Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Major war einigermaßen peinlich berührt, als die Ordonnanz ihm den Besuch des Herrn Redakteur Esch meldete. War dieser Zeitungsmann ein Abgesandter Huguenaus? ein Sendbote des Pfuhls und des Untergründigen? Der Major vergaß darüber beinahe, daß Huguenau selber zwischen sich und dem angeblich politisch suspekten Esch einen Trennungsstrich gezogen hatte, und da er nach ein paar Augenblicken des Unbehagens nichts Entscheidendes fand, sagte er schließlich: »Na, ist ja egal … ich lasse bitten.«
Esch allerdings erweckte weder den Eindruck eines Sendboten der Hölle, noch den eines politisch suspekten Individuums; er war betreten und verlegen wie einer, der seinen Entschluß schon wieder bereut: »Es handelt sich, Herr Major … kurz, mir ist der Aufsatz des Herrn Major sehr zu Herzen gegangen …«
Major von Pasenow war es klar, daß er sich durch gleißnerische Reden nicht verführen lassen dürfe, so beglückend es auch gewesen wäre, an die Wirkung seiner schriftstellerischen Betrachtungen zu glauben.
»Und wenn mich der Herr Major als Teufel bezeichneten, den man auszutreiben hat …«
Worauf der Major festzustellen für nötig befand, daß ein Bibelzitat keinerlei persönliche Spitze oder Anspielung beinhalte, daß solches sogar eine Herabwürdigung der Bibel bedeuten würde, und daß wir bei jeder Wendung in unserem Leben, wenn es zum Besseren sein soll, ein Stück des Teuflischen hinter uns lassen müssen. Falls Herr Esch also gekommen sei, um jetzt noch nachträglich Rechenschaft oder Genugtuung zu fordern, so könnte er es bei dieser Erklärung bewenden lassen.
Esch hatte während der Rede des Majors seine Festigkeit wiedererlangt: »Nein, Herr Major, darum handelt sich's nicht. Ich würde sogar den Teufel auf mich nehmen, … freilich nicht, weil man mir einige Male meine Zeitung konfisziert hat«, er machte eine wegwerfende Geste, »nein, Herr Major, man kann mir nicht nachsagen, daß meine frühere Zeitungstätigkeit unanständiger gewesen ist als meine jetzige. Ich komme mit einem andern Anliegen.« Und er verlangte nicht mehr und nicht weniger, als daß der Major ihm und seinen Freunden – oder wie er sich in seiner Erregung ausdrückte, den Brüdern – den Weg zum Glauben weisen möge.
Wie er da vor dem Schreibtisch stand, den Hut zwischen den Händen, die Backenknochen von den Flecken der Erregung gerötet, einer Röte, die in der bräunlichen Haut der Wangenhöhlen verebbte, erinnerte Esch an des Majors Gutsverwalter. Was hat ein Gutsverwalter vom Glauben zu reden? und der Major hatte das Gefühl, als sei die Beschäftigung mit Glaubensfragen ein dem Gutsherrn vorbehaltenes Recht. Bilder des gewohnten religiösen Lebens stiegen in ihm auf, er sah die Kirche, bei der er mit seiner Familie vorfuhr, im sommerlichen Staub mit dem hochräderigen Wagen, mit dem niedern pelzbedeckten Schlitten zur Winterszeit; sah, wie er mit seinen Kindern und dem Gesinde die weihnachtliche und österliche Bibelstunde abhielt, sah die polnischen Mägde in roten Kopftüchern und Kitteln zur katholischen Kirche des Nachbardorfes wandern, und während er durch jene Kirche an Herrn Eschs römisch-katholische Glaubenszugehörigkeit gemahnt wurde, rückte ihm dieser in eine unangenehme Verwandtschaft zu den polnischen Landarbeitern und in jene Atmosphäre beunruhigender Unzuverlässigkeit, mit welcher er teils aus persönlicher Erfahrung, teils wegen ihrer Politik, teils aus bloßem Vorurteil, die polnische Nation zu behaften pflegte. Und da es nun einmal so ist, daß die Gewissensfragen des Nebenmenschen gar oft das Unbehagen hervorrufen, als ob hier einer etwas übertreibe, was ihm keineswegs so wichtig ist, wie er vorgibt, so forderte der Major Herrn Esch wohl zum Sitzen auf, doch er ging auf das angeschlagene Thema nicht ein, sondern erkundigte sich nach dem Gedeihen der Zeitung.
