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Sonnabend, den 1. Juli 1775.
Unruhe und Aufregung haben mir lange Zeit die Tätigkeit meiner Gedanken und meiner Gefühle unterbunden. Ich habe an mir erfahren, wie Rousseau das ausdrückt, daß es Lagen gibt, in denen man weder Worte noch Tränen hat. Acht Tage habe ich in Krämpfen und Verzweiflung hingebracht. Ich glaubte sterben zu müssen, ich wollte sterben; der Tod erschien mir freundlicher als der Verzicht auf meine Liebe zu Ihnen. Ich verbot mir Klagen und Vorwürfe. Es kam mir vor, als sei es kleinmütig und gewöhnlich, von meinem Unglück vor dem zu sprechen, der es mir absichtlich zugefügt hatte. Ihr Mitleid hätte mich gedemütigt, Ihre Teilnahmlosigkeit meine Seele empört. Kurzum, ich fühlte, zur Wahrung einer gewissen Haltung mußte ich schweigen und abwarten. Vielleicht war ich im Irrtume, aber ich hatte nun einmal den Glauben, daß Sie mir unter den obwaltenden Umständen etwelche Sorglichkeit schuldeten, und ohne große Zärtlichkeit oder großes Interesse in Ihnen vorauszusetzen, rechnete ich eben nur auf das, was Ihnen Ihre Ritterlichkeit und mein Elend gebieten mußten.
Ich wartete also. Und nach Verlauf von mehr denn zehn Tagen der Trennung erhielt ich aus Courcelles ein Briefchen, ein Meisterstück kühler Grausamkeit. Ich war entrüstet, mir graute vor Ihnen. Bald auch vor mir selber, als ich darüber nachzudenken begann, daß ich Ihretwegen, – verzeihen Sie mir das! – ja Ihretwegen bittere und unedle Gedanken gehegt und mich sündhaft an dem vergangen habe, der wie kein anderer der Liebe würdig war. Ich schauderte vor mir. Das Leben erschien mir nicht mehr erträglich; Haß und Reue zerfleischten mich, und in meiner Verzweiflung setzte, ich schon den Tag und die Stunde fest, in der ich mich der Bürde entledigen wollte, die mich zu Boden drückte. Ich blickte dem Tode fest in die Augen. Er sollte allem meinem Leid ein Ende machen. Meine Leidenschaft schlummerte ein. Dieser schreckliche Entschluß machte mich kalt und gefaßt. Ich gelobte mir, keinen Brief von Ihnen mehr zu öffnen. Ich wollte des einstigen Geliebten nicht mehr gedenken. Meine letzten Lebenstage sollten der andächtigen Verehrung jenes Anderen geweiht sein, den ich verloren habe. Und in der Tat, Sie wichen aus meiner Gedankenwelt.
Und doch, wenn mich zuweilen ein kurzer Schlaf beglückte, schreckte mich der Klang jener gräßlichen Worte auf: »Leben Sie! Leben Sie! Ich bin nicht wert, Sie in Leid zu versetzen!« – Nein, nein, rief ich laut auf, Sie waren es nicht wert, geliebt zu werden! Ich sollte mich nur sinnlos verlieben, um schuldig zu werden. Jetzt sehe ich Sie, wie Sie wirklich sind. Ich sehe, daß Sie um zwölftausend Franken Jahreszinsen eine gemeine Handlung begangen haben. Ich sehe, daß Sie mich skrupellos der Verzweiflung überlassen. Sie haben mich zum Lückenbüßer während der Zeit gemacht, in der Sie ein Verhältnis abbrechen mußten, das Ihren Heiratsplänen nicht dienlich war. Um Ihrem Verkehr mit Frau von Montsauge das Mäntelchen einer gewissen Ehrbarkeit umzuhängen, war es Ihnen ein Geringes, mich zu erniedrigen und mir meinen einzigen Besitz zu nehmen: die Achtung vor mir selber.
Einst haben Sie grausamerweise mich dem Leben erhalten und mich an Sie gefesselt. Offenbar, um mich erst recht dem Tode zu weihen. Ach, wie hart und bös kommen Sie mir vor! Wie leicht wäre es mir damals gefallen, mich von Ihnen zu trennen und auf das Dasein zu verzichten. Aber wozu sterben? fragte ich mich wieder zuweilen, wenn ich bei mir nachgrübelte und mich mitten unter Menschen sah, die mich liebten und mir Trost und Glück spenden wollten. Wozu soll ich in einem Manne den Glauben erwecken, daß ich ihn hasse und, ohne ihn zu lieben, nicht leben könne? Selbst durch meinen Tod vermöchte ich mich nicht, an ihm zu rächen, denn Reue ist ihm ebenso fremd wie Edelmut. Ich fühlte, wie meine Seele erstarkte und sich Ihnen abwandte.
