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Es wäre falsch zu sagen, daß Hanna das Urlaubsende herbeisehnte. Sie fürchtete sich davor. Nacht für Nacht war sie die Geliebte dieses Mannes. Und ihr Tagewerk, auch bisher nur ein verwischtes Hinhuschen des Bewußtseins, das dem Abend und dem Bett entgegendämmerte, es war jetzt noch viel eindeutiger solchem Ziele zugewandt, in einer erschreckenden Eindeutigkeit, die kaum mehr Verliebtheit genannt werden durfte, so hart, so glücklos war alles in dem Wissen um das Frau-Sein und Mann-Sein eingetaucht: eine Seligkeit ohne Lächeln, eine geradezu anatomische Seligkeit, die für ein Rechtsanwaltsehepaar teils zu göttlich, teils zu unwürdig war.

Gewiß war ihr Leben ein Hindämmern. Aber dieses Hindämmern ging sozusagen schichtenweise vonstatten, es versank niemals ins Bewußtlose, war eher ein allzu deutlicher Traum mit dem schmerzlichen Wissen um die Lähmung des Willens, und je unfreier, je wahrhaft faunischer oder florischer das Geschehen sie umfaßt hielt, desto wacher wurde die Schicht des Erkennens, die darüber lag. Man war bloß nicht imstande, davon zu sprechen, und nicht etwa nur, weil Scham sich dazwischen stellte, sondern viel eher, weil das Wort wohl niemals an jene Entblößung heranreicht, die aus dem Tun herausspringt wie die Nacht aus dem Tage, – es war sozusagen auch das Reden in mindestens zwei Schichten geteilt, in ein Nachtreden, das ein Stammeln war, untergeordnet dem Geschehen, und in ein Tagreden, das, losgelöst von dem Geschehen in einem weiten Bogen darum herum ging und eine Einkreisungsmethode befolgte, die immer die Methode des Rationalen ist, ehe sie sich im Aufschrei und im Weinen der Verzweiflung selber aufgibt. Und oftmals war dann ihr Reden ein Tasten und Suchen nach der Ursache der Krankheit, die sie befallen hatte. »Wenn der Krieg vorbei ist«, sagte Heinrich fast täglich, »wird alles wieder anders werden … wir sind durch den Krieg irgendwie primitiver geworden …« – »Ich kann es nicht verstehen«, pflegte Hanna dann zu antworten, oder: »Es ist gar nicht durchzudenken, es ist alles unvorstellbar.« Dabei wies sie es im Grunde ab, mit Heinrich wie mit einem Gleichberechtigten zu sprechen; er war schuldtragend und eigentlich sollte er sich verteidigen, statt über den Dingen zu stehen. Und während sie vor dem Spiegel die blonden Schildpattkämme aus den lichten Haaren nahm, sagte sie: »Der merkwürdige Mensch in der Stadthalle hat von der Einsamkeit gesprochen.« Heinrich lehnte ab: »Der war betrunken.« Hanna kämmte ihr Haar und mußte daran denken, daß ihre Brüste von den gehobenen Armen gestrafft wurden. Sie spürte es unter der Seide des Hemdchens, auf der sie sich wie zwei kleine spitze Zelte abzeichneten. Man sah es im Spiegel, neben dem, links und rechts, je eine Kerzenglühlampe hinter zartgemustertem rosa Schirm leuchtete. Dann hörte sie Heinrich sagen: »Wir sind wie durch ein Sieb gerüttelt worden … verstäubt.« Sie sagte: »In einer solchen Zeit dürften keine Kinder zur Welt kommen.