Indes war Esch nicht der Mann, der sich so leicht von einem Vorhaben abbringen ließ: »Eben die Zeitung verpflichtet Sie, Herr Major, mich anzuhören«, – und auf den fragenden Blick des Majors – »... ja, Sie, Herr Major, haben dem Kurtrierschen einen neuen Weg vorgeschrieben … und wenn ich mir auch selbst immer gesagt habe, daß Ordnung in der Welt gemacht werden muß und daß auch der Redakteur dazu beitragen muß, sofern er nicht ein Anarchist und gewissenloses Schwein sein will … Herr Major, alle suchen die Rettung, alle fürchten sie das Gift, alle warten, daß die Erlösung komme und die Ungerechtigkeit vernichtet werde.«
Er war ins Schreien geraten und der Major sah ihn befremdet an. Esch fand sich wieder zurecht: »Sehen Sie, Herr Major, der Sozialismus, der ist bloß ein Zeichen unter vielen anderen … aber seit dem Artikel in der Eröffnungsnummer … Herr Major, es handelt sich um die Freiheit und um die Gerechtigkeit in der Welt … man spielt nicht mit Menschenleben, es muß etwas geschehen, sonst sind alle Opfer umsonst gewesen.«
»Alle Opfer umsonst …« wiederholte der Major wie aus einem Erinnern heraus. Doch dann besann er sich: »Wollen Sie etwa, Herr Esch, die Zeitung ins sozialistische Fahrwasser zurücklenken? und wollen Sie dazu gar meine Unterstützung?«
Eschs Miene war respektlos und verächtlich: »Auf den Sozialismus kommt's nicht an, Herr Major, … auf das neue Leben kommt es an … auf die Anständigkeit … auf das gemeinsame Suchen nach dem Glauben … meine Freunde und ich, wir haben eine Bibelstunde eingerichtet … Herr Major, es war Ihnen doch ernst ums Herz, als Sie Ihren Artikel schrieben, da dürfen Sie uns jetzt nicht verstoßen.«
Es war klar: Esch präsentierte eine Rechnung, wenn auch nur eine seelische, und der Major mußte wieder des Verwalters gedenken, der ihm in der Kanzlei mit seinen Rechnungen gegenübersitzt, und er denkt auch wieder an die polnischen Landarbeiter, die sich bemühen, ihn übers Ohr zu hauen. Drohten nicht auch die mit dem Sozialismus? Vielleicht war es längst Vergessenes, als er sagte: »Immer verstößt uns einer, Herr Esch.«
Esch war aufgestanden und ging seiner Gewohnheit gemäß mit ungelenken Schritten im Zimmer auf und ab. Die scharfen Längsfalten neben dem Mund waren noch tiefer als sonst; wie vergrämt er aussieht, dachte der Major, unglaubhaft ist es, daß dieser ernste Mensch ein Wirtshausgänger und ein Besucher anrüchiger Lokale sein soll, ein Sendling aus der Welt des Untergründigen. Ist er solch ein Heuchler? Es war so unvorstellbar wie jene Welt selber.
Esch pflanzte sich unvermittelt vor ihm auf: »Herr Major, um es gerade herauszusagen … wie vermag ich mein Amt auszufüllen, wenn ich mir nicht einmal im klaren bin, ob uns der Weg nicht im protestantischen Glauben erleichtert wäre …«
Nun hätte der Major wohl erwidern können, daß es keineswegs zu den Pflichten eines Schriftleiters gehöre, theologische Probleme zu lösen, – aber er war über die direkte Frage Eschs viel zu sehr erschrocken, um überhaupt eine Antwort zu finden: es war nicht viel anders als das Ersuchen Huguenaus um Heereslieferungen, und für einen Augenblick schienen die Gestalten der beiden Männer wieder verfließen zu wollen. Der Major griff nach dem Eisernen Kreuz an seiner Brust und seine Haltung wurde dienstlich: ihm, einem Militär in exponierter Position, stand es ihm an, Proselyten zu machen? die katholische Kirche galt schließlich irgendwie als Verbündete, und er hätte es auch nicht auf sich genommen, einen Österreicher oder Bulgaren oder Türken zu veranlassen, daß er den eigenen Staatsverband zugunsten des deutschen aufgebe. Es war recht ärgerlich, wie dieser Esch auf seinem Schein bestand, und doch mutete es wieder süß und verlockend an: war nicht die Gnade ewig sich erneuernden und stets neu sich gebärenden Glaubens in dieser Aufforderung, sich mitzuteilen? Aber noch wehrte sich der Major und meinte darauf hinweisen zu müssen, daß er, selber ein Protestant, sich nicht berufen fühle, einem Katholiken Führer in Glaubensdingen zu sein.
