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Zerfall der Werte (10)
Epilog

Es war alles gut.

Und Huguenau, ausgestattet mit einem richtigen Militärfahrschein, war kostenlos in seine colmarsche Heimat zurückgekehrt.

Hat er einen Mord begangen? hat er einen revolutionären Akt vollführt? er brauchte darüber nicht nachzudenken und er tat es auch nicht. Hätte er es aber getan, er hätte bloß sagen können, daß seine Handlungsweise vernünftig gewesen war und daß jeder der Honoratioren des Ortes, zu denen er sich schließlich mit Fug zählen durfte, nicht anders gehandelt hätte. Denn fest stand die Grenze zwischen Vernünftigem und Unvernünftigem, zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit, und Huguenau hätte höchstens zugegeben, daß er in weniger kriegerischen oder weniger revolutionären Zeitläuften die Tat unterlassen hätte, was aber schade gewesen wäre. Und besinnlich hätte er wohl hinzugesetzt: »Alles zu seiner Zeit.« Doch dazu kam es nicht, weil er eben niemals jener Tat gedachte und auch niemals mehr ihrer gedenken wird.

Huguenau gedachte nicht jener Tat und noch viel weniger wurde ihm die Irrationalität bewußt, von der seine Handlungsweise erfüllt gewesen war, so sehr erfüllt war, daß man geradezu von einem Durchbruch des Irrationalen hätte sprechen können; nie weiß der Mensch etwas von der Irrationalität, die das Wesen seines schweigenden Tuns ausmacht, nichts weiß er von dem »Einbruch von unten«, dem er ausgesetzt ist, er kann davon nichts wissen, da er in jedem Augenblick seines Lebens sich innerhalb eines Wertsystems befindet, dieses Wertsystem aber keinem anderen Zwecke dient, als all das Irrationale zu verdecken und zu bändigen, von dem das erdgebundene empirische Leben getragen wird: nicht nur das Bewußtsein, auch das Irrationale ist, kantisch gesprochen, ein Vehikel, das alle Kategorien begleitet, – es ist das Absolute des Lebens, das mit all seinen Trieben, Wollungen, Emotionen neben dem Absoluten des Denkens dahinläuft, und nicht nur das Wertsystem selber ist getragen vom spontanen Akt der Wertsetzung, der ein irrationaler Akt ist, sondern auch das Weltgefühl, das hinter jedem Wertsystem steht, ist sowohl in seinem Ursprung als in seinem Sein jeder rationalen Evidenz entrückt. Und der gewaltige Apparat der erkenntnismäßigen Plausibilisierung, welcher um die Sachverhalte herum errichtet ist, hat die gleiche Funktion wie jener nicht minder gewaltige der ethischen Plausibilisierung, in welchem sich die menschliche Handlung bewegt, Brücken des Vernünftigen, die sich spannen und überspannen, sie dienen einzig dem Zweck, das irdische Dasein aus seiner unentrinnbaren Irrationalität, aus seiner »Bösheit« zu höherem »vernünftigem« Sinn und zu jenem eigentlich metaphysischen Wert zu führen, in dessen deduktiver Struktur es dem Menschen ermöglicht wird, der Welt und den Dingen und den eigenen Handlungen die gebührende Stelle anzuweisen, sich selbst aber wiederzufinden, auf daß sein Blick unbeirrbar und unverloren bleibe. Kein Wunder, daß unter solchen Umständen Huguenau von seiner eigenen Irrationalität nichts wußte.

Jedes Wertsystem geht aus irrationalen Strebungen hervor, und die irrationale, ethisch ungültige, Welterfassung ins absolut Rationale umzuformen, diese eigentliche und radikale Aufgabe der »Formung«, wird für jedes überpersönliche Wertsystem zum ethischen Ziel. Und jedes Wertsystem scheitert an dieser Aufgabe. Denn die Methode des Rationalen ist immer nur die der Annäherung, sie ist eine Einkreisungsmethode, die in zwar stets kleinerem Bogen das Irrationale zu erreichen trachtet, doch nie es erreicht, gleichgültig ob es als Irrationalität des inneren Gefühls, ob es in der Unbewußtheit dieses Lebens und Erlebens oder ob es als Irrationalität der Weltgegebenheiten und der unendlich vielfältigen Weltgestalt auftritt, – das Rationale vermag bloß zu atomisieren. Und wenn das Volk sagt: »Ein Mensch ohne Gefühl ist kein Mensch«, so steckt darin etwas von der Erkenntnis, daß es einen unauflösbaren irrationalen Rest gibt, ohne den kein Wertsystem bestehen kann und kraft dessen das Rationale vor einer wahrhaft verderbenbringenden Autonomie, vor einer »Über-Rationalität« bewahrt bleibt, die, vom System aus gesehen, ethisch womöglich noch verwerflicher, noch »böser«, noch »sündiger« ist als das Irrationale: es ist die reine, die dialektische und deduktive, die autonom gewordene Ratio, die im Gegensatz zum formbaren Irrationalen keine Formung mehr zuläßt und die, in ihrer Starrheit die eigene Logizität aufhebend, an die logische Unendlichkeitsgrenze stößt, – die autonom gewordene Vernunft ist radikal böse, sie hebt die Logizität des Systems und damit dieses selber auf; sie leitet seinen Zerfall und seine endgültige Zersplitterung ein.

Für jedes Wertsystem gibt es eine Wegstrecke, in welcher die gegenseitige Durchdringung von Rationalem und Irrationalem ihr Maximum erreicht, gibt es einen saturierten Gleichgewichtszustand, in welchem die beidseitige Bösheit unwirksam, unsichtbar, unschädlich wird, – Zeiten des Höhepunkts und des vollkommenen Stils! denn fast könnte der Stil einer Epoche in dieser gegenseitigen Durchdringung definiert werden: durch wieviel Poren das Rationale auch ins Leben dringe, es ist dem Leben und dem zentralen Wertwillen untertan, wenn die Zeit des Höhepunkts erreicht ist, und in wieviel Adern des Systems das Irrationale auch fließen mag, es ist sozusagen kanalisiert, es ist auch noch in seinen feinsten Verästelungen zum Dienst und zum Antrieb des zentralen Wertwillens bestellt, – das Irrationale an sich und das Rationale an sich, sie sind beide stillos, richtiger, sie sind stilfrei, jenes in der Stilfreiheit der Natur, dieses in der Stilfreiheit der Mathematik, aber in ihrer Vereinigung, in ihrer gegenseitigen Bändigung, in solch gebändigt rationalem Leben des Irrationalen ergibt sich jenes Phänomen, das als der eigentliche Stil eines Wertsystems bezeichnet werden darf.

Doch dieser Gleichgewichtszustand ist kein dauernder, er ist immer nur Durchgangsstadium; die Logik der Tatsachen treibt das Rationale ins Überrationale, sie treibt das Überrationale an seine Unendlichkeitsgrenze, sie bereitet den Prozeß des Wertzerfalls vor, die Auflösung des Gesamtsystems in Partialgebilde, und am Ende dieses Prozesses steht neben einer entfesselten autonomen Vernunft ein entfesseltes autonomes irrationales Leben. Gewiß dringt die Vernunft auch in die Partialsysteme ein, ja sie leitet diese zu eigener autonomer Entwicklung, leitet sie zu eigener autonomer Unendlichkeit, aber die Entwicklungsbreite der Vernunft innerhalb des Partialsystems wird von dem jeweiligen Sachgebiet eingeschränkt. So gibt es ein spezifisch kaufmännisches oder ein spezifisch militärisches Denken, deren jedes zur konsequenten kompromißlosen Absolutheit hinstrebt, deren jedes ein entsprechendes deduktives Plausibilitätsschema ausbildet, jedes seine »Theologie«, seine »Privattheologie«, wenn man sie so nennen dürfte, – und genau in dem gleichen Maße, als eine derartige militärische oder kommerzielle Theologie in Wirksamkeit tritt, um ein sachgebunden verkleinertes Organon zu errichten, genau in dem gleichen Maße bleiben innerhalb der Partialgebiete Irrationalitäten gebunden; denn auch die Partialgebiete sind Spiegelungen des Ichs und des Gesamtsystems, und auch sie befinden sich im Gleichgewichtszustand oder streben nach einem solchen, so daß man, eben in Ansehung solchen Gleichgewichts, von einem militärischen oder kaufmännischen Lebensstil sprechen kann. Indes, je kleiner das System wird, desto geringer wird seine ethische Ausdehnungsfähigkeit, desto geringer wird sein ethischer Wille, desto stumpfer und gleichgültiger wird es gegen die Bösheit, wird es gegen das Überrationale und gegen das Irrationale, das in ihm noch wirkt, desto kleiner wird die Anzahl der gebundenen Kräfte, desto größer die, gegen welche es indifferent ist und die es als »Privatangelegenheit« des Individuums betrachtet: je weiter die Zerschlagung des Gesamtsystems fortschreitet, je entfesselter die Vernunft der Welt wird, desto sichtbarer, desto wirkender wird das Irrationale, – das Gesamtsystem der Religion macht die von ihr ergriffene Welt rational, die Entfesselung der Vernunft muß in gleicher Weise die Stummheit alles Irrationalen freimachen.

