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Ja, Huguenau war sehr verstimmt. Die Aufrufe für den Eisernen Bismarck waren gottsjämmerlich ausgefallen. Daß die Druckerei kein Klischee für ein Bismarckbild besaß, das war noch verzeihlich, aber nicht einmal ein richtiges Eisernes Kreuz in Lorbeerumrahmung war vorhanden, und so blieb nichts anderes übrig, als jede der vier Ecken des Aufrufs mit einem jener kleinen Eisernen Kreuze zu versehen, mit denen man sonst die Todesanzeigen der Kriegsgefallenen zu schmücken pflegte. Er wäre mit dem Wisch gar nicht selber zum Major gegangen, wenn er nicht auch eine gute Nachricht in der Tasche gehabt hätte: eine Bildhauerwerkstätte in Gießen, deren Inserat er entdeckt und der er sofort telegraphiert hatte, machte sich erbötig, eine Bismarckstatue innerhalb zweier Wochen zu liefern. Aber der Major war von den geschmacklosen Aufrufen selbstverständlich tief enttäuscht gewesen: er hat erst gar nicht hingehört und die Entschuldigungen bloß mit einem mißmutig gleichgültigen »Ist ja egal« quittiert. Und wenn er sich auch schließlich herbeigelassen hatte, seinen Besuch für heute anzusagen, so hatte er es einem doch gleich wieder vergällt, indem er sich nach Esch erkundigte. Das war um so ungerechter, als doch der Esch daran Schuld trug, wenn es in der Druckerei keine anständigen Klischees gab.
Die Hände in den Hosentaschen, stelzte Huguenau im Hofe auf und ab, wartete auf den Major. Was den Esch anbelangt, so hatte man's immerhin ganz gut eingefädelt. Es war ganz schlau gewesen, ihn gestern zurückzuhalten, als er zur Papierfabrik hinausgewollt hatte, – nun, und heute, da war's eben ein Irrtum gewesen, heute war merkwürdigerweise doch zu wenig Papier am Lager, und da hatte man den Herrn Redakteur eben hinausgeschickt. Leider hat der Kerl es für nötig befunden, das Rad zu nehmen, und wenn der Major noch lange auf sich warten läßt, so ist der ganze Fahrplan übern Haufen geworfen, und die beiden treffen dann doch noch hier zusammen.
Es war ein warmer trüber Tag. Huguenau schaute ein paarmal auf die Uhr, dann ging er in den Garten, besah das Obst, das noch unreif in den Zweigen hing, schätzte die Ernte ab. Allerdings kommt's in diesen Zeiten gar nicht bis zur Reife, vorher ist alles längst gestohlen. Eines Morgens wird der Esch seinen Garten ausgeräumt finden. Lang wird's nicht mehr dauern; an der Sonnenseite röten sich bereits die Pflaumen, und Huguenau griff hinauf und prüfte die Frucht zwischen den Fingern. Esch sollte einen Stacheldraht um den Garten ziehen; aber so viel ist die Ernte sicherlich nicht wert. Nach dem Krieg wird Stacheldraht billig sein.
Warten ist wie gespannter Stacheldraht im Innern. Huguenau sah wieder ins Geäst, blinzelte zu den grauen Wolken; dort wo die Sonne sich verbarg, blendete es weiß. Er pfiff einigemal nach Marguerite; die aber tauchte nicht auf und Huguenau ärgerte sich: natürlich war sie wieder mit den Jungen unten am Fluß. Am liebsten hätte er sie sich geholt. Doch er mußte auf den Major warten. Plötzlich – eben wollte er wieder nach ihr pfeifen – stand Marguerite neben ihm. Er sagte streng: »Wo steckst du denn immer! wir kriegen Besuch.« Dann nahm er sie bei der Hand, und sie überquerten den Hof, gingen durch den Hausflur und hielten draußen auf der Fischerstraße Ausschau nach dem Major. Ich habe Esch zu früh weggeschickt, mußte Huguenau stets aufs neue denken.
Endlich bog der Major um die Ecke; er war von dem bejahrten Proviantoffizier begleitet, der gleichzeitig Adjutantendienst in der Kommandantur versah. Huguenau, der zwar darauf gerechnet hatte, den Major für sich allein zu haben, fühlte sich dennoch geschmeichelt, daß der Besuch in so offizieller Form vor sich gehen sollte. Eigentlich war es eine Dummheit gewesen, den Esch fortzulassen, das gesamte Personal hätte Spalier bilden und Marguerite in einem weißen Kleidchen hätte einen Blumenstrauß überreichen müssen. Irgendwie war auch für dieses Versäumnis der Esch verantwortlich zu machen, aber nun war es geschehen, und Huguenaus Feierlichkeit mußte sich auf einige Verbeugungen beschränken, da die beiden Offiziere jetzt vor dem Hause stehen blieben.
