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82

Ein achtjähriges Kind, das die Absicht hat, allein in die Welt hinauszuwandern.

Es geht auf dem schmalen Rasenstreifen zwischen den Radspuren, und es sieht die verwelkenden blaßlila Kleeknospen, die sich hierher verirrt haben, es sieht altersgraue, trockene Kuhfladen, in deren Rissen das Gras wieder wächst, und es bemerkt die Kletten, die sich an die Strümpfe hängen und stechen. Das Kind sieht auch sonst allerlei, sieht die Herbstzeitlosen in den Wiesen, sieht zwei gelbgraue Kühe, die am Talhange grasen, und weil es nicht fortwährend in die Landschaft schauen kann, schaut es auch auf sein Kleid und sieht die Heckenröschen, mit denen der schwarze Kattun bedruckt ist: immer eine offene Blume und eine Knospe zusammen an einem hellgrünen Stengel zwischen zwei grünen Blättchen; in der Mitte der offenen Rose ist ein gelber Punkt. Das Kind wünscht sich einen schwarzen Hut, an den man eine Rose samt Knospe und zwei Blättern anstecken würde, – das würde gut zusammenpassen. Aber es besitzt einen grauen Lodenmantel mit Kapuze.

Dem Kinde nun, das längs des Flusses so dahinwandert und eine Hand in die Hüfte gestemmt hält, während die andere eine Mark für die Wegzehrung fest umschließt, dem Kinde ist die Gegend wohlbekannt. Es fürchtet sich nicht. Wie eine Hausfrau durch ihre Wohnung, geht das Kind durch die Landschaft, und wenn es wegen des angenehmen Gefühls in der großen Zehe einen Stein von dem Rasenstreifen stößt, so macht es damit auch ein wenig Ordnung. Ringsum ist alles klar. Das Kind sieht nun die Baumgruppen, die plastisch in der durchsichtigen Luft des frühen Herbstnachmittags stehen, und die Landschaft ist ihm ohne Geheimnis: hinter der durchsichtigen Luft ist der hellblaue Himmel, zwischen dem durchsichtig grünen Gelaub steht, als müßte es so sein, immer wieder ein Baum mit gelben Blättern, auch er abgehoben gegen den Himmel, und manchmal, obwohl kein Hauch sich regt, weht es von irgendwoher ein gelbes Blatt, das langsam kreiselnd auf den Weg sich senkt.

Wenn das Kind seine Augen nach rechts wendet, dorthin, wo die Weiden und die Gebüsche das Flußufer säumen, so vermag es den weißen Schotter im Flußbett zu sehen, es sieht auch das Wasser, denn das Laub des Gebüsches ist im Herbst schütter geworden und zeigt das braune Geäst, es ist nicht mehr die undurchdringlich grüne Wand wie im Sommer. Wendet aber das Kind die Augen nach links, so sieht es die Sumpfwiese: unheimlich und heimtückisch liegt sie da, und will man den Fuß in ihr Gras setzen, so quatscht das Wasser auf und quillt in die Schuhe; man darf so eine Wiese nicht überqueren, denn wer weiß? man könnte im Sumpfe unrettbar ersticken.

Das Naturgefühl der Kinder ist geringer und trotzdem intensiver als das der Erwachsenen. Sie werden nicht an einem schönen Aussichtspunkt verweilen, die Gegend in sich aufnehmen, aber sie können von einem Baum, der auf dem fernen Hügel steht, so sehr angezogen werden, daß sie ihn am liebsten in den Mund nehmen möchten und hinlaufen, ihn zu berühren. Und die Landschaft des großen Tals, die sich ihnen zu Füßen weitet, sie wollen sie nicht betrachten, sondern sie wollen sich in sie hineinstürzen, als könnten sie damit auch die eigene Bangigkeit hineinwerfen; deshalb sind Kinder in steter, oftmals nutzloser Bewegung, wälzen sich im Grase, klettern auf Bäume, versuchen das Laub zu essen, und verbergen sich schließlich in der Baumkrone oder in der dunklen Geborgenheit eines Gebüsches.