Letzte Zerspaltungseinheit im Wertzerfall ist das menschliche Individuum. Und je weniger dieses Individuum an einem übergeordneten System beteiligt und je mehr es auf seine eigene empirische Autonomie gestellt ist – auch darin Erbe der Renaissance und des in ihr bereits vorgezeichneten Individualismus –, desto schmäler und bescheidener wird seine »Privattheologie«, desto unfähiger wird diese, irgendwelche Werte außerhalb ihres engsten individuellen Bereiches zu erfassen: was außerhalb des engsten Wertkreises vor sich geht, kann nur noch unverarbeitet, ungeformt, m. e. W. dogmatisch hingenommen werden, – es entsteht jenes leere und dogmatische Spiel von Konventionen, also von Überrationalitäten kleinster Dimension, die für das Wesen des philiströsen Menschen typisch sind (niemand wird Huguenau diese Bezeichnung versagen können), es entsteht das konfliktlose Neben- und Ineinanderwirken einer dem Irrationalen verhafteten Lebendigkeit und eines Überrationalen, das in gespenstisch totem Leerlauf nur noch diesem Irrationalen dient, stillos und ungebändigt sie beide, vereinigt in einer Disparatheit, die keinen Wert mehr zu bilden vermag. Der Mensch, der, aus jedem Wertverband entlassen, zum ausschließlichen Träger des Individualwertes geworden ist, der metaphysisch »ausgestoßene« Mensch, ausgestoßen, weil sich der Verband zu Individuen aufgelöst und zerstäubt hat, ist wertfrei, stilfrei und nur noch vom Irrationalen her bestimmbar.

Huguenau, ein wertfreier Mensch, gehörte allerdings auch dem kommerziellen System an; er war ein Mann, der in Branchekreisen einen guten Ruf genoß, er war ein gewissenhafter und umsichtiger Kaufmann und er hatte seiner kaufmännischen Pflicht stets voll und ganz, ja, mit aller Radikalität Folge geleistet. Daß er Esch umgebracht hatte, fiel zwar nicht in den kaufmännischen Pflichtenkreis, widersprach aber auch nicht dessen Usancen. Es war eine Art Ferialhandlung gewesen, getätigt zu einer Zeit, in welcher auch das kaufmännische Wertsystem aufgehoben und bloß das individuelle übriggeblieben war. Hingegen lag es in der Linie des kaufmännischen Ethos, in welches Huguenau zurückgekehrt war, daß er in Berücksichtigung der nach Friedensschluß einsetzenden Markentwertung an Frau Gertrude Esch folgendes Schreiben richtete:

 

Frau
N. N. Esch
Wohlgeboren

Werte Frau,

Sie recht wohlauf hoffend, freue ich mich, von mir dasselbe mitteilen zu können und nehme ich Anlaß, um in frdl. Erinnerung zu bringen, daß ich lt. Vertrag v. 14. V. 1918 Machthaber über 90 % der Geschäftsanteile des »Kurtrierschen Boten« bin. Ordnungshalber bemerke ich hiezu, daß von diesen 90 % ein Drittel, d. i. 30  % im Besitze verschiedener Herren am dortigen Platze sich befinden, die ich jedoch in der Geschäftsleitung vertrete, so daß also ohne mein Wissen und Willen keinerlei Betrieb geführt, noch sonstige Geschäfte gemacht werden dürfen und muß ich Sie, resp. die anderen Herren Compagnons bei ev. Dawiderhandeln voll und ganz für alle Folgen und Schäden haftbar machen. Sollten Sie, resp. die verehrl. anderen Herren Compagnons trotzdem den Betrieb aufgenommen haben, so bitte ich demnach vor allem um gefl. Rechnungslegung und Überweisung des auf meine Gruppe entfallenden Gewinstanteiles von 60 % (lt. Vertrag, §3) und behalte mir alle weiteren Schritte höfl. vor.

In meiner Ihnen bekannten Loyalität stelle ich andererseits fest, daß ich durch den force-majeure-Fall des Kriegsendes verhindert wurde, dem Unternehmen für mich, resp. meine Gruppe, die beiden restlichen Raten von insgesamt M. 13 400, von denen Ihnen als Erbin nach dem sel. Herrn August Esch noch M. 8000 zukommen, termingerecht zu bezahlen. Allerdings mache ich gleichfalls loyal aufmerksam, daß Sie, wenn Sie darauf reflektiert hätten, versäumt haben, die Zeitung, resp. mich als deren Geschäftsleiter, auf Auszahlung dieser Raten unter Setzung einer entsprechenden Nachfrist rekommandiert zu mahnen, so daß ich jetzt lediglich verpflichtet bin, falls Sie die Mahnung jetzt ergehen lassen, Ihnen die Zahlung unter Vergütung der gesetzlichen Verzugszinsen zu leisten, damit unsere juristische Lage glattgestellt ist.

Da ich es aber vermeiden will, mit der hochgeschätzten Gattin meines sehr geehrten seligen Freundes Herrn August Esch etwaige Auseinandersetzungen vor Gericht zu haben, obwohl der dortige Platz im besetzten Gebiet liegt, so daß für mich als französischer Staatsbürger wenig Schwierigkeiten vorhanden wären und ich ein Freund prompter Erledigung bin, stelle ich höfl. Antrag, unser damaliges Geschäft zu stornieren, wovon Sie in Anbetracht der juristischen Sachlage allen Vorteil hätten.

Diese Stornierung kann am einfachsten dadurch geschehen, daß ich Ihnen die mir, resp. meiner Gruppe gehörigen 60 % der Geschäftsanteile zurückverkaufe und bin ich bereit, dies zu besonders akzeptablen Bedingungen zu tun und offeriere Ihnen freibleibend, Zwischenverkauf vorbehalten, diese Anteile zur Hälfte des seinerzeitigen Originalpreises, umgerechnet auf Frankenparität. Der Gesamtkaufpreis betrug M. 13 400, infolgedessen nach Friedensparität ca. frcs. 16 000, so daß ich Ihnen die Anteile in besonders entgegenkommender Weise um frcs. 8000, in Worten

achttausend französische Francs

erlasse, wobei ich besonders betone, daß ich weder meine Aufwendungen noch meine Einschüsse, die ich privat für das Geschäft geleistet habe, noch meine mehrmonatliche Aufopferung meiner Arbeitskraft einkalkuliert habe, obwohl das Geschäft eben dadurch viel mehr wert ist als zu jenem Zeitpunkt, in welchem ich es übernommen habe, und sehe mich zu dieser besonders bescheidenen und entgegenkommenden Haltung und Forderung bloß bewogen, um Ihnen den Entschluß angenehm zu machen und eine glatte Erledigung herbeizuführen, um so mehr, als Sie diese Summe, so ferne Sie dieselbe nicht flüssig haben sollten, leicht durch eine Hypothek auf Ihr unbelastetes Anwesen aufbringen werden.

Ich erlaube mir schließlich, erg. darauf aufmerksam zu machen, daß Sie mit diesen rückgekauften 60 % Anteilen zusammen mit den Ihnen szt. verbliebenen 10 % eine erdrückende Majorität von 70 % fest in Händen haben werden, mit der Sie die Minoritätsgruppe der anderen Herren Compagnons glatt an die Wand drücken können, und bin überzeugt, daß Sie sodann in Kürze wieder Alleinbesitzerin eines blühenden Unternehmens sind, bzgl. welchen ich nicht unerwähnt lassen will, daß das Inseratengeschäft, wie ich mir schmeichle es eingeführt zu haben, allein schon eine Goldgrube ist, und stehe ich Ihnen dsbzgl. auch weiterhin mit Rat und Tat gerne zur w. Verfügung.

Aus allen diesen Umständen belieben Sie zu ersehen, daß ich mein Offert unter Hintansetzung meiner eigenen Interessen gestellt habe, weil es mir Schwierigkeiten macht, die Geschäfte der Zeitung von hier aus zu leiten, doch bin ich überzeugt, daß mir andere Reflektanten wesentlich mehr bieten würden, was für Sie keineswegs angenehm sein kann, weswegen ich Sie bitte, mir Ihre geehrte zustimmende Antwort innerhalb 14 Tagen zugehen zu lassen, widrigenfalls ich die Angelegenheit meinem Rechtsanwalt übergebe.

