Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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49.

Sonnabend, den 27. August 1774, abends.

Mein lieber Freund, ich habe keine Nachrichten von Ihnen. Hundertmal sage ich mir, er wird zu spät angekommen sein, er wird nicht daran denken, welchen Wert eine einzige Stunde für mich hat. Das macht nun einen Unterschied von vier Tagen aus, und ich bin jetzt auf den Mittwoch zurückgesetzt.

Ach, ich hatte mich so fest auf meine Hoffnung verlassen. Aber umsonst. Der Briefbote ist gekommen; er hat drei Briefe gebracht, die ich nicht lesen konnte, weil der von Ihnen fehlte. Mein Gott, Sie sind nicht glücklich oder nicht unglücklich genug, um Gleiches zu empfinden!

Mein lieber Freund, wenn ich am Mittwoch keine Nachricht von Ihnen erhalte, schreibe ich Ihnen nicht mehr. Sie sind schon einmal schuldig gewesen; zweimal. Es wird noch tausendmal so sein, aber ich erkläre Ihnen, daß ich es Ihnen nicht verzeihe, Sie aber deswegen nicht weniger lieben werde. Sie sehen, ich schreibe Ihnen Unsinn. Die Logik des Herzens ist ungereimt. Aber, um des Himmels willen, tun Sie nichts, daß ich je logischer philosophiere.

Sie sollten jetzt hier sein! Der Freudenrausch ist allgemein. Welch ein Unterschied zwischen meiner Stimmung und der rings um mich! Alles jubelt und ist voll guter Erwartung, und ich lebe einzig in der unglücklichen Vergangenheit, von der wir befreit sind. Zur Freude kann sich meine Seele nicht aufraffen, sie ist erfüllt von Leid und schmerzlichen Erinnerungen. Sie wird beherrscht von einem Gefühle, das ihr viel Unruhe und zuweilen heftige Wallungen schafft, ganz selten aber eine Freude verheißt. In diesem Zustande kann man einen Jubel der Allgemeinheit nur mit dem Verstande, nur in der Reflexion nachempfinden. Und Freuden des Verstandes sind sehr mäßiger Art.

Meine Freunde sind unzufrieden, daß sie mich nicht in diesen Freudenrausch hineinzuziehen vermögen. Es tut mir selbst leid, sage ich zu ihnen, aber ich habe keine Kraft zur Fröhlichkeit. Gleichwohl befriedigt es mich, daß Turgot bereits einen Schurken um die Ecke gebracht hat, den Hauptübeltäter in der Getreideangelegenheit, den Herrn von Saint-Prix. Er hat sich ein protziges Haus erbaut, mit dessen Steinen er es verdiente, gesteinigt zu werden. Am Sankt-Ludwigs-Tage haben die Marktweiber dem Könige folgenden Glückwunsch gesandt: »Eure Majestät beglückwünschen wir zu der gestrigen Jagd, Euer Großvater hat niemals eine glänzendere abgehalten.«

Graf Crillon, der in Montigny ist, hat mir einen patriotischen Hymnus, drei überschwengliche Seiten, geschrieben. Alle sind glücklich, die Hoffnung erhält sie jung. Ach, wie ist man alt, wenn man die verloren hat oder einem gerade nur so viel davon übrig bleibt, um der Verzweiflung zu entrinnen!

Schreiben Sie mir doch, ob Sie viel Verse machen, ob Sie sich das »Eile mit Weile!« angewöhnt haben, ob Sie sich zu dem Beispiele Racines bekehren, der seine Verse langsam dichtete. Lieber Freund, ich empfehle Ihnen, alle Morgen eine Szene seiner göttlichen Musik zu lesen und immer wieder zu lesen, dann spazieren zu gehen und selber zu dichten. Die Natur hat Ihren Verstand so reich befähigt und Sie mit so viel Gefühlskraft begnadet, daß ich fest glaube, Sie könnten ein großer Dichter werden.

Aber was lasse ich mir da einfallen? Ich gebe Ratschläge und wem? Einem Manne, der meinen Geschmack sehr gering schätzt, der mich für ein dummes Ding hält.

Adieu, lieber Freund. Wenn Sie mich liebten, wäre ich nicht so bescheiden. Dann würde ich glauben, nichts aus der Welt beneiden zu brauchen.

Ich habe Ihnen gestern einen Riesenbrief nach Bordeaux geschrieben. Dieses Wort ist mir gräßlich; es rührt an die empfindlichste und schmerzhafteste Saite meines Herzens.

Leben Sie wohl, leben Sie wohl!


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