Ist also vieles von dem, was im allgemeinen der schier unerschöpflichen Kraftentfaltung der Jugend und ihrem sinnlos sinnvollen Überschäumen zugeschrieben wird, nichts anderes als die nackte Angst der Kreatur, die zu sterben begonnen hat, da sie ihre Einsamkeit erkennt, ist also in sehr vieler Beziehung das Herumlaufen der Kinder ein Herumirren am Beginn des Lebenslaufs, ist also ihr von den Erwachsenen so oft als unmotiviert gerügtes Lachen das Lachen desjenigen, der sich von der Einsamkeit überrascht und überfallen sieht, so wird es nicht nur verständlich, daß ein achtjähriges Kind den Entschluß zu fassen vermag, in die Welt hinauszuwandern, um mit solch außerordentlichem, man möchte wohl meinen, heroischem und letztem Aufgebot die eigene Einsamkeit zusammenzuraffen, in ihr die große Einsamkeit zu besiegen, die Unendlichkeit gegen die Einheit zu werfen, die Einheit gegen die Unendlichkeit, – nicht nur dies wird verständlich, und nicht nur daß es bei einer derartigen Unternehmung weder auf die üblichen Motive ankommt, noch auf deren Gewicht, sondern daß es sich hier um ganz andere Motivationen handelt: es kann etwa ein Schmetterling, also ein Ding so geringen Gewichtes, daß es in keiner Weise in die Waagschale fällt, von bestimmendem Einfluß auf den Gang der Angelegenheit werden, ja, das kann geschehen, – wendet sich zum Beispiel der Schmetterling, der eine Zeitlang vor dem Kinde hergeflattert ist, jetzt vom Wege fort, um über die Sumpfwiese hin zu verschwinden, so ist dies bloß in den Augen der Erwachsenen belanglos, weil diese nicht zu sehen vermögen, daß die Seele des Schmetterlings, nicht er selber, dennoch er selber es ist, der das Kind verlassen hat. Und da bleibt das Kind stehen, es löst die Hand aus der Hüfte und mit einer von vornherein zum Scheitern verurteilten Haschbewegung hascht es nach dem längst schon Enteilten.

Nun legt das Kind zwar noch eine Strecke des ursprünglichen Weges zurück. Es gelangt fast bis zu jener großen Eisenbrücke, welche die von Osten kommende und zur Stadt hinstrebende Landstraße über den Fluß bringt. An dieser Stelle würde der Uferpfad, dem das Kind bisher gefolgt ist, die Landstraßenböschung hinauf- und jenseits wieder hinunterführen. Doch das Kind gelangt nicht einmal bis zu diesem Punkt. Denn angesichts dieser durchaus wohlbekannten Brücke, angesichts des grauen Gitterwerks, durch welches hindurchblickend, der schwarze Tannenwald in lauter schwarze Vierecke geteilt ist, Anblick, vor dem das Kind sich stets gefürchtet hat, und angesichts dieser überraschenden, scheinbar nie endenwollenden Bekanntheit der Gegend, entschließt sich das Kind nun plötzlich, das Tal endgültig zu verlassen. Gedacht, getan. Und wenn das Kind, da es von daheim weggewandert war, vielleicht gehofft hatte, es werde das Bekannte und Heimatliche bloß sehr langsam, sozusagen schmerzlos in das Fremde hineingleiten, so wird das Schmerzliche des jähen Abschieds von dem starken Wunsch übertäubt, an das jenseitige Ufer der Sumpfwiese zu gelangen, dorthin, wo der Schmetterling verschwunden ist.

