derselben Frau nie lange glücklich oder unglücklich sein könnten. Ihr tatenlustiger Geist erlaube Ihnen nicht, sich lange an einen Gegenstand zu hängen. Und nun folgte eine geistreiche Erörterung in Sachen des Gefühles und der Leidenschaft. Die Gräfin äußerte schließlich, sie wisse nicht, wem Ihr Herz gehöre, aber der Frau von M[ontsauge] nicht mehr. Doch schlösse sie aus den Briefen, die sie von Ihnen vor Ihrer Abreise erhalten, daß Sie mächtig gefesselt sein müßten und daß die Trennung Ihnen großes Herzeleid verursache. Nun folgten die so natürlichen Bemerkungen: Warum denn aber die Reise nach Rußland? Vielleicht um dort Genesung zu finden? Vielleicht um die Gefühle der Geliebten zu erhöhen?

Endlich, nach einer Menge gleichgültiger Mutmaßungen, ward die Frage an mich gerichtet, ob ich Ihnen gut sei, ob ich genau mit Ihnen bekannt wäre? Ich hatte zu allem nichts gesagt. – Ja wohl, sehr gut bin ich ihm, und wer ihn nur einigermaßen kennt, der muß ihm gut sein und nichts anderes! – Sie kennen also seine Verhältnisse? Wer ist denn der Gegenstand seiner Neigung? – Bewahre! Davon weiß ich wahrlich nichts. Mir ist nur soviel bekannt, daß er in Berlin ist, daß es ihm dort gefällt, daß der König ihn vorzüglich aufgenommen hat, daß er die Armee zu sehen bekommen und nach Schlesien gehen wird. Das ist's, was ich weiß, was mich interessiert. – Dann kam die Rede auf die Oper, auf die Dauphine [Marie-Antoniette], auf tausend sogenannte interessante Dinge.

Ich berichte Ihnen das alles nur, um Ihnen darzutun, wie unlieb es mir ist, daß alle Welt Ihre Herzensgeschichten, Ihre schlechten Seiten und Ihre Unbeständigkeit kennt. Ich möchte nur immer von Ihrem Wert, Ihren Fähigkeiten und Ihren Vorzügen hören. Ist das unrecht?

Sie möchten in Wien mehrere Briefe von mir haben! Möglicherweise ist gar keiner da, ebensogut aber eine ganze Menge. Ich habe seit dem 6. Juni dreimal an Sie nach Berlin geschrieben. Zweifellos wird man Ihnen Ihre Post nachschicken. Wenn sie bis zu Ihrer Rückkehr dort liegen bleiben sollten, so werden sie freilich beim Empfang etwas veraltet sein. Indessen schenke ich Ihrem Verlangen Glauben, in den Besitz dieser Briefe zu kommen, deren Ausbleiben Ihnen »den Kopf verdreht«.

Bitte, behandeln Sie mich nicht so gut. Schreiben Sie nicht zu allererst an mich. Denn, ohne daß Sie es selber merken, schreiben Sie mir dann doch nur, um mir geschrieben zu haben. Denken Sie erst an mich, wenn Sie ihr nichts mehr zu sagen haben! Ordnung muß sein. Die Freundschaft kommt erst hinterher. Zuweilen ist sie in weiter Entfernung, zuweilen aber auch sehr nahe, vielleicht allzu nahe. Unglückliche lieben, lieben jedweden Trost. Es ist so süß zu lieben, was einem angenehm ist. Ich weiß nicht was, irgend eine Ahnung muß es sein, die mich am liebsten von unserer Freundschaft jene bekannten Worte sagen lassen möchte, die der Graf d'Argenson ausgesprochen hat, als er das hübsche Fräulein von Berville, seine Nichte, zum ersten Male sah: »Ah, sie ist sehr hübsch. Es ist zu hoffen, daß sie einem beträchtlich viel Gram verursachen wird!« Was meinen Sie dazu?