In der conviction, daß Sie meinen freundschaftlichen und entgegenkommenden Vorschlag würdigen werden, so daß wir sodann zur endgültigen Perfektionierung schreiten können, erlaube ich mir noch mitzuteilen, daß die geschäftliche Lage in unserer Gegend eine recht zufriedenstellende ist und ich sehr gut beschäftigt bin, und zeichne ich

hochachtungsvoll
Wilh. Huguenau
in Fa. André Huguenau
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Das war eine erpresserische und häßliche Handlung, aber sie wurde von Huguenau nicht als solche empfunden; sie verstieß weder gegen seine Privattheologie noch gegen die des kommerziellen Wertsystems, ja sie wäre auch von Huguenaus Mitbürgern nicht als häßlich empfunden worden, denn es war ein kommerziell und juristisch einwandfreier Brief, und selbst Frau Esch empfand solche Legalität als ein Fatum, dem sie sich williger beugte, als etwa einer Beschlagnahmung von Seiten der Kommunisten. Huguenau freilich bedauerte hinterher die übertriebene Bescheidenheit seiner Forderung – die Hälfte des Selbstkostenpreises! – allein man darf den Bogen niemals überspannen, und als die achttausend Franken wirklich bezahlt wurden, da war es ein begrüßenswerter Einschuß in das Colmarer Unternehmen, und es war noch mehr: es war die endgültige Liquidierung der Kriegsbegebenheit, es war die endgültige Heimkehr und vielleicht, wenn auch nur vielleicht, war es sogar etwas Schmerzliches. Denn nun war alles Feriale endgültig verschwunden. Und soferne im Ablauf des menschlichen Lebens und seiner Insignifikanz überhaupt Berichtenswertes zu finden ist, so gibt es nun nichts mehr dergleichen im Leben Huguenaus. Er hatte das väterliche Geschäft übernommen, und im Sinne der Ahnen, solid und auf Gewinn bedacht, führte er es weiter. Und weil das Junggesellenleben für einen bürgerlichen Kaufmann nicht taugt und die Tradition seines Hauses, aus der auch sein eigenes Dasein hervorgegangen war, von ihm es erheischte, daß er eine brave Frau eheliche, um einesteils mit ihr Kinder zu zeugen, andernteils aber die Mitgift zur Konsolidierung des Geschäftes zu verwenden, so machte er sich daran, die hiezu notwendigen Schritte zu unternehmen. Und weil inzwischen der Franc sich zu entwerten begann, die Deutschen aber die Goldmark eingeführt hatten, so war es bloß natürlich und nicht weiter bemerkenswert, daß er seine Augen auf das rechtsrheinische Land richtete. Und weil er die Braut, die über entsprechende Mittel verfügte, schließlich im Nassauischen fand und dies eine protestantische Gegend ist, so war es auch nicht weiter erstaunlich, daß Liebe und Vermögensvorteile einen Freigeist zu einem Glaubenswechsel bewegen konnten. Und weil die Braut und ihre Familie dumm genug waren, Wert darauf zu legen, so war er ihnen zuliebe eben dem evangelischen Glauben beigetreten. Und wenn nun der eine oder der andere seiner Mitbürger ob dieses Schrittes den Kopf schüttelte, so verwies der Freigeist Huguenau auf die Bedeutungslosigkeit derartiger Formalitäten, und gleichsam zur Bekräftigung solcher Ansicht gab er trotz evangelischer Glaubenszugehörigkeit seine Stimme der katholischen Partei, als dieselbe anno 1926 ein Wahlbündnis mit den Kommunisten einging. Und weil die Elsässer, wie die meisten Alemannen, ein oftmals schrullenhaftes Volk sind und viele von ihnen selber einen kleinen Sparren haben, so wunderten sie sich nicht sehr lange über Huguenaus Abweichungen, die eigentlich keine Abweichungen waren, denn zwischen Kaffeesäcken und Textilgeweben, Schlafen und Essen, Geschäften und Kartenspiel lebte Huguenau in Frieden dahin. Er wurde Familienvater, seine elastische Rundlichkeit wölbte sich und wurde mit der Zeit ein wenig weichlich, auch sein strammer Gang geriet mit der Zeit zusehends ins Watscheln; er war mit seinen Kunden höflich, war seinen Untergebenen ein strenger Chef von vorbildlichem Arbeitseifer; frühmorgens war er auf den Beinen, Ferien gönnte er sich nicht, seine Freuden waren spärlich, und ästhetische Genüsse gab es überhaupt keine oder sie wurden verachtet; kaum daß seine Obliegenheiten ihm Zeit ließen, sonntags mit Frau und Kindern spazieren zu gehen, geschweige denn das Museum zu besuchen, – Bilder waren ihm ohnehin zuwider. Er stieg zu städtischen Würden auf, er wandelte wieder den Pfad der Pflicht. Sein Leben war das, das seine fleischlichen Ahnen seit zweihundert Jahren geführt hatten, und sein Gesicht war ihr Gesicht. Sahen sie doch alle gleich aus, die Huguenaus, feist und satt und ernst zwischen ihren Wangen, und daß sich da bei einem von ihnen ein sarkastisch-ironischer Zug ausprägen werde, war nicht zu vermuten gewesen. Doch ob dies in der Mischung des Blutes bedingt oder bloßes Spiel der Natur war oder etwas, das eine Vollendung des Enkels anzeigt und ihn von allen seinen Ahnen löst, ist schwierig zu entscheiden und ein Detail, auf das niemand, am allerwenigsten Huguenau selber, irgendeinen Wert legt. Denn vieles war ihm gleichgültig geworden, und dachte er an die Kriegsbegebenheiten zurück, so schrumpften sie immer mehr und mehr zusammen, und schließlich blieb nichts mehr übrig als eine einzige Zahl von frcs. 8000, in der sie sich symbolisierten und mit der sie in die Bilanz eingegangen waren, und alles, was er damals erlebt hatte, glitt für den Kaufmann Huguenau ins Konturige und in die zarten Töne der französischen Banknoten, mit denen er seitdem zu tun gehabt hatte. Der zartgraue Nebel traumhaften silbernen Schlafes hatte sich über das Geschehene gebreitet, immer undeutlicher wurde es ihm, immer dunkler, als schöbe ein rußgeschwärztes Glas sich davor, und schließlich wußte er nicht mehr, ob er jenes Leben gelebt hatte oder ob es ihm erzählt worden war.

Es ließe sich vielleicht vertreten, daß all dieses Verdämmern und Vergessen bloß eine Resignationshaltung darstelle, lediglich bedingt von dem bürgerlichen Wertsystem, das im elsässischen Land, also auch in Colmar, unter dem Schutze der siegreichen französischen Bajonette wieder aufgerichtet worden war, während das Land selber, eingedenk jahrhundertelanger Unbill, die es von rechts und von links erfahren hatte, als richtiges Grenzland voll revolutionären Geistes steckte und auch in Huguenau allerlei Rebellisches rumorte. Es wäre immerhin zu vertreten, daß die freigewordenen irrationalen Kräfte sich keinem alten Wertsystem mehr fügen wollen und daß sie, unter Zwang gesetzt, notwendig den Zustand der Abgestorbenheit sowohl für die Gemeinschaft als für das Individuum hervorrufen müssen. Und es ergibt sich darauf die Frage nach dem Schicksal der im Wertzerfall freiwerdenden irrationalen Kräfte: sind sie tatsächlich nur noch Kampfmittel im Streite der einzelnen Wertgebiete? sind sie tatsächlich nur noch Mittel der gegenseitigen Zerfleischung? sind sie tatsächlich nur noch Mord? müssen sie, wenn der Wertzerfall bis zur letzten Zerspaltungseinheit vorgeschritten ist, zum Kampf des Individuums gegen das Individuum werden, müssen sie zum Kampf aller gegen alle führen? Oder auf die Angelegenheit Huguenaus eingeschränkt: kann ein Partialwertsystem wie das kommerzielle, in das Huguenau zurückgekehrt war, eine genügend starke Bindungsfähigkeit besitzen, um auch ohne Unterstützung von Bajonetten und Polizeiknütteln die irrationalen Strebungen wieder zu einem Organon zu vereinigen und dem gleichfalls freigewordenen Wertwillen ein Ziel zu weisen?