In dieser Stimmung befand ich mich bei dem Eintreffen Ihres an Herrn von Vaines gerichteten Pakets. Das führte mich einer weicheren Regung zu. Ich mußte es öffnen, da es ja Ihre »Lobschrift auf Catinat« enthielt. Ich weiß nicht, war es Schwäche oder Ehrgefühl, aber ich redete mir ein, ich dürfe mich, obgleich ich Ihnen gar nichts mehr zu danken hatte, doch der Fürsorge in einer Angelegenheit nicht entziehen, in der Sie auf mich rechneten. Ich sagte mir, daß ich keinesfalls aus Gefühlsrücksichten untätig bleiben dürfe, wo Ihr mir bekundetes Vertrauen mir das Gegenteil zur Pflicht machte. So öffnete ich Ihr Paket also aus Moralität. Ich fand darin Ihren offenen Begleitbrief. Ich las ihn. Er war ritterlich, aber kühl. Er hätte gefühlvoll sein können; dann hätte ich vielleicht für meinen Entschluß Kämpfe zu bestehen gehabt. Um so besser: er bestärkte mich in meinem Vorsatze.
Ich nahm meine Agitation für Ihre Lobschrift wieder auf und hatte einen gewissen Genuß an der freudigen Geschäftigkeit, die ich dabei in mir spürte. Nicht Ihretwegen, auch nicht, weil das meiner Liebe wohl tat, noch weil es meinen Stolz befriedigte. Ich sagte mir: Ich habe doch genug Kraft, um dem gefällig zu sein und dem zu dienen, den ich hasse und der mir Böses angetan hat. Und ich werde das derartig zuwege bringen, – des bin ich sicher, – daß er mir nicht verpflichtet sein soll!
Dieser Gedanke machte mich mutig! Ich fühlte mich Ihnen gegenüber so stark, daß ich Ihren Brief von neuem las, und weit davon entfernt, daß meine Seele dabei weich ward, stählte er sie vielmehr, indem ich erkannte, wie wenig Sie Anteilnahme und Bedauern für mich an den Tag legten. Ich machte diese Beobachtung leidenschaftslos, ohne daß ich mich dabei gekränkt fühlte. Ich entnahm ihr lediglich den Beweis, daß ich den einzig vernünftigen und ehrenhaften Entschluß gefaßt hatte. Ich setzte, wie gesagt, meine Agitation zugunsten Ihrer Angelegenheit fort, und zwar mit so reger Geschäftigkeit, daß Condorcet glaubt, ich interessierte mich lebhafter denn je für Sie.
Ihr Briefchen aus Bordeaux habe ich empfangen. Ich war der Meinung, keinen besonderen Eindruck befürchten zu brauchen; im Gegenteil, ich war überzeugt, daß Sie mir nur erneuten Anlaß bieten würden, Ihnen immer fremder zu werden. Ich erbrach es immerhin begierig. Es war kurz, aber bei aller Gefühlsarmut atmete es doch eine schmerzliche Stimmung, die auf Ihr Ehrgefühl hindeutete. Ich ward nicht gerührt, aber ruhiger. Um so besser, wenn er Ehrgefühl hat! sagte ich bei mir. Je weniger er mir schuldig erscheint, um so geringer ist meine Schmach. Meine Seele hat kein Verlangen, ihn zu hassen; das war ihr eine Marter. Farblose Gefühle beruhigen mich, und eine gleichgültige Stimmung wird mich vielleicht in den Stand setzen, an den mir gebotenen Tröstungen eine Freude zu haben. Ich muß mich den Pflichten der Freundschaft widmen. Ich kann nun Leute empfangen, die ich sonst hätte abweisen müssen. Ich muß sie gewinnen, und diese Sorge wird mich von den Gedanken ablenken, die mein Gemüt so lange Zeit betrübt und bedrückt haben.
