Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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175.

Mittwochs nach Mitternacht. [Dezember 1775.]

Mein teurer Edmund, Sie wollen Neues von mir hören? Von mir? Wirklich von mir? Wollen Sie einer der Glücklichen sein, die, von einem starken und klaren Gefühle geleitet, all ihr Träumen und Trachten einem einzigen Gegenstande widmen? Ohne es mir anzumaßen und ohne es zu verdienen, müßte ich natürlich den Vorzug haben, denn es will mir scheinen, die Abschiedsstunde sei nahe. Die dem Tode Geweihten muß man lieben!

Lieber Freund, es sei dem wie es sei, Sie wünschen, daß ich Ihnen schreibe, und so schreibe ich Ihnen! Offengestanden ist das ein Gewaltakt. Ich bin todmatt, und zwar durch einen entsetzlich angreifenden Husten, der dreißig Stunden lang gedauert hat; dazu kommt die Wirkung von drei bis vier Gramm Opium. So viel davon macht einen ruhig, etwa so ruhig wie das Haupt der Meduse: regungslos, starr wie Stein. Alle Funktionen in mir setzen aus. Die Außenwelt erscheint mir wie Bilder einer Laterna magica; tatsächlich, heute nachmittag war ich zwei Stunden hindurch nicht fähig, die Namen zu den Gesichtern um mich herum zu finden. Das war ein ganz wunderlicher Zustand. Ich kam mir vor wie ein Gestorbener mitten im Leben. Ich erinnerte mich meiner Leiden, ich wußte, daß Sie mir dieses Weh angetan haben. Aber, lieber Freund, alles das fühlte ich in einer grenzenlosen Gutmütigkeit, einer viel größeren als die jenes braven Lämmchens, von dem ich Ihnen kürzlich erzählt habe. Ich wußte nicht mehr, daß es böse Menschen gibt, daß die guten dazu da sind, um zu dulden und sich zu opfern; noch weniger wußte ich, daß es anständige Menschen gibt, die diejenigen knechten und hinsterben lassen, von denen sie geliebt werden. Alles das hatte ich vergessen. Ist der Opiumrausch nicht viel schöner als der lichte Verstand?

Mein Lieber, ich fühle mich so abgespannt, meine körperlichen und geistigen Kräfte sind dermaßen erschöpft, daß es mich dünkt, mein Leben hänge nur noch an Ihrer Gegenwart. Ja, ich bin überzeugt: hätten Sie Ihre Reise um einen Monat verlängert, so wäre ich inzwischen gestorben. Warum sind Sie zurückgekehrt? Warum sind Sie nicht so gütig und mitleidig gewesen, diesem langsamen Zugrundegehen, diesem langwierigen Todeskampfe durch geschicktes Fernbleiben ein rasches Ende zu setzen?

Ach, mein teurer Edmund, kommen Sie nun wenigstens! Ich warte auf Sie, ich sehne mich nach Ihnen; meine Seele, meine Gedanken sind allerorts bei Ihnen und um Sie. Oft auch ist mein Herz ganz kalt, wenn die körperlichen Schmerzen mich überwältigen; möchte bei Ihnen weilen, aber sie sind stärker als ich und als Sie. Ach, das allerschrecklichste ist der Zerfall der körperlichen Maschine.

Mein Lieber, wann bekomme ich einen Brief von Ihnen? Wann erfahre ich Ihre Rückkehr? Sie werden mich im Bett finden.

Lieber Edmund, ich werde Ihnen nicht wie die reizende Frau Parangon [im » Paysan perverti«]Reden über Religion und Unsterblichkeit halten. Ich bin mit Ihrem Glauben zufrieden, deren Gott Sie selber sind. Ich erkenne ihn auch an, und so sind Sie mein Gott und Prophet.

Glauben Sie nicht, ich irrte mich! Sie haben mir meine Briefe nicht zurückgeschickt, ganz einfach, weil Sie gar nicht wissen, wo sie liegen. Welche Sorglosigkeit! Welcher Leichtsinn! Ich versichere Ihnen, in gewisser Hinsicht sind Sie jünger, als es Ihre Jahre angeben. Und in sechzig Jahren sind Sie darin immer noch ein Kind.

Gute Nacht und guten Morgen, mein Lieber, denn der Morgen dämmert schon.


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