Erkenntnis theoretisch allerdings eine unzulässige Frage. Denn sie provoziert Aussagen über das Wesen des Irrationalen, provoziert schon mit der Bezeichnung »Kräfte« eine mechanistische Auslegung, eine anthropomorphe und voluntaristische Metaphysik, kurzum eine Ausdeutung, der sich das Irrationale seiner Idee nach widersetzt, weil es das stumme und eben irrationale Leben ist, das wohl das Material für die rationale »Wertformung« abgibt, jedoch im Urzustand ungeformter Irrationalität bloß die Konstatierung seines anonymen Daseins und darüber hinaus keinerlei Theoretisierung gestattet. Das übergeordnete Totalsystem, das religiöse System also, ist sich dieses Sachverhaltes vollkommen bewußt. Die Kirche kennt bloß ein Wertsystem, ihr eigenes, weil sie ihrem platonischen Ursprung gemäß bloß eine Wahrheit, bloß einen Logos kennt: durchaus rational eingestellt, kann sie das Außerlogische nicht dulden, ist von vorneherein verhalten, dem Irrationalen und seinen hypothetischen »Eigenschaften« nicht nur die erkenntnistheoretische, sondern auch die ethische Existenzberechtigung abzusprechen, – das Irrationale wird zum Bestialen schlechthin, und alles, was sich von ihm aussagen läßt, beschränkt sich auf die Feststellung, daß es da ist und unter die Kategorie des Bösen subsumiert zu werden hat. Soferne das Irrationale unter diesem Gesichtswinkel als Problem überhaupt in Betracht kommt, so nur in der Frage nach der möglichen Existenz des Bösen innerhalb einer von Gott geschaffenen Welt, und soferne die angeblichen systembildenden Fähigkeiten des Irrationalen überhaupt diskutiert werden sollen, so nur im Hinblick auf die mögliche Erscheinungsform des Bösen. Freilich sind dies Fragen, die die Kirche niemals ignoriert hat, die sie niemals ignorieren konnte; die Existenz des Bösen hat stets zur Voraussetzung der ecclesia militans gehört, und wenn der Prozeß des Wertzerfalls solche Existenz zur fortgesetzten Manifestation bringt, so ist die Kirche stets von neuem genötigt, die Verantwortung für diesen Zerfall dem Bösen zuzuschieben, m. a. W. das Überrationale, in dem der Ursprung des Zerfalls liegt, aus ihrem eigenen Bestand auszuscheiden und es in die Kategorie des Bösen, mithin des Irrationalen zu verweisen. Da aber der Kirche einerseits so gut wie jedem Einzelmenschen das Wissen um die »Setzung der Setzung« zu eigen ist, ja, da sie vielleicht klarer als jeder Einzelmensch weiß, daß die Bedingung möglicher Erfahrung für alle Erscheinungsformen von der Kategorie des »Wertes« bestimmt wird, da sie aber andererseits ihre eigene Wertstruktur als die einzig gültige ansehen muß, so wird sie dem irrational Bösen zwar keine systembildenden Kräfte, wohl aber die Erscheinungsform der Nachahmung zuordnen, wird im Bösen immer nur die Nachahmung ihrer eigenen Erscheinungsform erblicken, sie wird dem Bösen zwar kein rationales Denken, wohl aber eine leere nachgeahmte Form des Denkens unterlegen, ein »wahrheitsentleertes« Denken (das Böse als privatio des Guten), ein leeres überrationales und dogmatisches Spiel von Konventionen, eine vom Irrationalen irregeleitete »Vernünftelei«, die, bloß dem Irrationalen dienend, den ethischen Willen zum leeren Klappern von Moralen verkehrt, in letzter Auswirkung aber und erweitert zum Totalsystem die Bösheit der Philistrosität zum gigantischen Ausmaß des Antichrist erheben wird: je vollkommener sich das Böse in der Welt etabliert, desto vollkommener wird die Imitation, die der Christ durch den Antichrist erfährt, desto bedrohlicher wird das Wertsystem des Antichrist, das bloß Totalsystem sein kann, weil auch das System der Kirche ein Totalsystem ist, das Böse selber unteilbar und homogen, so unteilbar und homogen wie die ihm entgegengesetzte und von ihm imitierte Wahrheit. Daß neben diesem Totalsystem die Partialsysteme verblassen, daß der Katholizismus dem sichtbarsten Ausdruck des Wertzerfalls, dem protestantischen Gedanken, eine besondere Bedeutung unter den Phänomenen des Zerfallprozesses beimißt und ihn zum dominierenden, ja zum Leitgedanken der verhängnisvollen und irrationalen Entwicklung erhebt, daß die Kirche in ihm wie in allen Partialsystemen bloß Zerrbilder des wahren Wertsystems sieht, Vorstufen bereits für das drohende Totalsystem des Antichrist, diese Einschätzung entspricht nicht nur dem speziellen kirchlichen Standpunkt, sondern hat auch eine wohlfundierte Stütze im objektiven Sachverhalt, z. B. in der merkwürdigen Affinität, die der Protestantismus zu jedem anderen Partialsystem aufweist: sei es das kapitalistische, sei es das nationalistische oder sonst ein Partialsystem, es ist immer auf einen gemeinsamen »revolutionären« antikirchlichen Nenner mit dem Protestantismus zu bringen, d. h. vom kirchlichen System aus gesehen, auf den Nenner des Verbrecherischen, in dem alle irrationalen wertfeindlichen Kräfte des Ketzertums sichtbar werden. Und wenn die Kirche auch oftmals äußere Konzessionen macht und, das kleinere Übel dem größeren vorziehend, diese oder jene Teilbewegung, etwa die nationalistische als konservierende Positionen gegenüber radikaleren, rein revolutionären Zersplitterungen toleriert, so wird sie die Grundfrage nach dem Schicksal der irrationalen Kräfte immer nur unter dem rigorosesten Aspekt entscheiden: Christ oder Antichrist – entweder Rückkehr in den kirchlichen Schoß oder Untergang der Welt in der vollkommenen Wertzersplitterung des gegenseitigen Kampfes.

Gleichgültig ob Spiegel- oder Zerrbild, als Wertsystem imitiert jedes Partialsystem die Struktur des Totalsystems, und soweit dessen Erkenntnisse prinzipiell und formal sind, müssen sie sich im kleineren Verbände wiederholen und bestätigen; die inhaltlichen Abweichungen hingegen, notwendig, weil kein System sich selbst als »böse« bezeichnen kann, müssen in der Einschätzung des Irrationalen liegen. Jedes Partialsystem ist seiner logischen Entstehung, seiner logischen Begründung nach revolutionär; wenn beispielsweise das nationalistische Partialsystem, der eigenen logischen Absolutierung folgend, ein Organon errichtet, in dessen Mittelpunkt der zum Gott erhobene Nationalstaat sich befindet, so wird mit dieser Beziehung aller Werte auf den Staatsgedanken, mit dieser Unterordnung des Individuums und seiner geistigen Freiheit unter die Staatsgewalt nicht nur eine revolutionär-antikapitalistische Stellung bezogen, sondern mit noch weit höherer Stringenz eine antireligiöse, antikirchliche Richtung eingeschlagen, die eindeutig und strikt zum absolut revolutionären Wertzerfall, demnach auch zur Aufhebung des eigenen Systems hinweist. Will also das Partialsystem seinen eigenen Bestand im Prozeß der Wertzersplitterung sichern, will es sich seiner eigenen zu diesem Ziele hindrängenden Ratio erwehren, so muß es seine Zuflucht zu irrationalen Mitteln nehmen, und daraus ergibt sich die eigentümliche Zweideutigkeit, erkenntnistheoretisch gesprochen, sogar Unsauberkeit, die jedem Partialsystem anhaftet: dem fortschreitenden Wertzerfall gegenüber die Rolle des Totalsystems übernehmend, das Irrationale als rebellisch und verbrecherisch einschätzend, ist das Partialsystem genötigt, aus der homogenen Masse des Irrationalen und seiner anonymen Bösheit eine Gruppe »guter« irrationaler Kräfte herauszuheben, um mit deren Hilfe den gefürchteten weiteren Zerfall zu hemmen und die eigene Bestandlegitimation zu erbringen, – jede »Teilrevolution«, und in diesem Sinne ist jedes Partialsystem »Teilrevolution«, beruft sich auf irrationale Aprioritäten, auf das Gewicht von Gefühlswerten, auf die Würde eines »irrationalen Geistes«, der gegen die radikale Vernunft der Vollrevolution ausgespielt wird; jedes Partialsystem muß einen »ungeformten« irrationalen Rest ausdrücklich anerkennen, sozusagen als Reservat im Flusse der Vernunft, um sich selbst als Ruhepunkt im Prozeß des Wertzerfalls zu fixieren.

 

Denn Revolutionen sind Auflehnungen des Bösen gegen das Böse, Auflehnung des Irrationalen gegen das Rationale, Auflehnung des Irrationalen im Gewande einer entfesselten Vernunft gegen rationale Institutionen, die zur Aufrechterhaltung ihres Bestandes sich selbstgenügsam auf den ihnen innewohnenden irrationalen Gefühlswert berufen, – Revolutionen sind der Kampf zwischen Unwirklichkeit und Wirklichkeit, zwischen Vergewaltigung und Vergewaltigung, sie müssen eintreten, wenn die Entfesselung des Überrationalen die Entfesselung des Irrationalen nach sich gezogen hat, wenn die Zerschlagung des Wertsystems bis zur letzten und individuellen Werteinheit vorgedrungen ist und alles Irrationale in der absoluten Wertfreiheit des autonom einsam gewordenen Individuums durchbricht. Es ist der Durchbruch des Irrationalen, der Durchbruch des Autonomen, der Durchbruch des Lebens, und der einsam wertfreie Mensch ist sein Werkzeug; und wenn alle irdische Angst und Einsamkeit zuerst den irdisch Verlassenen befallen muß, also den proletarischen Menschen, preisgegeben dem Hunger, den Soldaten im Schützengraben, preisgegeben dem Trommelfeuer, wenn diese im wahren Sinne des Wortes »Ausgestoßenen« die ersten sein müssen, die zur Wertfreiheit gelangen, so sind sie auch die ersten, den Ruf des Mordes zu vernehmen, der rasselnd wie aufeinandergeschlagenes Eisen die Stummheit des Irrationalen übertönt. Und immer ist es so, daß der Mensch des kleineren Wertverbandes den Menschen des sich auflösenden größeren Verbandes vernichtet, immer übernimmt er, der Unglücklichste, die Rolle des Henkers im Prozeß des Wertzerfalls, und an dem Tage, an dem die Fanfaren des Gerichtes ertönen, dann ist es der wertfreie Mensch, der zum Henker einer Welt wird, die sich selbst gerichtet hat.

