Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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112.

Montags elf Uhr. [Mai 1775.]

Mein lieber Freund, was haben Sie mir angetan? Ich bin so tieftraurig, so unglücklich, so niedergedrückt von der Last des Lebens. An diesem schmerzlichen Zustande sind Sie schuld. Die Furcht, in die Sie mich versetzt, das Mißtrauen, das Sie in mir erregt haben, diese beiden Seelenqualen martern mich unaufhörlich.

Das ist eine Pein, die allein schon genügen müßte, mich auf Ihre Liebe verzichten zu lassen oder vielmehr auf Ihre vorgebliche Liebe. Ich weiß nicht, was für ein Vergnügen Sie daran haben, mein Herz zu quälen. Nie bemühen Sie sich, mich ruhig zu machen, und selbst Ihren ehrlichsten Worten haftet der Klang der Lüge an.

Mein Gott, wie weh tut mir das Herz! Wie leidenschaftlich sehne ich mich darnach, von diesem Zustande befreit zu sein, gleichviel durch welches Mittel! Wenn Sie nur schon verheiratet wären! Ich warte darauf – wie eine Kranke, die sich einer Operation unterziehen muß und nur an die Heilung denkt und das gewaltsame Heilmittel ganz übersieht.

Ich wollte Ihnen nur mitteilen, heute nicht zu kommen. Das wird vermutlich auch gar nicht Ihre Absicht gewesen sein. Abends bin ich bei Bertin. Ich gehe in den »Orpheus«, und zwischen Oper und Abendessen will ich Frau von Châtillon aufsuchen, die immer noch krank ist. Morgen wollen Sie nicht bei mir zu Tisch sein; zweimal in einer Woche, haben Sie gesagt, sei zu viel. Und am Mittwoch? Dieselbe Ausrede? Nun, tun Sie, was Ihnen beliebt. Ich werde mich so gut wie möglich darein zu schicken wissen.

Lassen Sie sich's gut gehen!

Montags, nach Empfang Ihres Briefes.

Wollen Sie mich durch ein süßes Gift neubeleben? Aber ist es denn eine Wohltat, wenn man ein bißchen Wonne und Glück geschenkt bekommt und keine Zeit mehr hat, es zu genießen? Wie grausam sind Sie gewesen? Sie haben mich ans Leben gekettet und wußten doch, daß ich so bald darauf nicht mehr für Sie leben sollte. Aber ich darf Ihnen keine Vorwürfe machen.

Sie überhäufen mich mit Lobsprüchen, und ich verdiene keine. Man soll mich nicht loben, man soll mich beklagen, daß mich ein Gefühl beseelt, stark genug, um Steine lebendig zu machen. Ich kann von meinem Geliebten nicht in kalten Wortes sprechen. Sein Glück und sein Ruhm liegen mir so am Herzen wie er selber.

Sie tun mir weh, wenn Sie mich loben. Glauben Sie, Sie vermöchten meine Seele zu trösten, wenn Sie meiner Eitelkeit schmeicheln? Ach, wenn Sie wüßten, daß es nichts auf der weiten Welt gibt, das mir Entschädigung oder Ersatz dafür gewähren kann, was ich mir bangend ersehne.

Sie verstehen mich, denn mein Herz ist Ihnen offen. Sie sehen seinen Inhalt, die belebenden Elemente und die Verzweiflung darin.

Leben Sie wohl, mein Lieber. Ihr Brief war sehr lieb; er hilft mir über diesen langen Tag hinweg.


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