Glücklicherweise verabschiedete sich der Proviantoffizier, so daß die Situation aus dem Offiziellen ins Private sich wandelte, und als der Major den Hauseingang betrat, war Huguenau von vertraulicher Ergebenheit überglänzt. »Marguerite, mach einen Knicks«, kommandierte er. Marguerite starrte dem fremden Mann ins Gesicht. Der Major fuhr ihr über die schwarzen Locken: »Nun, man sagt Guten Tag, kleine Tatarin.« Huguenau entschuldigte: »Es ist die Kleine von Esch …« Der Major hob Marguerites Kinn: »So, du bist Herrn Eschs Tochter?« – »Sie ist bloß im Hause, … quasi eine Ziehtochter«, berichtigte Huguenau. Der Major strich ihr wieder über die Locken: »Kleine schwarze Tatarin«, wiederholte er, während sie den Flur durchschritten. »Eine geborene Französin, Herr Major, … Esch will sie eventuell adoptieren … aber es ist überflüssig, sie ist ohnehin bei ihrer Tante … wollen Herr Major nicht gleich die Druckerei besichtigen? bitte, hier gleich rechts …« Huguenau lief voran. »Schon gut, Herr Huguenau«, sagte der Major, »ich möchte vorerst doch Herrn Redakteur Esch begrüßen.« – »Esch wird ehestens erscheinen, Herr Major, ich meinte, daß Herr Major vor allem ungestört die Einrichtungen besichtigen wollten.« – »Herr Esch stört mich durchaus nicht«, sagte der Major und Huguenau war von dem etwas scharfen Ton betroffen. Er witterte irgendeine Intrige Eschs, … na, dem wird er schon noch auf seine Schliche kommen, und dann gibt es einen gesalzenen Geheimbericht Nr. 2. Und weil es einen solchen geben würde, war Huguenau beruhigt: denn keine Seele duldete es, daß der innere Strom ihres Geschehens von außen aufgehalten und aufgestaut werde. Und so sagte Huguenau gemessen: »Herr Esch mußte leider in die Papierfabrik … ich mußte für Papierlieferungen Vorsorge treffen … vielleicht besichtigten Herr Major mittlerweile doch die Druckerei.«
Die Maschine war zu Ehren des Majors in Bewegung gesetzt worden, und zu Ehren des Majors ließ Huguenau überflüssigerweise eine Partie des Moseldank-Aufrufs einlegen. Er hielt Marguerite noch immer an der Hand, und als Lindner die erste Partie des Aufrufs schichtete, nahm Huguenau das oberste Blatt und überreichte es dem Major. Neuerdings glaubte er, sich entschuldigen zu müssen: »Es ist eben eine sehr einfache Aufmachung, wenigstens ein richtiges Eisernes Kreuz mit Lorbeerkranz wäre am Platz gewesen … bei einer Aktion, der Herr Major persönlich vorstehen!«
Der Major hatte nach dem Eisernen Kreuz am Knopfloch gegriffen, schien beruhigt, daß es noch dort hing. »Ach, das Eiserne Kreuz, – wozu noch eines? das ist doch überflüssig.« Huguenau verbeugte sich: »Ja, Herr Major haben gewiß recht, in einer so schweren Zeit muß auch eine bescheidene Aufmachung genügen, ich kann Herrn Major bloß beipflichten, aber ein bescheidenes Bildchen hätte keine Mehrkosten verursacht … dem Herrn Esch ist das natürlich gleichgültig.« Der Major schien nicht gehört zu haben. Nach einer Weile aber sagte er: »Ich glaube, Herr Huguenau, daß Sie Herrn Esch Unrecht tun.« Huguenau lächelte artig und auch ein wenig verächtlich. Doch der Major sah nicht auf ihn, sondern auf Marguerite: »Ich hätte sie für eine Sklavin gehalten, so ein kleines schwarzes Tatarenmädchen.« Huguenau fühlte sich verpflichtet, nochmals auf die französische Geburt der Kleinen hinzuweisen. »Sie ist bloß so hier im Haus.« Der Major beugte sich zu Marguerite: »Ich habe auch so ein Mädelchen daheim, ein wenig größer ist sie wohl, vierzehn Jahre … und auch nicht so schwarz wie eine kleine Tatarin … Elisabeth heißt sie …« und nach einem Weilchen sagte er: »Also eine kleine Französin.« – »Sie kann bloß Deutsch«, sagte Huguenau, »hat alles verlernt.« Der Major fragte: »Du hast deine Pflegeeltern gewiß sehr lieb?« – »Ja«, sagte Marguerite, und Huguenau wunderte sich, daß sie so lügen mochte; aber weil der Major geistesabwesend schien, wiederholte er deutlich: »Sie wohnt bei ihren Verwandten.« Der Major sagte: »Des Vaterhauses beraubt …« Das klang nun wirklich etwas geistesabwesend, er war eben ein alter Herr, und Huguenau bestätigte: »Sehr wohl, Herr Major, das richtige Wort, des Vaterhauses beraubt …« Der Major sah Marguerite aufmerksam ins Gesicht. Huguenau lockte: »Die Setzerei, Herr Major, die Setzerei haben Sie noch nicht gesehen.« Der Major fuhr dem Kind über die Stirne: »Du darfst nicht so bös dreinschauen, darfst nicht solche Falten auf der Stirn machen …« Das Kind überlegte ernsthaft, dann sagte es: »Warum?« Der Major lächelte, strich leicht mit dem Finger über ihre Lider, unter denen hart der Augapfel ruhte, lächelte und sagte: »Kleine Mädchen dürfen keine Stirnfalten machen … das ist eine Sünde. …versteckt und sichtbar zugleich, so ist immer die Sünde.« Marguerite drängte weg, und Huguenau fiel es ein, wie sie sich von Esch weggestrampelt hatte; recht hat sie, dachte er. Der Major strich sich nun selbst über die Augen: »Na, ist ja egal …« und Huguenau, welcher spürte, daß der Major gleichfalls wegstrebte, wenn auch mit schwachen Kräften, war geradezu froh, wie er nun Esch auf seinem etwas zu niedern Rad O-beinig in den Hof einfahren und bei der Holzstiege abspringen sah.
