Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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153.

Donnerstag, den 26. Oktober 1775, mitternachts.

Wir haben kaum erst zusammen geplaudert, aber doch haben Sie inzwischen Zeit gehabt, zu verschnaufen. Für mich ist das etwas Unmögliches.

Sie haben mir gar nichts mehr von der bewußten Angelegenheit erzählt. Was soll das heißen? Ist sie erledigt, so wie Sie sich's wünschten? Haben Sie ebenso viel Eifer daran verwandt wie der Marschall von Duras Leichtfertigkeit? Ja, ja, es geht nichts über treffliche Unterhändler!

Herr von Vaines schwärmt von Ihnen, in ehrlichster Weise. Aus seinem Lob spricht seine Gesinnung. Ich sage Ihnen das, um Ihnen zu beweisen, daß er damals nichts übel genommen hat, als Sie mit ihm über mich sprachen. Übrigens, jetzt würde ich es übel nehmen, wenn Sie ihn noch einmal in dieser Sache angingen. Lieber Freund, das erste Gebot der Freundschaft lautet: Diene dem Freunde nur so, wie er gedient haben will! Und wäre es der verschrobenste Kauz unter der Sonne, man muß das Feingefühl haben, sich seinem Willen, seiner Eigenheit anpassen zu können. Meine Eigenart oder Unart – wie Sie wollen – ist es nun, niemandes Dienst anzunehmen. Mir genügt der gute Wille, wo andere auf Taten rechnen. Lassen Sie also Ihre Betätigung! Widmen Sie sich anderen Dingen, denn, ich wiederhole es Ihnen nochmals, Sie würden mich beleidigen, wenn Sie sich je wieder mit dieser Angelegenheit beschäftigten. Denken Sie nur daran, daß ich nicht arm geblieben wäre, wenn ich es nicht gewollt hätte. Somit dürfen Sie meine Armut nicht als der Übel größtes für mich ansehen. Mein Lieber, glauben Sie mir, ich spreche immer die Wahrheit, und ich weiß wohl, was ich will.

Sie haben mir auch gar nichts vom Theater erzählt. Sie sagen mir kein Wort von dem, was Sie tun. Sie haben so gar kein Bedürfnis, mit mir zu plaudern. Sie haben weiter kein Bedürfnis, als überall dabei zu sein und alles zu sehen. Ich wünschte, der liebe Gott verliehe Ihnen etwas von seiner Allgegenwart. Mich würde eine derartige Eigenschaft todunglücklich machen. Ich sehne mich vielmehr nach dem Nirwana. Mein Gott, ich möchte den Glauben haben wie Frau von Muy, Sie ist überzeugt, daß sie ihren verstorbenen Gatten dereinst wiedersehen wird. Welch ein Trost für ein unglückliches Herz!

Es ist vier Jahre her, da bekam ich regelmäßig jeden Tag zwei Briefe aus Fontainebleau. Die Abwesenheit [Moras] währte zehn Tage, und ich erhielt zweiundzwanzig Briefe. Und warum so viele? Weil er inmitten aller Hoffestlichkeiten, obgleich er in der allgemeinen Gunst stand und der Liebling der schönsten Frauen war, nur einen Gedanken, nur eine Freude hegte: mein Dasein zu durchsonnen! Und wahrlich, ich erinnere mich, in jenen zehn Tagen bin ich nicht ein einziges Mal ausgegangen. Ich wartete auf Briefe oder schrieb welche. Ach, diese Erinnerungen morden mich! Und doch möchte ich alles das noch einmal erleben, unter noch grausameren Bedingungen, nämlich denen: Sie nie kennen gelernt zu haben und am 2. Juni 1774 an Gift gestorben zu sein! Was für Leid bliebe mir dann erspart! Ich leide unerträglich.

Was ist die Welt? Der Strudel der Gesellschaft? Eine ewige Komödie. Die einen spielen sie, die anderen dichten sie. Endlose Auftritte voll sentimentaler Tränen, voll Pein und Leid von früh bis abends. Auf der einen Seite jammernde Eigenliebe, auf der andern schrankenlose Eitelkeit.

Ach, in der ganzen Welt gibt es kein Glück!

Leben Sie wohl! Ich liebe Sie überall, wo ich bin, aber nicht überall, wo Sie sind.


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