« Sie dachte an den Jungen, der Heinrich so ähnlich sah, und unvorstellbar schien es ihr, daß ihr blonder Körper dazu eingerichtet war, ein Stück des Mannes aufzunehmen; eine Frau zu sein. Sie mußte die Augen schließen. Er sagte: »Möglich, daß eine Generation von Verbrechern heranwächst … nichts bürgt dafür, daß es heute oder morgen bei uns nicht genauso losgeht wie in Rußland … na, hoffentlich nicht, … aber dagegen spricht bloß die ungeheure Haltbarkeit einer noch vorhandenen Ideologie …« Sie spürten beide, wie diese Rede ins Leere ging. Es war nicht viel anders, als wenn ein Angeklagter sagen wollte: »Prachtvolles Wetter heute, Hoher Gerichtshof«, und Hanna schwieg für einen Augenblick, ließ sich von der Haßwelle tragen, von dieser Haßwelle, in der ihre Nächte noch schmählicher, noch tiefer, noch lustvoller wurden. Dann sagte sie: »Wir müssen es abwarten, … es hängt wohl mit dem Krieg zusammen … aber nicht so … es ist, als ob der Krieg erst das Zweite wäre …« – »Inwiefern das Zweite?« fragte Heinrich. Hanna machte eine Falte zwischen den Augenbrauen: »Wir sind das Zweite und der Krieg ist das Zweite … das Erste ist etwas Unsichtbares, etwas, das aus uns herausgekommen ist …« Sie erinnerte sich, daß sie das Ende der Hochzeitsreise ersehnt hatte, um – so glaubte sie damals eilends zur Einrichtung ihres Heimes zurückkehren zu können. Immerhin, die jetzige Situation war so ähnlich; auch eine Hochzeitsreise ist ein Urlaub. Was sich damals gemeldet hatte, war wohl auch nichts anderes gewesen als die Ahnung von der Abgeschlossenheit und Einsamkeit, – vielleicht, so dämmerte ihr jetzt, ist die Einsamkeit das Erste, ist Einsamkeit der Kern der Krankheit! Und weil es damals gleich nach ihrer Hochzeit begonnen hatte, – Hanna rechnete nach: ja, schon in der Schweiz hatte es begonnen, – und weil alles so genau stimmte, verschärfte sich ihr Verdacht, Heinrich müsse damals einen irreparablen Fehler oder sonst irgendein Unrecht an ihr begangen haben, ein Unrecht, das nie mehr ungeschehen zu machen, sondern nur mehr zu vergrößern war, ein gigantisches Unrecht, das mit dazu beigetragen hatte, den Krieg zu entfesseln. Sie hatte Crème aufgelegt und mit den Fingerspitzen sorgfältig verrieben, und nun betrachtete sie ihr Gesicht im Spiegel mit behutsamer Aufmerksamkeit. Das Jungmädchengesicht von damals war verschwunden und zu einem Frauengesicht geworden, durch welches das des jungen Mädchens nur mehr durchschimmerte. Sie wußte nicht, warum dies alles zusammengehörte, aber sie beschloß den schweigenden Gedankengang und sagte: »Der Krieg ist nicht die Ursache, er ist nur ein Zweites.« Und dann wußte sie: ein zweites Gesicht ist der Krieg, ein Nachtgesicht. Es war ein Auseinanderfallen der Welt, ein Nachtgesicht, zerstäubend zu kalter und ganz leichter Asche, und es war das Auseinanderfallen ihres eigenen Gesichtes, war wie dieses Auseinanderfallen, das sie spürte, wenn er sie in den Achselhöhlen küßte. Er sagte: »Gewiß, der Krieg ist erst die Folge unserer verfehlten Politik«, und vielleicht hätte er sogar zu begreifen vermocht, daß die Politik auch nur ein Zweites ist, soferne es eine Ursache gibt, die noch tiefer liegt. Doch er war von seiner Erklärung befriedigt, und Hanna, mit dem jetzt unersetzbaren französischen Parfüm sparsam sich betupfend und den Duft auf schnuppernd, hörte nicht mehr hin: sie hatte den Nacken gebeugt, um auf den silbrigen Haaransatz geküßt zu werden, und so geschah es. »Noch«, sagte sie.

 


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