Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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16.

Den 22. August 1773.

Gestern habe ich Ihren Brief vom 10. erhalten. Er hat mir viel Freude bereitet. Wenn Sie wüßten, was ich seit acht Tagen alles durchgemacht habe! Was für Leid mein Herz heimgesucht hat! Was für Stürme, was für Sorgen mein Leben aufzehren! Es von mir zu werfen, dazu habe ich die Freiheit verloren; das ist schrecklich: und er, den ich liebe, hat nicht die Macht, mir zu helfen. Er fühlt meine Schmerzen und leidet daran. Er ist noch unglücklicher als ich, weil er seelisch stärker ist, mehr Spannkraft und Feingefühl besitzt. Seit einem Jahre ist kein Augenblick seines Daseins ohne Leid gewesen. Er wird daran sterben, und er will, daß ich lebe.

O mein Gott, meine Seele hat keinen Raum mehr für meine Gefühle und Schmerzen! Sehen Sie, wie schwach ich bin. So indiskret und egoistisch macht das Unglück! Ich beschäftige mich mit mir, ich betrübe Sie vielleicht. Ach, verzeihen Sie mir das! Mein übermäßiges Vertrauen entquillt meiner Freundschaft, meiner innigen Freundschaft für Sie. Sie haben mir schon so viel Gutes angetan, daß es mir vorkommt, als dürfte ich Ihre Güte und Nachsicht nicht länger mißbrauchen. Aber bei Gott, wenn Sie litten, niemand würde Ihr Leid so fühlen und teilen wie ich! Sie schauen mir ins Herz und Sie sehen, es gehört Ihnen. Im tiefsten Unglück, wenn ich um den Tod bettle, werde ich Ihrer noch schmerzlich gedenken. Sie sind mein Trost, und doch unterliege ich der Wucht meiner Leiden. Nein, nein, nicht meiner Leiden. Die Leiden meines Freundes zerfleischen mich, für die ich keine Arznei, keinen Trost habe. Das ist die Todesmarter einer Seele voller Sehnsucht und Selbstverleugnung. Sie haben die Liebe erfahren, darum werden Sie mich verstehen und beklagen.

Man klammert sich gierig an Dinge, von denen man Linderung erhofft. Auf Ihre Mitteilung an d'Alembert hin rechnete ich fest darauf, Sie gegen Ende September wiederzusehen, und nun werden Sie erst Ende Oktober hier sein. Wird das wenigstens so kommen? Ach, wer weiß, ob ich so weit hinaus Hoffnungen hegen darf. Vielleicht spreche ich heute zum letzten Male mit Ihnen. Begreifen Sie meinen Zustand? Ich wage mich weder Plänen noch Hoffnungen hinzugeben. Ach, ich habe viel durch die Bosheit und die Ungerechtigkeit der Menschen gelitten. Man hat mich zur Verzweiflung gebracht. Aber ich lege hier das Geständnis nieder, es gibt kein Unglück, das den Vergleich mit einer tiefen und unglücklichen Liebe aushielte; sie hat zehn martervolle Jahre völlig ausgelöscht.

Mich dünkt jetzt, als lebte ich erst, seitdem ich liebe. Alles, was mich bis dahin ergriff und mir Leiden brachte, ist vernichtet; und doch werden mir von ruhigen und vernünftigen Leuten Schmerzen zugetraut, die ich nicht mehr fühle. Leidenschaften seien künstliches Unglück, sagen sie. O Gott, jawohl, weil sie nichts lieben, weil sie nur in Eigennutz und Ehrgeiz leben, und ich nur in Liebe!

Ich passe nicht mehr in das Tun und Treiben der Gesellschaft. Ich bin unfähig, auch nur eine ihrer Pflichten zu erfüllen. Ich bin der konventionellen Tugend bar, aber zum Glück bin ich frei, bin unabhängig, und wenn ich mich ganz dem Drange meines Herzens überlasse, so fühle ich nicht im geringsten Reue, weil ich sie niemandem schuldig bin.

Sehen Sie nun, wie wenig Sie sich eigentlich aus mir machen sollten. Ich werfe mir oft die Güte und die Achtung vor, die man mir bezeigt. Ich maße mir in der Gesellschaft viel an. Man beurteilt mich allzu günstig, weil man mich gar nicht kennt. Andererseits ist es auch wahr, daß ich so vielfach das Opfer der Verleumdung und Bosheit meiner Feinde gewesen bin, daß es gewissermaßen eine Entschädigung ist, die ich jetzt empfange ....