 

Huguenau hatte einen Mord begangen. Er hat ihn hinterher vergessen, er dachte nicht mehr an ihn, während er jeden einzelnen kaufmännischen Coup, der ihm in der Folge gelungen war (Brief an Frau Esch!), treu im Gedächtnis bewahrte. Und das war selbstverständlich: es bleiben bloß jene Taten am Leben, die in das jeweilige Wertsystem passen, Huguenau aber hatte ins kaufmännische System zurückgefunden. Und eben deswegen kann behauptet werden, daß er, obwohl Erbe eines blühenden väterlichen Geschäftes, unter geeigneteren Umständen ein ebenso tüchtiger Revolutionär hätte werden können, wie er ein tüchtiger Kaufmann geworden ist. Denn der proletarische Mensch als Träger der Revolution ist nicht der »Revolutionär«, der zu sein er glaubt, den es aber gar nicht gibt – kein Unterschied zwischen dem Volk, das bei der Vierteilung des Königsattentäters Damiens jubelte, und dem, das sich 35 Jahre später um die Guillotine Ludwigs XVI. drängte –, er ist bloß der Exponent eines größeren Geschehens, er ist Exponent des europäischen Geistes schlechthin: mag der Einzelmensch mit seinem philiströsen Leben auch noch in einem alten Partialsystem verharren, mag er wie Huguenau im kommerziellen System landen, mag er sich einer Vorrevolution oder der definitiven Revolution anschließen, der Geist der positivistischen Wertauflösung ist es, der sich über die ganze abendländische Welt erstreckt, und sein sichtbarer Ausdruck beschränkt sich keineswegs auf den proletarisch-russischen Materialismus, vielmehr ist dieser bloß eine Spielart des positivistischen Denkens, in dem die gesamte westliche Philosophie, soweit sie auf diesen Namen überhaupt noch Anspruch erhebt, sich aufgelöst hat. Ja, sogar die Probleme der Güterverteilung treten in den Hintergrund, obwohl auch der Unterschied zwischen amerikanistischen und kommunistischen Arbeitsmethoden immer mehr verschwindet, sie treten in den Hintergrund vor der Einheit der Ideologien, die immer einsinniger zu einem gemeinsamen Punkt hinstreben, zu einem Ziel, für das es ohne Bedeutung ist, ob es mit dieser oder jener politischen Signatur versehen sein wird, da seine ganze Bedeutsamkeit – der Grundfrage gemäß – einzig und allein darin liegt, daß es ein Totalsystem sein kann, fähig, die entfesselten Ströme des Irrationalen wieder zu vereinigen. Und darum ist es auch belanglos, ob irgendeine »irrationale« Vorrevolution lebensfähig ist oder nicht, denn sie bleibt ohne jeden Einfluß auf die »rationale« definitive Revolution, in die sie schließlich münden muß; hingegen vermag sie – über jede mechanistische Auslegung hinaus – als Partialgebilde das zu zeigen, was innerhalb von Totalgebilden notwendig unerkannt bleiben muß: daß es irrationale Kräfte gibt, daß sie wirksam sind und daß sie wesensgemäß zum Zusammenschluß innerhalb eines neuen Wertorganons hindrängen, zu einem Totalsystem, das, vom Standpunkt der Kirche aus gesehen, kein anderes sein wird als das des Antichrist. Es handelt sich hiebei nicht etwa um untergeordnete Symptome wie um den anti-platonischen Eifer der Kommunisten oder um die aufklärerische Propaganda marxistischer oder bürgerlicher Freidenkervereine, um einen Atheismus also, der bei aller Sündhaftigkeit für die Kirche viel zu geringfügig, ja viel zu bemitleidenswürdig ist, als daß er mit der Bösheit des Antichrist in einem Atem genannt werden dürfte, denn es geht um den europäischen Geist, um den »ketzerischen« Geist der Unmittelbarkeit und des Positivismus, so daß in diesem allgemeinsten Sinne es sogar gleichgültig wird, ob die protestantische Ideologie über Fichte in die nationalistische Revolution oder (eindeutiger allerdings) über Hegel in den marxistischen Kommunismus eingedrungen ist, und wenn auch die Kirche mit dem unfehlbaren Instinkt des Hasses, ihres Ketzerhasses, den Protestantismus noch in den entlegensten Derivaten aufspürt und eben deshalb den Kommunismus, dessen urchristliche Prinzipien sie ohne weiteres akzeptieren könnte, mit einer sonst unverständlichen Intransigenz verfolgt, so ist die konkrete Erscheinungsform des Kommunismus noch nicht die Konkretisierung des Antichrist, sondern bloß Vorstufe. Und mag auch jene protestantische Theologie des Kantianismus sich hier zu einer richtigen »marxistischen« Theologie entfalten, ausgestattet mit einer strengen Gesetzesauslegung, mit einer fixen Ontologie und einer unumstößlichen Ethik, sohin ausgestattet mit allen Komponenten einer richtigen Theologie, in ihrer Gesamtheit deren sichtbare Kirche darstellend, und mag auch diese Kirche sich mit aller Bewußtheit als Antikirche etablieren, Maschinen zu ihren Kultgeräten erheben, Ingenieure und Demagogen zu ihren Priestern einsetzen, so ist dies noch nicht das Totalsystem als solches, es ist noch nicht der Antichrist, – aber es ist der Weg und es ist der Hinweis auf die Auflösung des christlich-platonischen Weltbilds! Und deutlich, und eben für niemanden deutlicher als für den Katholizismus, zeichnet sich bereits in all dieser Dogmatik, zeichnet sich im Aufbau dieser marxistischen Antikirche und ihres asketischen und harten Staatsgedankens die mächtige Kontur eines Geistes ab, der weit über den Marxismus, weit über jede Staatsvergottung hinausreicht und der alles Revolutionäre, welche Form immer es annähme, so weit hinter sich zurückläßt, daß selbst der marxistische Weg wie ein Umweg erscheint: es ist die Kontur einer kirchenlosen »Kirche an sich«, die substanzfreie Ontologie einer »Naturwissenschaft an sich«, eine dogmenfreie »Ethik an sich«, kurzum ein Organon von jener letzten logischen und nüchternen Abstraktion, die durch die unendliche Hinausrückung des Plausibilitätspunktes gewonnen werden soll und in der die ganze Radikalität des protestantischen Geistes aufscheint, – es ist jene positivistische Doppelbejahung weltlicher Gegebenheit und rigoroser Pflichtaskese, wie sie Luther und der ganzen Renaissance schon eigentümlich gewesen war und die, ihre eingeborene und notwendige Idee nunmehr erfüllend, zu einer neuen Einheit von Denken und Sein hinstrebt, zu einer neuen Einheit ethischer und materialer Unendlichkeit. Es ist jene Einheit, die das Wesen jeder Theologie ausmacht und die bestehen muß, selbst wenn versucht wird, das Denken aus der Welt wegzuleugnen, die aber auch bestehen kann, wenn der wissenschaftliche Plausibilitätspunkt des »Für-wahr-Haltens« zusammenfällt mit dem Plausibilitätspunkt des »Glaubens« und die doppelte Wahrheit wieder zur eindeutigen Wahrheit wird. Denn am Ende der endlosen Fragekette, die zu solcher Plausibilität hinführt, steht die reine Tat, steht die Idee des reinen Pflichtorganons, die Idee des rationalen gottfreien Glaubens, steht in steinerner Gesetzlichkeit die inhaltsentleerte Form einer »Religion an sich«, vielleicht sogar die rationale Unmittelbarkeit einer »Mystik an sich«, deren stumm-asketische und ornamentlose Religiosität, Untertan der Strenge und nur der Strenge, auf das letzte Ziel dieser wahrhaft protestantischen Revolution hinweist: auf das tonlose Vakuum einer grausamen Absolutheit, in der der abstrakte Geist Gottes thront, Gottes Geist, nicht Gott selber, dennoch er selber, voll Trauer thronend in der Angst des traumlos unverbrüchlichen Schweigens, das der reine Logos ist.

