Ernst Jaedicke
Deutsche Sagen
Ernst Jaedicke

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die weiße Frau in dem Schlosse zu Berlin

(Nach W. Schwartz)

In dem Schlosse zu Berlin ließ sich öfter, wie es hieß, eine weiße Frau sehen. Gewöhnlich läßt die Sage das Gespenst in einem weißen Gewande und einer gleichen Haube mit hinten zurückgeschlagenem langen Witwenschleier erscheinen. So wandelt sie des Nachts zuzeiten durch die Gänge langsamen, ernsten Schrittes; wer ihr begegnet und sie grüßt, dem dankt sie durch Neigen ihres Hauptes, spricht aber nie ein Wort.

Stehen Festlichkeiten bevor, dann hört man überall das geheimnisvolle Walten der weißen Frau. Türen springen auf und fallen wieder zu, Schlösser rasseln, und was des Geräusches mehr ist. Ist der Lärm vorüber, so strahlt alles in doppeltem Glänze zum Empfang der Gäste. Sind diese wieder fort, so wiederholt sich das Spiel, und so spät es auch in der Nacht geworden, des anderen Morgens ist alles wieder in Ordnung und an Ort und Stelle, ohne daß eine Menschenhand daran gerührt.

Auch sonst sieht die weiße Frau angeblich nach dem Rechten. Ist die Dienerschaft lässig oder verabsäumt ihre Pflicht oder führt gotteslästerliche Reden, oder reizt jemand sie im Übermut, dann macht sich ihr Zorn durch Schläge, Steinwürfe und Schrecknisse aller Art bemerkbar.

Besonders beweist sie aber ihre Teilnahme an allem, was die einzelnen Familienmitglieder betrifft. Oft, wenn z. B. die Wartefrauen bei den fürstlichen Kindern eingeschlafen waren und plötzlich aufwachten, dann sahen sie die weiße Frau über die Wiege gebeugt stehen oder das Kind auf ihren Armen umhertragen und warten. Wenn ihr plötzliches Erscheinen, wie zuzeiten, einen Todesfall verkündete, dann trug sie meist an beiden Händen schwarze Handschuhe.

Manche meinen, das Gespenst stamme aus Franken und sei mit den Hohenzollern erst hier eingezogen. Es sei eine Gräfin von Orlamünde, die auf der Plassenburg saß und von leidenschaftlicher Liebe zu Albrecht dem Schönen, einem Burggrafen von Nürnberg aus dem Hause Hohenzollern, entbrannt gewesen. Sie war nämlich verwitwet und hatte zwei Kinder. Da wurde ihr eine Rede Albrechts des Schönen hinterbracht, daß er sie wohl heiraten würde, wenn nicht vier Augen wären.

Die Gräfin glaubte, er meinte damit ihre zwei Kinder; sie ständen der neuen Ehe im Weg. »Da trug sie,« wie die alten Chroniken sagen, »blind von ihrer Leidenschaft, einem Dienstmanne, Hayder oder Hager genannt, auf und gewann ihn mit reichen Gaben, daß er die beiden Kindlein umbringen möchte.« Der ging auch hin, die Tat zu vollführen; da sollen die Kinder ihm geschmeichelt und ihn ängstlich gebeten haben:

»Lieber Hayder, laß mich leben,
Ich will dir Orlamünden geben,
Auch Plassenburg des neuen,
Es soll dich nicht gereuen.«

So sprach das Knäblein; das Töchterlein aber:

»Lieber Hayder, laß mich leben,
Ich will dir alle meine Docken (Puppen) geben!«

Aber der Mörder wurde hierdurch nicht gerührt. Später, als er noch andere Bubenstücke ausgerichtet hatte und gefangen auf der Folter lag, bekannte er: »So sehr ihn der Mord des jungen Herrn reue, der in seinem Anbieten doch schon gewußt habe, daß er Herrschaften auszuteilen gehabt, so gereut ihn noch hundertmal mehr, wenn er der unschuldigen Kinderworte des Mägdleins gedenke.«

Nach anderer Sage hat die Gräfin die Kinder selbst getötet. Der Burggraf hatte aber unter den vier Augen die seiner Eltern gemeint und heiratete hernach die Gräfin dennoch nicht, diese soll später fürchterliche Buße getan haben, und ihr Geist soll seit ihrem Tode umgehen, um so den Rest ihrer Schuld abzubüßen.


 << zurück weiter >>