Sie traten alle in den Hof hinaus, um Esch zu empfangen, und der Major stand zwischen Huguenau und dem Kinde.
Esch lehnte das Rad an die Wand unterhalb der Hühnerleiter und ging langsam auf die Gruppe zu. Er zeigte keinerlei Verwunderung, den Major vorzufinden, so wenig Verwunderung zeigte er und mit solcher Selbstverständlichkeit begrüßte er den Gast, daß Huguenau argwöhnte, es hätte dieser hagere Lehrer bereits um den Besuch gewußt. Also äußerte er seinen Unmut: »Was sagen Sie zu dieser überraschenden Ehre?! Sie sind wohl gar nicht überrascht?«
»Ich freue mich«, sagte Esch.
Der Major sagte: »Ich freue mich, daß sie noch rechtzeitig heimgekommen sind, Herr Esch.«
Esch sagte ernst: »Vielleicht in zwölfter Stunde, Herr Major.«
Huguenau sagte: »Es ist noch nicht so spät, … wollen Herr Major auch noch die übrigen Lokalitäten besichtigen; die Stiege ist bloß ein wenig unbequem.«
Esch sagte: »Es war ein weiter Weg.«
Das Kind sagte: »Er ist auf dem Rad gekommen.«
Der Major sagte sinnend: »Ein weiter Weg … und er ist noch nicht am Ziele.«
Huguenau sagte: »Wir haben das Ärgste bereits hinter uns … wir haben bereits zwei Seiten Inserate … und wenn wir uns noch Aufträge der Heeresverwaltung verschaffen könnten …«
Esch sagte: »Es handelt sich nicht um die Ankündigungen.«
Huguenau sagte: »Wir haben nicht einmal ein Klischee mit einem Eisernen Kreuz … darum handelt es sich Ihnen wohl auch nicht!«
Das Kind deutete auf des Majors Brust: »Hier ist das Eiserne Kreuz.«
Der Major sagte: »Das Ehrenzeichen ist immer unsichtbar, bloß die Sünde ist sichtbar.«
Das Kind sagte: »Lügen ist die größte Sünde.«
Esch sagte: »Das Unsichtbare ist hinter uns her, wir kommen aus der Lüge, und wenn wir den Weg nicht finden, verirren wir uns in der Dunkelheit des Unsichtbaren.«
Das Kind sagte: »Niemand hört's, wenn man lügt.«
Der Major sagte: »Gott hört es.«
Huguenau sagte: »Niemand hört einen Deserteur, niemand kennt ihn, auch wenn er mit allem, was er spricht, recht behält.«
Esch sagte: »Keiner sieht den andern im Dunkeln.«
Der Major sagte: »Sichtbar, und doch einer vor dem andern versteckt.«
Das Kind sagte: »Der liebe Gott hört es nicht.«
Esch sagte: »Die Stimme der Kinder wird er einstens wieder hören.«
Huguenau sagte: »Es ist besser, daß keiner einen hört, man muß sich allein durchschlagen … wir werden's schon schaffen.«
Der Major sagte: »Wir haben ihn verlassen und er hat uns allein gelassen … so allein, daß wir uns nicht mehr finden können.«
Esch sagte: »In der Einsamkeit eingekerkert.«
Das Kind sagte: »Man wird mich nicht finden können.«
Der Major sagte: »Den wir verlassen, den müssen wir ewig suchen.«
Huguenau sagte: »Du willst dich verstecken.«
»Ja«, sagte das Kind.
Der milchgraue Himmel begann zu zerreißen; er wurde an manchen Stellen blau. Das Kind, bloßfüßig und unhörbar, war davongelaufen. Dann gingen auch die Männer. Jeder nach einer andern Richtung.