An dieser Situation des europäischen Geistes nahm Huguenau wenig Anteil, wohl aber an der herrschenden Unsicherheit. Denn das Irrationale im Menschen spürt das Irrationale der Welt, und wenn auch die Unsicherheit der Welt eine sozusagen rationale Unsicherheit ist, oftmals sogar eine geschäftliche, so ist sie doch durch die Entfesselung der Vernunft entstanden, die in jedem Wertgebiet zur Unendlichkeit strebt und an dieser überrationalen Unendlichkeitsgrenze sich selbst aufhebend ins Irrationale und Nicht-mehr-Erfaßbare umschlägt. Ungebändigt ist das Geld und die Technik geworden, die Währungen schwanken, und trotz aller Erklärungen, die der Mensch für das Irrationale bei der Hand hat, vermag das Endliche nicht dem Unendlichen zu folgen und kein vernünftiges Mittel vermag die irrationale Unsicherheit des Unendlichen wieder ins Vernünftige und Beherrschbare zurückzubringen. Es ist, als ob das Unendliche zu einem selbständigen und konkreten Leben erwacht wäre, getragen und aufgenommen von dem Absoluten, das in der Stunde zwischen Niederbruch und Aufstieg, in dieser magischen Stunde des Todes und der Zeugung am fernsten Horizont aufleuchtet. Und mochte Huguenau von dem Leuchten des aufbrechenden Himmels die Augen auch abwenden und überhaupt von derlei Möglichkeiten nichts wissen wollen, so fühlte er doch den Hauch des Eisigen, der, die Welt überwehend, sie in Starrkrampf versetzt, die Dinge der Welt aber ihres Sinnes beraubt. Und wenn Huguenau allmorgendlich die Weltereignisse in der Zeitung verfolgte, so geschah es mit dem Unbehagen aller Zeitungsleser, die gierig nach den Berichten greifen, voll Hunger nach den Tatsachen, besonders nach den mit Illustrationen geschmückten Tatsachen, und die dabei täglich von neuem hoffen, daß die Masse der Fakten imstande sein werde, die Leere einer stummgewordenen Welt und einer stummgewordenen Seele auszufüllen. Sie lesen ihre Zeitungen und in ihnen ist die Angst des Menschen, der allmorgendlich zur Einsamkeit erwacht, denn die Sprache der alten Gemeinschaft ist ihnen erschwiegen und die neue ist ihnen unhörbar. Mögen sie sich auch Verständnis und klaren Blick vortäuschen, indem sie die politischen und öffentlichen Einrichtungen oder die des Rechtswesens scharf bekritteln, mögen sie auch ihre Ansichten hierüber im Laufe des Tages miteinander austauschen, sie stehen ohne Sprache zwischen dem Noch-nicht und dem Nichtmehr, sie trauen keinem Worte, wollen es durch Bilder belegt sehen, sie können selbst an die Gemäßheit der eigenen Rede nicht mehr glauben, und, zwischen Ende und Anfang gestellt, wissen sie bloß, daß die Logik der Tatsachen unaufhaltsam, das Gesetz unantastbar bleibt: keine Seele, und sei sie noch so verworfen, sei sie noch so böse, sei sie noch so philiströs und dem billigsten Dogma hingegeben, kann sich dieser Einsicht und dieser Angst entledigen, – dem Kinde gleichend, das von der Einsamkeit überrascht und überfallen worden ist, bemächtigt von der Angst der Kreatur, die zu sterben begonnen hat, muß der Mensch die endliche Furt suchen, die sein Leben und seine Sicherheit sein soll. Nirgends findet er Beistand. Und es nützt nichts, daß er immer wieder danach strebt, sich in ein Partialsystem zu retten, und ob er es nun tut, weil er im Festhalten an alten romantischen Formen einen Schutz vor der Unsicherheit erwartet, oder weil er hofft, in einer Partiairevolution werde das Bekannte und Heimatliche bloß sehr langsam, gewissermaßen schmerzlos in das unerbittlich Fremde hineingleiten, er findet keinen Beistand, denn es ist der Rausch einer Schein-Gemeinschaft, in die er sich verirrt hat, und die tiefere und geheime Verknüpfung, nach der er fahndet, löst sich in der Hand, die den Faden zu erhaschen vermeint, und wenn der Enttäuschte sich schließlich in das geldlich-kommerzielle System flüchtet, er entgeht der Enttäuschung nicht: selbst diese eigentlichste Daseinsform philiströser Bürgerlichkeit, widerstandsfähiger als alle anderen Partialsysteme, da sie die feste Einheit in der Welt verspricht, Einheit, deren der Mensch bedarf, um der Unsicherheit zu entgehen, – zwei Markstücke sind mehr als ein Markstück, und eine Summe von 8000 Francs besteht aus vielen Franken und ist doch ein Ganzes und ist ein rationales Organon, in dem die Rechnung der Welt aufgeht, – selbst diese Widerstandsfähigkeit, an die der Bürger trotz aller Währungsschwankungen so gerne glauben möchte, schwindet dahin, nirgends läßt sich mehr das Irrationale eindämmen und keine Gestalt der Welt läßt sich mehr als Addition rationaler Kolonnen darstellen. Und wenn der Kaufmann Wilhelm Huguenau, aufgestiegen zu städtischen Würden, ein Mensch, der bei allen Dingen des Lebens vorerst mal nach dem Preis und dem geldlichen Gewinn zu fragen pflegte, wenn dieser Huguenau es auch als durchaus rational erachtete, daß in solchen Zeiten finanzieller Unsicherheit ein gesteigertes Mißtrauen an den Tag gelegt werden müsse, so konnte es dennoch vorkommen, daß er mit ironischer Miene oder mit wegwerfender Handbewegung etwas abzutun suchte, über dessen Herkunft er sich verwunderlich keine Rechenschaft geben konnte, und daß er dann plötzlich stutzend »Was ist Geld?« fragte, mitunter aber auch einem Kunden, nachdem er ihn scharf und mißtrauisch gemustert hatte, einfach den Kredit entzog, bloß weil ihm der Mann plötzlich nicht mehr gefiel oder weil ihm ein sarkastischer oder sonst ein Zug um den Mund herum zuwider war, – ob sich solch eine Maßnahme nun als günstig oder ungünstig erwies, ob damit ein fauler Kunde rechtzeitig abgeschüttelt oder ein kreditfähiger in die Arme der Konkurrenz getrieben wurde, es war, ungeachtet aller praktischen Konsequenzen, eine abrupte und wahrscheinlich luzide Methode, die da gewissermaßen unter Kurzschluß vor sich ging, im Geschäftsleben immerhin unüblich, sicherlich irrational, und nicht zuletzt lag es wohl an ihr, daß sich um Huguenau unmerklich eine Kluft auftat, eine tote Zone des Schweigens, die ihn von allen anderen Bürgern der Stadt trennte. Das war freilich bloß wie ein fernes Ahnen, jedoch es verdichtete sich, wurde beinahe greifbar, sobald Huguenau sich unter vielen Menschen befand: in einem Kino, in einem Lokal, wo die Jugend tanzte, oder bei Festen, mit welchen der Jahrestag des französischen Sieges gefeiert wurde, da konnte er, der selber vielleicht einmal den Bürgermeisterstuhl besteigen wird, still an dem blumengeschmückten Tisch zwischen den anderen Notabein sitzen und mit ernsthaft leerem Knabenblick hinter den dicken Brillengläsern den Tanzenden zusehen; und wiewohl er noch lange nicht in den Jahren war, die den Verzicht auf das Tanzvergnügen vorschreiben, so glaubte er kaum der eigenen Erinnerung, wenn er seinem Nachbarn zuflüsterte (nie unterließ er dies), daß er selber einstens ein flotter Tänzer gewesen sei. Denn ob er nun in solch einem patriotischen Saale weilte oder ob er sonntags mit seinem Ältesten zur Straßburger Allee hinauswanderte, dem Start der Radwettfahrer beizuwohnen, ja, wenn er diese oder andere gesellschaftliche Veranstaltungen eigentlich nur deshalb aufsuchte, um die Probe aufs Exempel vorzunehmen, er geriet unweigerlich in jenes seltsame Unbehagen, in dem die Dinge sich unmerklich verrückten und in dem eine jede festliche Veranstaltung, der doch ein unteilbarer Begriff zukommen sollte, sich zu etwas beunruhigend Uneinheitlichem aufzulösen begann, zu einem Etwas, das von irgend jemandem wider besseres Wissen mittels Dekorationen, Fahnen und Girlanden zu unnatürlicher Einheit zusammengepreßt und zusammengebunden worden war. Und wäre Huguenau vor solch abwegigen Gedanken nicht zurückgeschreckt, er hätte zweifelsohne gefunden, daß es überhaupt keinen Begriff und keinen Namen gibt, dem ein konkretes Substrat entspricht, er hätte sicherlich gefunden, daß es versteckte, wenn auch sichtbare Symbole sein müssen, die die Einheit des Ereignisses und den Zusammenhalt der Welt verbürgen, Symbole, deren Existenz notwendig ist, weil sonst alles Sichtbare in ein unnennbares, schwereloses, trockenes Gefüge kalter und durchsichtiger Asche zerfallen würde, – und Huguenau hätte den Fluch des Zufälligen und Zusammengewehten gespürt, der sich über die Dinge und über das Zueinander der Dinge breitet, so daß keinerlei Anordnung auszudenken ist, die nicht ebenso zufällig und willkürlich wäre: müßten nicht jene Radfahrer sofort in alle Winde zerstieben, wenn sie nicht mehr durch die gemeinsame Dreß und das gemeinsame Klubabzeichen zusammengehalten würden? Huguenau stellte solche Frage nicht, denn sie überstieg den Fassungsraum dessen, was mit einiger Berechtigung als seine Privattheologie bezeichnet werden durfte; indes die ungestellte Frage machte ihn nicht weniger reizbar als die Unsichtbarkeit aller Instanzen, von denen er abhing, und diese Reizbarkeit konnte sich z. B. in einer unmotivierten Ohrfeige entladen, die er seinem Kinde auf dem Heimwege verabfolgte. Solcherart entspannt, pflegte er allerdings in die nüchterne Wirklichkeit zurückzufinden und bestätigte damit die Hegelsche Erkenntnis: »Der wirklich freie Wille ist die Einheit des theoretischen und praktischen Geistes.« Wohlgelaunt marschierte er in die Stadt hinein, vorbei an den verschiedenen Gotteshäusern, aus denen eben die Leute strömten, marschierte lustig summend fürbaß, schlug auch mit dem Stocke den Takt, und sooft einer ihn grüßte, salutierte er und sagte »Salü«.

