Ernst Jaedicke
Deutsche Sagen
Ernst Jaedicke

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Vineta

(A. Haas)

An der Nordküste der Insel Usedom soll vor vielen, vielen Jahren eine große, reiche Handelsstadt mit Namen Vineta oder Venedig gelegen haben. Gewöhnlich wird erzählt, sie habe seewärts vor dem Streckelberg, und zwar an der Stelle gelegen, wo sich jetzt das sogenannte Vinetariff befindet. Die Stadt Vineta soll zur Zeit ihrer Blüte so reich und schön gewesen sein, daß sie im ganzen Küstengebiet der Ost- und Nordsee nicht ihresgleichen hatte. Die Häuser, in welchen die Leute wohnten, glichen kleinen Palästen: sie waren aus Marmor erbaut und mit vergoldeten Zinnen geschmückt. In dem Hafen befanden sich Hunderte von Schiffen, welche bis nach Archangel und Konstantinopel fuhren. Auch weilten viele fremde Kaufleute in der Stadt, um hier Waren zu kaufen oder zu verkaufen. Aber je reicher und wohlhabender die Einwohner von Vineta wurden, desto mehr fanden Stolz, Übermut, Gottlosigkeit und allerlei unheiliges Wesen bei ihnen Eingang. Zu den Mahlzeiten nahmen sie nur die auserlesensten Speisen, und den Wein tranken sie aus silbernen und goldenen Gefäßen, wie sie selbst in den Gotteshäusern nicht schöner und prächtiger zu finden waren. Die Hufe der Pferde waren statt mit Eisen vielmehr mit Silber oder gar mit Gold beschlagen. Das Brot, die herrliche Gottesgabe, mißbrauchten die Frauen in schamloser Weise, indem sie die kleinen Kinder damit reinigten. Und wie die Großen, so trieben es auch die Kleinen. Die Kügelchen, mit welchen die Kinder auf der Straße spielten, bestanden aus reinem Silber, und wenn sie über eine Wasserfläche »Butterbrot werfen« wollten, so benutzten sie dazu nichts anderes als blanke Taler.

Aber solcher Übermut sollte nicht ungestraft bleiben. In einer stürmischen Novembernacht brach das göttliche Strafgericht unvermutet über die Stadt und ihre gottlosen Bewohner herein: eine furchtbare Sturmflut wälzte ihre Wogen über die Stadt und über das Land hinweg und begrub alle Häuser und alle Menschen unter ihren Fluten; kein einziger Bewohner von Vineta entrann dem Verderben. So wurde die reiche Stadt mit all ihrer Pracht und Herrlichkeit in wenigen Stunden vernichtet.

Die Trümmer der ehemaligen Stadt ruhen noch heutigen Tages auf dem Grunde des Meeres, und wenn man bei stillem, ruhigem Wetter und bei klarem Wasser über die Stätte der untergegangenen Stadt hinwegfährt, so kann man die Fundamente der Häuser, die Straßenzüge und noch viele andere Reste der einstigen Stadt in der Tiefe wahrnehmen. Einmal im Jahre wird die auf dem Meeresgrunde ruhende Stadt auch über der Oberfläche des Wassers sichtbar, indem sie sich wie ein Schatten- oder Nebelbild mit unbestimmten Umrissen zeigt; die Leute in den umliegenden Dörfern sagen: Vineta wafelt! An welchem Tage diese Erscheinung zu sehen ist, wird verschieden angegeben: Die einen sagen, es wäre am Johannistage; die andern meinen, Vineta zeige sich an demselben Jahrestage, an welchem es einst untergegangen sei, und das sei eben derselbe Tag, an welchem auch Cuxhaven durch eine Sturmflut zerstört worden sei.

Am Johannistage, mittags zwischen 11 und 12 Uhr, sollen auch die Glocken der versunkenen Stadt aus der Tiefe des Meeres heraufklingen, und manch einer will ihre Klänge schon vernommen haben. Das ist allerdings nicht ganz ungefährlich. Denn man sagt, daß der, der die Glocken von Vineta gehört hat, mit unwiderstehlicher Gewalt von der Meerestiefe angelockt wird, bis er selbst da unten ruht.


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