Nur ein mäßig hoher Hang ist es, der sich dort erhebt, dennoch hoch genug, daß das Kind von dem Hause, das auf dem Gipfel errichtet ist, bloß das Dach, und von den Bäumen, die dort stehen, bloß die Wipfel sieht. Vielleicht wäre es das Ratsamste gewesen, einfach von der Landstraße aus den Aufstieg zu unternehmen. Doch die Ungeduld des Kindes ist hiefür zu groß: unter dem hellblauen Himmel, diesem kühl-heißen Himmel des Nachsommers, unter den Sonnenstrahlen, die auf den Rücken brennen, beginnt das Kind zu laufen; es läuft die Sumpfwiese entlang, eine Furt zu finden oder einen Steg, einen noch so schmalen Steg will es finden, aber während es sucht, hat es die Wiese auch schon umkreist und steht am Fuße des Hügels, als wäre ihm der Hügel entgegengekommen, ein Kamel, das sich niederkniet, damit man es besteige. Diese doppelte Eile, die eigene und die des Hügels, hat etwas Unheimliches an sich, und das Kind zögert nun auch wirklich, da es den Fuß auf die unmerkliche Beugung setzen will, in der die ebene Wiese in die Steile übergeht. Hebt das Kind jetzt den Kopf, so ist das Bauernhaus oben völlig verschwunden und nur einige Baumwipfel sind sichtbar. Indes je höher es hinanklettert, desto mehr wächst wieder die Ansiedlung droben dem Blick entgegen, erst die Bäume in einem satten Grün, als lockte dort der Frühling, dann das Dach, aus dem kerzengerade die Rauchfahne steigt, und schließlich tauchen die weißen Mauern des Hauses zwischen den Stämmen auf: es ist wohl ein Bauernhaus inmitten eines sehr grünen Gartens, und der letzte Hang, der so steil ist, daß das Kind ihn auf allen vieren erklimmt, ist gleichfalls so grün, daß das Kind bloß mit den Händen weitertappt, bis daß es ausgestreckt auf dem Bauche liegt, das Gesicht im Gras, und erst ganz langsam die Knie wieder nachkriechen läßt.

Nun, da das Kind tatsächlich oben ist und der Hofhund kläffend an der Kette zerrt, da ist der erhoffte Frühling ausgeblieben. Freilich ist die Landschaft fremd und unbekannt, und selbst das Tal, in welches das Kind jetzt einen Blick wirft, selbst dieses ist nicht mehr das Tal, aus dem es gekommen ist. Zwiefache Verwandlung! Verwandlung wohl von Traurigkeit geschwängert, nichtsdestoweniger keine Entscheidung, denn die Verwandlung ist bloß auf das Licht zurückzuführen: mit der für den Herbst eigentümlichen Raschheit ist die helle Reinheit des Lichtes milchig geworden, aber zugleich entsteht dem weißlichen Schild des Himmels ein Gegenhimmel, da das Tal sich mit ebenso weißem Nebel zu füllen beginnt. Noch ist es Nachmittag, doch der Abend der Fremdheit ist bereits hereingebrochen. Weit in das Unendliche dehnt sich die Straße, an der das Anwesen liegt, und in der rasch aufsteigenden Kälte sterben die Schmetterlinge. Dies aber ist das Entscheidende! Dem Kind wird mit einem Male klar, daß es kein Ziel gibt, daß ihm das Herumirren und das Suchen nach einem Ziel nichts gefruchtet hat, daß höchstens das Unendliche selber Ziel sein kann. Das Kind denkt es nicht, allein es antwortet auf die nie gestellte Frage mit seinem Tun, es stürzt sich in die Fremdheit, es flüchtet sich auf die Straße, es flüchtet in die sich dehnende unendliche Straße, es verliert die Besinnung, und nicht einmal mehr zu weinen vermag es in seinem atemlosen Lauf, der wie ein Stillestehen ist zwischen den unbewegten Nebelwänden. Und sickert durch den Nebel dann der Abend wirklich heran, der Mond zu einem hellen Fleck in der Nebelwand wird, und wenn dann die Nebel mit einem lautlosen Schlag weggewischt sind und alle Sterne sich wölben, wenn die Unbewegtheit der Dämmerung abgelöst worden ist von der Starrheit der Nacht, da ist das Kind in ein unbekanntes Dorf gelangt, stolpert durch stumme Gassen, in denen hie und da ein Fuhrwerk ohne Gespann steht.

Fast ist es gleichgültig, wie weit Marguerite gelangte, ob sie zurückgebracht wurde oder ob sie das Opfer eines Landstreichers geworden ist, – das Schlafwandeln der Unendlichkeit ist über sie gekommen und wird sie nie mehr freigeben.

 


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