Ich bin durch den Chevalier von Chastelux unterbrochen worden, der, ohne sich anmelden zu lassen, in mein Zimmer trat. Ich glaubte, er sei noch in Ferney. Ich habe ihm meine Freude über seine Rückkehr geäußert, aber im Herzen fühlte ich nichts davon. Er hat mir keinen Augenblick mein Leid verscheucht; ich dachte immer nur daran, daß er mich abhielt, Ihnen zu schreiben. Und doch ist er sozusagen ein Freund von mir. Ich interessiere mich in der Tat für ihn, aber zu meines Wohlgefühles Glücke vermag er nichts beizutragen. Du lieber Gott, vielleicht ist mein Herz dafür überhaupt nicht geschaffen. Wenn das der Fall wäre, was hat dann mein Leben für einen Zweck? Ich lasse Ihnen die Entscheidung hierüber! Eilen Sie! Und doch habe ich Angst vor Ihrem Kommen.

Gott, wenn meine Seele dann auch kalt bliebe, wäre ich trostlos! Und Sie, würde es Sie rühren? Würden Sie gütig genug sein, mich zu bedauern? Doch im Augenblicke, wo Sie vor mich treten, werden Sie zweifellos noch ganz im Banne dessen sein, was Sie fühlten, als Sie die wiedersahen, die Sie lieben. Dann werden Sie weiter von mir entfernt sein als jetzt in Breslau. Geben Sie es zu? Mein Gott, mit Recht. Aber wenn Sie dann wieder ruhig sind, dann kommen Sie zu mir. Ich werde glücklich sein, und wie glücklich! Ich bin nicht bloß zufrieden mit dem, was Sie mir gewähren; ich habe das lebhafteste Bewußtsein davon. Auf eine Frage kann ich mir keine Antwort geben. Sagen Sie: Wer von uns beiden ist bei dem anderen in Schuld? Wenn man auf die Umstände Rücksicht nimmt, so vermute ich fast, daß ich etwas gut habe. Was meinen Sie dazu? Das Unglück befähigt weit mehr zur Freundschaft und zu zärtlichen Gefühlen als das Leben, das Sie führen. Und abgesehen davon, sind Sie nicht auch tausendmal liebenswerter und würdiger, geliebt zu werden?

Aber kommen Sie nur! Es gibt Tage, Stunden, wo meine Seele so abgestumpft ist, daß ich fürchte, Sie nicht genug zu lieben.

Dulden Sie, daß ich Ihnen einen Vorwurf mache! Ich vermisse das freundschaftliche Vertrauen. Sie erzählen mir nichts mehr von sich. Warum? Ich weiß wohl, ich habe Sie einmal ungerecht behandelt. Soll das die Strafe dafür sein? Wenn Sie mich lieben, müssen Sie mir doch etwas zu sagen haben! Sie leiden, Sie hoffen, Sie genießen. Warum schreiben Sie mir nichts von alledem? Sie berichten mir so wenig von sich, daß Ihre Briefe ebenso an irgendwelche beliebige Dame Ihrer Bekanntschaft gerichtet sein könnten. Von meinen Briefen kann man das nicht sagen. Sie gelten nur einem. Habe ich unrecht? Sagen Sie! Ist ein gleiches Vertrauen auf beiden Seiten eine übertriebene Forderung?

Dies ist der vierte Brief, dessen Empfang Sie mir noch zu bestätigen haben. Vergessen Sie es ja nicht!

Ich glaube, daß es eine Torheit war, Ihnen nach Breslau zu schreiben. Sie werden gar nicht an die Post gedacht haben, und mein Brief wird dort liegen geblieben sein. Aber verbrennen Sie auch alle meine Briefe? Als Sie noch hier waren, habe ich einmal beobachtet, daß Ihnen ganze Stöße von Briefen entfallen, die Sie in den Taschen mit sich tragen. Diese Unordnung in Ihren Papieren verschüchtert mein Zutrauen, und doch vermag ich es nicht zu zügeln. Leben Sie wohl! Meine Brust tut mir weh. Ist Ihr Fuß wieder geheilt? Schreiben Sie!


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