Diesen Überlegungen zufolge habe ich mir eine Lebensweise vorgeschrieben, der ich bis heute treu geblieben bin und die mir auch glückt. Ich führe ein sehr abwechselungsreiches Leben. Ich mache alles mit, was sich mir bietet. Ich bin dauernd von Leuten umgeben, die mich lieben und zu mir halten, nicht weil ich liebenswürdig wäre, sondern weil ich unglücklich bin. Sie tun mir die Ehre an, zu glauben, ich sei durch den erlittenen Verlust noch voll tiefsten Kummers. Sie freuen sich augenscheinlich darüber, daß ich mir Mühe gebe, zu überwinden. Sie danken mir meinen Mut, sie loben mich deshalb, sie kommen gern zu mir. Sie entführen mich sozusagen meinem Schmerze, indem Sie mich nicht einen Augenblick mir selber überlassen.
Ich sehe, das größte Gut, das einzige, ist, Liebe zu finden. Das allein ist der Trost eines wunden Herzens. Freilich, das fühle ich, nichts in der Welt vermag eine Liebe völlig auszulöschen, die so viele Jahre mein Alles war. Der Wille, mich von der Qual und der Reue zu befreien, deren Ursache Sie sind, dieser Wille wird mich nach Heilmitteln suchen lassen, die ich bisher verworfen habe. Kurzum, ich fühle es, ich hoffe es: ein klarer Wille, ein fester Wille hat mehr Macht, als ich geglaubt habe. Zwanzigmal habe ich früher bereits die Regung gespürt, mich von Ihnen loszusagen, aber nie war ich dabei ehrlich zu mir selber. Ich wollte wohl meines Leids ledig werden, aber ich habe keinmal nach einem Heilmittel gegriffen. Jetzt haben Sie mir wirklich ein unfehlbares dargereicht. Ihre Verheiratung, die mich tief in Ihre Seele hat sehen lassen, hat mein Herz zurückgedrängt und verschlossen auf immerdar. Es hat eine Zeit gegeben, wo es mir lieber war, Sie seien unglücklich als verächtlich. Diese Zeit ist vorbei.
O glauben Sie ja nicht, ich folgte Ihrem Ratschlag und nähme mir die Romanheldinnen der Frau Riccoboni zum Vorbild! Nein! Oberflächliche und lockere Frauen mögen sich in der Tat nach der Moral solcher Romane richten. Sie betrügen sich selber, sie halten sich für sanft und edel, wo sie doch nur kalt, gemein und verächtlich sind. Sie haben nie je geliebt; sie würden nie zu hassen wissen. Mit einem Worte, sie verstehen nur die galante Liebe; ihre Seele hat den Gipfel der Liebe und Leidenschaft nicht erreichen können. Und Frau Riccoboni selber hat sich niemals dazu aufschwingen können, nicht einmal in ihrer Phantasie.
Mein Gott, wie war ich verwundet, als Sie mein Unglück mit einer Romansituation verglichen! Wie kalt und unritterlich erschienen Sie mir da! Wie überlegen dünkte ich mich Ihnen, indem ich mich einer Leidenschaft fähig fühlte, die Sie nicht einmal abzuschätzen imstande waren!
Aber ich will diesen langen Brief beendigen. Er wird Ihnen Mittel an die Hand geben, meine Stimmung gesünder zu beurteilen. Ich habe Ihnen Rechenschaft abgelegt von allein, was ich durchgemacht habe. Ich habe dabei nur die Wahrheit sprechen lassen, die Wahrheit, die ich Ihnen gegenüber immer in Ehren gehalten habe. Und in der Folge dieser mir heiligen Wahrheit muß ich Ihnen auch sagen, daß ich weder Sehnsucht nach Ihrer Freundschaft habe, noch daß ich welche für Sie hege. Freundschaft kann ihren süßen Reiz nur dann haben, wenn Sie auf Achtung und Vertrauen gebaut ist. Daß mir dies beides aus Ihrem Gebaren und Ihrem Verhalten nicht erwachsen ist, das wissen Sie wohl selber.
Leben Sie wohl! Lassen Sie mir meine stolze Rache, die mir das Vergnügen bereitet, Ihnen zu sagen, daß ich Ihnen verzeihe.
Ich füge drei Briefe bei und bitte Sie, lesen Sie sie noch einmal. Das soll keine Anmaßung sein; ich will auch weder Bedauern noch neue Teilnahme in Ihnen erwecken. Nein, Sie sollen nur einmal vor all dem Leid schaudern, das Sie angerichtet haben. Möge Sie dieser Rückblick bessern!