Esch machte wieder seine wegwerfende Handbewegung, das tue nichts zur Sache; in des Majors Artikel heiße es, der Christ habe dem Christen beizustehen, – also gäbe es keinen Unterschied zwischen katholischer und protestantischer Christlichkeit, und der katholische Stadtpfarrer wisse noch viel weniger von solchen Zweifeln und Fragen.
Der Major antwortete nicht. War es wirklich ein Netz aus seinen eigenen Worten, das sich über ihm zusammenzog? mit dem ihn jener hinabzerren wollte in den Pfuhl und in die Dunkelheit? Und dennoch war es, als wollte eine sanfte Hand ihn hinausgeleiten zu den stillen Ufern ruhiger Flüsse. Er mußte an die Taufe im Jordan denken, und beinahe wider seinen Willen sagte er: »In Dingen des Glaubens gibt es keine Vorschrift, Herr Esch; der Glaube ist ein natürlich springender Quell, wie es schon in der Bibel heißt«, und dann setzte er sinnend hinzu: »die Gnade muß ein jeder allein erfahren.«
Unhöflich hatte Esch dem Major den Rücken gekehrt; er stand beim Fenster, hielt die Stirn gegen die Scheiben gepreßt. Jetzt wandte er sich um; sein Ausdruck war ernst, beinahe bittend: »Herr Major, es handelt sich ja nicht um Vorschriften, … es handelt sich um Vertrauen …« und nach einer Weile: »sonst wäre es ja …« das richtige Wort fiel ihm nicht ein, »sonst wäre die Zeitung auch nicht besser als alle andern Zeitungen … eine feile Presse … Demagogengeschwätz … Sie, Herr Major, aber wollten etwas anderes …«
Wieder fühlte Major v. Pasenow die Süßigkeit des Hinströmens, des Fortgetragenwerdens, als wollte eine Silberwolke ihn aufnehmen, schwebend über den Frühlingsflüssen. Geborgenheit des Vertrauens! Nein, dieser Mann, der da ernst vor ihm stand, war kein Abenteurer, kein Verräter, kein Unzuverlässiger, keiner, der das Vertrauen auf die andere Seite des Lebens trägt, schamlos und nackt es dort auszustellen. So begann der Major erst zögernd, doch dann immer wärmer werdend, von der Führerschaft Luthers zu erzählen, in dessen Nachfolge keiner verzweifeln müsse, keiner, Herr Esch! denn ein jeder trage das Fünklein im Seelengrunde, und – oh, wie stark fühlte es Major v. Pasenow selber, war es ihm auch zu sagen verwehrt – keiner ist von der Gnade ausgeschlossen, dürfe doch jeder, der in der Gnade ist, hinausgehen, das Heil zu predigen. Und jeder, der in das eigene Herz sich versenkt, wird die Wahrheit erkennen und den Weg; und er wird wohl auch diesen Weg zur Klarheit finden und wird ihn beschreiten. »Seien Sie getrost, Herr Redakteur«, sagte er, »es wird sich alles zum Besten wenden.« Und er sei auch bereit, wenn Herr Redakteur Esch es wünsche und seine eigene knappe Zeit es erlaube, wieder mit ihm zu sprechen – der Major hatte sich erhoben und Esch über den Tisch hin die Hand gereicht –, im übrigen werde er nächstens einmal zur Besichtigung der Druckerei beim »Kurtrierschen Boten« vorbeikommen. Er nickte Esch zu. Der war unschlüssig stehen geblieben, und der Major fürchtete eine Dankesrede. Aber es folgte kein Dank, sondern Esch fragte fast grob: »Und meine Freunde?« Der Major wurde neuerdings ein wenig dienstlicher: »Später, Herr Esch, später vielleicht.« Und Esch machte eine ungelenke Verbeugung.
Trotzdem gab es für Esch und seine radikale Impetuosität kein Halten mehr. Seiner suchenden Seele war es gleichzeitig eine Huldigung für den Major, als er wenige Tage später – zum Erstaunen aller, die es erfuhren, und das war bald die ganze Stadt – den protestantischen Glauben annahm.