Denn in allem und jedem kommt es auf das Verhältnis zur Freiheit an, und selbst die kleinste und engste Theologie, deren Reichweite gerade noch auslangt, die schäbigsten Handlungen eines empirischen Ichs zu plausibilisieren, also selbst die Privattheologie eines Huguenau, sie dient noch der Freiheit, selbst für sie ist die Freiheit das eigentliche, das eigentlich mystische Deduktionszentrum (und dies gilt für Huguenau zumindest seit jenem Tage, da er im Morgengrauen den Schützengraben verlassen und eine anscheinend irrationale, nichtsdestoweniger sehr rationale Handlung im Dienste der Freiheit begangen hatte, so daß alles, was seit jenem Tage von ihm angestrebt worden war, und alles, was er in seinem Leben noch anstreben wird, als eine Wiederholung jener ersten feierlichen und feiertägigen Handlung sich darstellt), ja fast ist es, als ob die Freiheit wie eine besondere und erhabene Kategorie über allem Rationalen und Irrationalen schwebe, wie ein Ziel und wie ein Ursprung, dem Absoluten gleichend, mit dem sie aufleuchtet und das sie dennoch überleuchtet, ein letztes und mildes Strahlen in den Feuerschluchten des aufgerissenen Himmels. Niemals könnte Irrationales zu Rationalem sich zusammenschließen, könnte das Rationale wieder sich auflösen in der Harmonie des lebendigen Gefühls, hätten sie nicht beide teil an einem übergeordneten ehrfurchtgebietenden Sein, das die höchste Wirklichkeit und gleichzeitig die tiefste Unwirklichkeit ist: erst in diesem Zusammenhalt von Wirklichkeit und Unwirklichkeit wird die Ganzheit der Welt und ihre Gestalt sich ergeben, – die Idee der Freiheit ist es, in der die ewige Erneuerung des Humanen sich rechtfertigt, denn im Irdischen unerreichbar muß der Weg zu ihr stets von neuem beschritten werden. Oh, schmerzliche Pflicht zur Freiheit! schreckliche und ewig erneute Revolution der Erkenntnis, in der sich der Aufstand des Absoluten gegen das Absolute rechtfertigt, der Aufstand des Lebens gegen die Vernunft, – Rechtfertigung einer Vernunft, die, scheinbar sich selbst abtrünnig, das Absolute des Irrationalen gegen das Absolute des Rationalen entfesselt, Rechtfertigung, weil in ihr auch die letzte Gewähr gegeben ist, daß die entfesselten irrationalen Kräfte sich wieder zu einem Wertsystem zusammenschließen. Kein Wertsystem, das sich nicht der Freiheit unterwürfe, und sogar das kleinste noch, es fahndet nach der Freiheit, sogar der in irdischeste Einsamkeit und Autonomie verfallene Mensch, er, der nicht weiter als bis zur Freiheit des Mordes gelangt, zur Freiheit des Kerkers, bestenfalls zur Freiheit des Deserteurs, sogar er, der wertentblößte Mensch, auf dem der Zwang alles Irdischen lastet, – preisgegeben dem Atem des Ewigen, gibt es keinen, für den das Himmelszeichen der Freiheit nicht in der Nacht seiner Einsamkeit einmal aufgeglommen wäre: jeder muß seinen Traum erfüllen, böse und heilig zugleich, und er tut es, um der Freiheit teilhaftig zu werden in der Dunkelheit und Dumpfheit seines Lebens. Und so überkam Huguenau manchmal das Empfinden, als säße er in einer Höhle oder in einem finstern Schacht und als blickte er hinaus auf eine kalte Zone, die wie ein Gürtel der Einsamkeit um seinen Standort gelegt war, und das Leben zog in fernen Bildern am dunklen Firmament vorüber, und dann hatte er große Sehnsucht, aus solchem Pferch herauszukriechen und draußen einer Freiheit und Einsamkeit teilhaftig zu werden, deren Existenz er wie eine ihm allein zukommende Schau von irgendwoher ahnte; es war wie ein Wissen um die tiefste Gemeinsamkeit, in die jene tiefste Einsamkeit schließlich umschlagen müßte, aber es gelangte nicht weiter als bis zu der stumpfen Vorstellung, es würde dort draußen möglicherweise gestattet sein, ein brüderliches und herzliches Beisammensein zu erzwingen, mit Todesdrohung oder mit Gewalt oder zumindest mit Ohrfeigen die anderen zu zwingen, daß sie ihn aufnähmen und seine bessere Wahrheit hörten, die er doch nicht aussprechen konnte. Denn mochte er sich auch im Gehaben und in der Lebensführung kaum von jenen anderen unterscheiden, mochte sein Lebenswagen auch immer sicherer auf den Schienen dahingleiten, auf die er bereits in der Jugendzeit gesetzt worden war und die er keinesfalls mehr zu verlassen gedachte, mochte es also auch ein sehr fleischliches, ja massives Leben sein, das hier seinem Tode entgegenrollte, so schien es in einer gewissen Beziehung trotzdem gehobener und luftiger, da er sich mit jedem Tage ausgeschlossener und einsamer fühlte und doch nicht mehr darunter litt: abgegrenzt von der Welt und doch in ihr, rückten ihm die Menschen in stets weitere und ersehntere Fernen, aber er unternahm keinen Versuch, die Ferne zu durchmessen, und auch darin unterschied er sich nicht im geringsten von irgendeinem der übrigen Sterblichen, weil eben ein jeder von ihnen es weiß, daß des Menschen Leben nicht ausreicht, den Weg zu durchschreiten, der wie eine Kreisbahn zu immer höheren Ebenen ansteigt und auf dem das Gewesene und Versinkende als höheres Ziel wieder aufersteht, um mit jedem Schritte zurückzusinken in die ferneren Nebel: unendliche Bahn des geschlossenen Ringes und der Vollendung, luzide Realität, in der die Dinge zerfallen und auseinanderrücken bis zu den Polen und bis an die Grenzen der Welt, wo alles Getrennte wieder eins wird, wo die Entfernung wieder aufgehoben ist und das Irrationale seine sichtbare Gestalt annimmt, wo Furcht nicht mehr zu Sehnsucht, Sehnsucht nicht mehr zu Furcht wird, wo die Freiheit des Ichs wieder in die platonische Freiheit Gottes mündet, unendliche Bahn des geschlossenen Ringes und der Vollendung, für den nur beschreitbar, der sein Wesen erfüllt hat, – unerreichbar für jeden.