Ach, Sie sind so stark, so maßvoll und vor allen Dingen so vielbeschäftigt, daß Sie vor großem Unglück ebenso geschützt sind wie vor kleinem Kummer. Sehen Sie, wie nötig es ist, Verstand zu haben und Talente! Dann ist man allen Ereignissen überlegen. Wenn man obendrein noch ritterlich und feinfühlig ist wie Sie, so ist man zweifellos für den Schmerz anderer empfänglich in genügendem Maße, um eine Alltagsfreundschaft zufrieden zu stellen. Aber die Herzensstürme legen sich bald, sowie der Kopf lebhaft und gründlich in Anspruch genommen ist. Ich prophezeie es Ihnen, und ich freue mich darüber: Jenes Unglück, das die Seele umwühlt, das wird Sie nicht mehr heimsuchen. Wohl sind Sie noch jung genug, um leichte Schicksalsstöße zu erfahren, aber ich versichere Ihnen: Sie werden rasch wieder ins Gleichgewicht kommen. Ja, ich versichere Ihnen: Sie werden viel Glück in der Welt haben und zu großem Ruhme gelangen.

Eben war ich abscheulich, eben habe ich Ihnen eine recht kleine, recht gewöhnliche Seele gezeigt. Aber ich kann nichts dafür. Allemal, wenn ich in Ihre Zukunft blicken will, werde ich eiskalt, nicht etwa, weil mich die Größe zermalmt, nein, weil die Größe wohl zur Bewunderung fortreißt, aber es sehr selten verdient, geliebt zu werden.

Gestehen Sie ruhig, daß ich beinahe ebenso dumm wie närrisch bin! Ich bin noch schlimmeres als das. Ich gehöre zu dem Genre, das Voltaire das einzig üble heißt. Ich wage es zu nennen, obgleich ich es so durch und durch bin, daß ich's eigentlich gar nicht auszusprechen brauchte. Es ist das langweilige Genre.

Wollen Sie den Unterschied unseres beiderseitigen Zustandes wissen? Da haben Sie ihn: Sie weilen am Ende der Welt, Sie besitzen Seelenruhe genug, um an allem Genuß zu finden. Ich hingegen, ich sitze in Paris, ich leide und habe an nichts Freude. Das ist alles! Ich habe ins einzelne gehende Nachrichten [über den Marquis von Mora] erhalten; sie haben mich ein wenig beruhigt. Ich sehe ein, daß der letzte Anfall kein Anlaß zu Befürchtungen war. Aber sagen Sie selbst, ob es möglich ist, einen Augenblick zur Ruhe zu kommen, wenn man unaufhörlich für das Leben jemandes zittert, dem man das eigene jeden Augenblick zu opfern bereit wäre. Ach, wenn Sie wüßten, wie liebenswert er ist, wie würdig, geliebt zu werden! Seine Seele ist sanft, zärtlich und stark. Ich bin überzeugt: von allen Männern auf Erden würde er Ihnen am meisten gefallen und am besten zu Ihnen passen. Er ist voller Gemüt, voller Wärme.... [Hier fehlen 12 Zeilen!]

Meine Fehler? Sie werden sie mir vielleicht verzeihen, wenn Sie erfahren, daß Sie ihre Ursache sind, Sie und kein anderer. Das ist Ihr ganz besonderes Privilegium. Für alle meine übrigen Freunde bin ich das beste, gefügigste Geschöpf. Es dünkt mich, jene tun mir jeglichen Gefallen; sie sind in jeder Beziehung mir gegenüber zuvorkommend. Ich muß ihnen lebenslang dankbar sein und ihnen Lob zollen. Nur über Sie führe ich ewig Klage, wirklich nur über Sie. An Ihnen krittle, tadle ich in einemfort. Warum ist das so verschieden?

Können Sie glauben, daß wir uns erst seit einem Jahre kennen? Ich kann es nicht fassen.

Die Gründe, mir Ihren »Konnetabel« zu verweigern, sind nicht recht stichhaltig. Sie wissen, ich habe einen sicheren Abschreiber! Aber ich verzeihe Ihnen.


 << zurück weiter >>