Unerreichbar für jeden! Und selbst wenn Huguenau statt im kommerziellen in einem revolutionären System gelandet wäre, seinem Wandeln wäre die Bahn der Vollendung nach wie vor verschlossen gewesen. Denn Mord bleibt Mord, Bösheit bleibt Bösheit, und die Philistrosität eines auf das Individuum und seine irrationalen Triebe eingeschränkten Wertgebietes, dieses letzte Produkt eines jeden Wertzerfalls, bleibt der Punkt der absoluten Verworfenheit, bleibt gewissermaßen der invariant absolute Nullpunkt, der allen Wertskalen und allen Wertsystemen ungeachtet ihrer gegenseitigen Relativität gemeinsam ist, gemeinsam zu sein hat, weil kein Wertsystem aufgestellt werden kann, das in seiner Idee und in seiner logischen Wesenheit nicht der »Bedingung möglicher Erfahrung« unterworfen wäre, empirische Abschattung einer allen Systemen gemeinsamen logischen Struktur und einer an den Logos gebundenen apriorischen Unwandelbarkeit. Und fast scheint es Ausfluß der gleichen logischen Notwendigkeit, daß der Übergang von einem Wertsystem zu einem neuen jenen Nullpunkt der Wertatomisierung passieren muß, daß er über ein Geschlecht hinweggehen muß, das, bar jeder Beziehung zum alten wie zum neuen Wertsystem, eben in dieser Beziehungslosigkeit, in dieser an Wahnsinn grenzenden Gleichgültigkeit gegen fremdes Leid, in dieser radikalsten Wertentblößung die ethische und damit die historische Legitimation für die grausame Nichtachtung liefert, der alles Humane in Zeiten der Revolution ausgesetzt ist. Und vielleicht muß es so sein, weil bloß ein Geschlecht von solch absoluter Stummheit fähig ist, den Anblick des Absoluten und den aufbrechenden Feuerschein der Freiheit zu ertragen: Glanz, der über die tiefste Finsternis und nur über die tiefste Finsternis hinzuckt, seine irdische Spiegelung ist wie ein Bild im dunklen Teich, und der irdische Widerhall seines Schweigens ist das eiserne Rasseln des Mordes, dennoch undurchdringlicher Schall der Stummheit, aufgerichtet wie eine Wand dröhnenden Schweigens zwischen Mensch und Mensch, daß seine Stimme nicht hinüber, nicht herüber zu dringen vermag und er erbeben muß. Furchtbarer Spiegel, furchtbares Echo der zum Absoluten durchbrechenden Ratio! ihrer Strenge irdisches Widerspiel wird zum Zwang und zur stummen Gewalt, und die rationale Unmittelbarkeit ihres göttlichen Zieles wird zur Unmittelbarkeit des Irrationalen, das den Menschen zu widerwillig stummem Gehorsam überwältigt hat, ihre unendliche Fragekette wird zur eingliedrigen des Irrationalen, das nicht mehr fragt, sondern nur noch handelt, eine Gemeinschaft zersprengend, die es nicht mehr gibt, da sie ohne Kraft, doch voll des bösen Willens sich selbst im Blut ersäuft und in Giftgasen erstickt. Oh, welch einsamer Tod ist das irdische Widerspiel der göttlichen Einsamkeit! Hinausgestoßen in das Grauen einer entfesselten Vernunft, ihr zum Dienste befohlen, ohne sie zu begreifen, Gefangener eines übergeordneten Geschehens, Gefangener seiner Irrationalität, gleicht der Mensch dem Wilden, der in böser Verzauberung den Zusammenhang zwischen Mittel und Erfolg nicht durchschaut, gleicht er dem Wahnsinnigen, der sich aus dem Gewirr seines Irrationalen und Überrationalen nicht befreien kann, gleicht er dem Verbrecher, der nicht imstande ist, den Weg zur Wertwirklichkeit einer ersehnteren Gemeinschaft zu finden. Unwiederbringlich entschwindet ihm das Gewesene, uneinbringlich entweicht ihm das Künftige, und das Dröhnen der Maschinen weist ihm keinen Weg zu dem Ziel, das unerreichbar und küstenlos im Nebel der Unendlichkeit die schwarze Fackel des Absoluten erhebt. Furchtbare Stunde des Todes und der Zeugung! furchtbare Stunde des Absoluten, getragen und ertragen von einem Geschlecht, das sich ausgelöscht hat, das nichts von der Unendlichkeit weiß, in die es durch seine eigene Logik getrieben wird, – unbelehrt, hilflos, sinnlos sind sie dem Orkan des Eisigen preisgegeben, sie müssen vergessen, um leben zu können, und sie wissen nicht, warum sie sterben. Ihr Weg ist der Weg Ahasvers, ihre Pflicht ist Ahasvers Pflicht, ihre Freiheit ist die Freiheit des Gehetzten und ihr Ziel ist das Vergessen. Verlorenes Geschlecht! nichtexistent wie das Böse selber, gesichts- und geschichtslos im Pfuhl des Ununterscheidbaren, verdammt, in der Zeit sich zu verlieren, geschichtslos in einer Zeit, die sich zur absoluten Geschichte erhebt! Wie immer der Einzelmensch sich zu den Ereignissen der Revolution stelle, ob er sich nun reaktionär an überlebte Formen klammere, das Ästhetische für das Ethische nehmend, wie jeder Konservativismus es tut, oder ob er sich abseits halte in der Passivität egoistischen Wissens, oder ob er, seinen irrationalen Trieben hingegeben, die destruktive Arbeit der Revolution besorge:

er bleibt schicksalshaft unethisch, ausgestoßen aus der Epoche, ausgestoßen aus der Zeit,

doch nie und nirgends ist der Geist der Epoche so stark, so wahrhaft ethisch und historisch wie in jenem letzten und zugleich ersten Aufflackern, das die Revolution ist, – Tat der Selbstaufhebung und der Selbsterneuerung, letzte und größte ethische Tat des zerfallenden, erste des neuen Wertsystems, Augenblick der radikal geschichtsbildenden Zeitaufhebung im Pathos des absoluten Nullpunktes!

Groß ist die Angst des Menschen, der sich seiner Einsamkeit bewußt wird und aus seinem eigenen Gedächtnis flüchtet; ein Bezwungener und Ausgestoßener ist er, zurückgeworfen in tiefste kreatürliche Angst, in die Angst dessen, der Gewalt erleidet und Gewalt tut, und zurückgeworfen in eine übermächtige Einsamkeit, kann seine Flucht und seine Verzweiflung und seine Dumpfheit so groß werden, daß er daran denken muß, sich ein Leid anzutun, dem steinernen Gesetz des Geschehens zu entrinnen. Und in der Furcht vor der Stimme des Gerichtes, die aus dem Dunkel hervorzubrechen droht, erwacht in ihm mit doppelter Stärke die Sehnsucht nach dem Führer, der leicht und milde bei der Hand ihn nimmt, ordnend und den Weg weisend, der Führer, der keinem mehr nachfolgt und der vorangeht auf der unbeschrittenen Bahn des geschlossenen Ringes, aufzusteigen zu immer höheren Ebenen, aufzusteigen zu immer hellerer Annäherung, er, der das Haus neu erbauen wird, damit aus Totem wieder das Lebendige werde, er selber auferstanden aus der Masse der Toten, der Heilsbringer, der in seinem eigenen Tun das unbegreifbare Geschehen dieser Zeit sinnvoll machen wird, auf daß die Zeit neu gezählt werde. Dies ist die Sehnsucht. Doch selbst wenn der Führer käme, das erhoffte Wunder bliebe aus: sein Leben wäre Alltag im Irdischen, und gleichwie der Glaube im Für-wahr-Halten versenkt ist und das Für-wahr-Halten im Glauben einer stets rationalen Religion, der Heilsbringer wandelt im unscheinbarsten Gewande und vielleicht ist es der Passant, der jetzt über die Straße geht, – denn wo immer er wandle, im Gewühl der Großstadtstraßen oder im Abendschein der Felder, sein Weg ist der Zionsweg, dennoch unser aller Weg, ist ein Suchen der Furt zwischen dem Bösen des Irrationalen und dem Bösen des Überrationalen und auch seine Freiheit ist die schmerzliche Freiheit der Pflicht, ist Aufopferung und Sühne für das Geschehene, auch sein Weg ist der Weg der Prüfung, ist Untertan der Strenge, und auch seine Verlassenheit ist die des Kindes, ist die Verlassenheit des Sohnes, dem das Ziel im Unerreichbaren entschwindet, da er vom Vater verlassen ward. Und trotzdem: schon die Hoffnung auf das Wissen des Führers ist eigenes Wissen, schon das Ahnen der Gnade ist Gnade, und so vergeblich unser Hoffen auch sei, daß mit dem sichtbaren Leben des Führers das Absolute sich im Irdischen jemals erfüllen werde, ewig annäherbar bleibt das Ziel, unzerstörbar die Messiashoffnung der Annäherung, ewig wiederkehrend die Geburt des Wertes. Und mögen wir auch von der stets zunehmenden Stummheit des Abstrakten umgeben sein, der Mensch verfallen dem kältesten Zwange, ins Nichts geschleudert, hinausgeschleudert das Ich, es ist der Hauch des Absoluten, der über die Welt hinwegfegt, und aus dem Ahnen und Herausfühlen der Wahrheit, aufsprießt die feierliche und feiertägliche Sicherheit, mit der wir es wissen, daß jeder das Fünklein im Seelengrunde trägt und daß die Einheit unverlierbar bleibt, unverlierbar die Brüderlichkeit der gedemütigten Menschenkreatur, aus deren tiefster Angst unverlierbar und unverloren die Angst einer göttlichen Gnade leuchtet, Einheit des Menschen, aufscheinend in allen Dingen, über Räume und Zeiten hinweg, Einheit, in der alles Licht anhebt und die Heiligung alles Lebendigen, – Symbol des Symbols, Spiegel des Spiegels, auftauchend aus dem in Finsternis versinkenden Dasein, aufquellend aus Wahnsinn und Traumlosigkeit wie ein geschenktes, dem Unbekannten abgerungenes und wiedergefundenes mütterliches Leben, Urbild des Sinnbildes, im Aufstand des Irrationalen, auslöschend das Ich und seine Grenzen durchbrechend, Zeit und Entfernung aufhebend, im Orkan des Eisigen, im Sturme des Hineinstürzens springen alle Türen auf, es bewegen sich die Grundfesten des Gefängnisses, und aus der schwersten Finsternis der Welt, aus unserer bittersten und schwersten Finsternis wird dem Hilflosen der Ruf, tönt die Stimme, die das Gewesene mit allem Künftigen verbindet und die Einsamkeit mit allen Einsamkeiten, und es ist nicht die Stimme der Furchtbarkeit und des Gerichts, zaghaft tönt sie im Schweigen des Logos, dennoch von ihm getragen, emporgehoben über den Lärm des Nicht-Existenten, es ist die Stimme des Menschen und der Völker, die Stimme des Trostes und der Hoffnung und der unmittelbaren Güte: »Tu dir kein Leid! denn wir sind alle noch hier!«

 

Schluß der Schlafwandler

Wien 1928-31

 


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