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Geschichte des Heilsarmeemädchens in Berlin (7)

Ich habe nicht viel von jenem Abend behalten, an dem ich Nuchem Sussin zur Heilsarmee begleitete. Ich war mit Wichtigerem beschäftigt. Man mag die philosophische Betätigung einschätzen wie man will, es wird die Außenwelt doch unansehnlich und weniger bemerkenswert. Und außerdem sind auch die bemerkenswertesten Dinge unansehnlich, solange man sie erlebt. Kurzum, ich weiß nur noch, wie Nuchem Sussin neben mir hergeschritten ist, in seinem geschlossenen grauen Gehrock, mit seinen viel zu kurzen und daher wehenden Hosen und mit dem viel zu kleinen lächerlichen Samthut. All diese Juden, soferne sie nicht mit ihren schwarzen Schildmützen versehen sind, tragen diese zu kleinen Samthüte, sogar der sozusagen modische Dr. Litwak, und ich konnte mich nicht der rohen Frage an Nuchem enthalten, woher er solchen Hut bezöge. »Man bekommt«, war die Antwort.

Zudem waren jene Begebnisse gar nicht der Rede wert. Einen Anstrich von Wichtigkeit erhielten sie erst durch Dr. Litwak, der gestern bei mir war. Er hat die unangenehme Gewohnheit, einfach einzudringen; bei meiner sogenannten Krankheit hat er es auch so gemacht. Er stand also wieder vor mir, der ich auf der Chaiselongue lag, er hatte den unvermeidlichen Spazierstock in der Hand und den lächerlich kleinen Samthut auf dem Kopf. Das heißt, der Hut war gar nicht so klein, breitkrempig war der Hut, aber er saß zu hoch, er deckte nicht den Schädel. Übrigens fiel mir auf, daß auch Dr. Litwak in seiner Jugend einen milchigen Teint gehabt haben mußte. Jetzt erinnerte er an gelbe Sahne ohne Fehl.

»Sie werden mir können sagen, was ist mit dem Sussin.«

Ich sagte, weil es der Wahrheit entsprach: »Er ist mein Freund.«

»Freund, schön …« Dr. Litwak zog sich einen Stuhl heran. »... die Leut' sind besorgt, sie haben mich lassen rufen … Sie verstehen?«

Ich hatte im Grunde keinerlei Verpflichtung, ihn zu verstehen, aber ich wollte das Verfahren abkürzen: »Er hat das Recht hinzugehen, wohin er will.«

»No, wer hat schon Recht, wer hat nicht das Recht … ich mach' Ihnen ja keinen Vorwurf … aber was hat er herumzulaufen mit der Goite?«

Jetzt fiel mir erst ein, daß ich an jenem Abend Marie und Nuchem mit in meine Stube genommen hatte. Wer kein Geld hat, kann sich nicht in Wirtschaften herumdrücken.

Ich mußte lachen.

»Sie lachen und die Frau sitzt drüben und weint.«

Das war nun allerdings eine Neuigkeit; immerhin hätte ich wissen können, daß diese Juden schon mit fünfzehn heiraten. Wenn ich bloß gewußt hätte, wer Nuchems Frau war; eines von den modischen Mädeln? oder eine von den Matronen mit Scheitel? das letztere schien mir plausibler.

Ich nahm Dr. Litwak bei der Kneiferschnur: »Hat er auch Kinder?«

»Was denn soll er haben? a Katz?«

Dr. Litwak machte ein so empörtes Gesicht, daß ich ihn nach seinem Vornamen fragen mußte.

»Dr. Simson Litwak«, stellte er sich neuerdings vor.

»Also hören Sie, Doktor Simson, was wollen Sie eigentlich von mir?«

Er dachte eine Weile nach: »Ich bin ein aufgeklärter Mensch … aber was geht zu weit … Sie müssen ihn zurückhalten.«

»Wovon soll ich ihn zurückhalten? daß er nach Zion will? lassen Sie ihm das harmlose Vergnügen.«

»Er wird sich noch taufen … Sie müssen ihn zurückhalten.«

»Ob er als Jud oder Christ nach Jerusalem kommt, ist doch Wurscht.«

»Jerusalem«, sagte er wie einer, dem man ein Bonbon in den Mund gesteckt hat.

»Na also«, sagte ich, hoffend, daß er nunmehr abtreten werde.

Er lutschte offenbar noch immer an dem Namen: »Ich bin ein aufgeklärter Mensch … aber mit dem Gesing und die Schmonzes ist noch keiner hingekommen … da gehören andere Leut' dazu … ich muß zu jedem gehen, ich bin ein Doktor, mir kann's egal sein, ob einer ein Jud oder Christ … überall gibt's brave Menschen, … werden Sie ihn zurückhalten?«

Diese Beharrlichkeit ging mir auf die Nerven: »Ich bin ein großer Antisemit«, er lächelte ungläubig, »ich bin ein Agent der Heilsarmee, ich bin der Quartiermeister in Jerusalem …«

»Spaß«, sagte er belustigt, obwohl es ihm sichtlich unbehaglich war, »Spaß, nebbich.«

Damit hatte er allerdings recht: Spaß, nebbich, das war beiläufig jene Haltung zum Leben, in die ich hineingeraten war. Wer war dafür verantwortlich zu machen? der Krieg? ich wußte es nicht, weiß es wahrscheinlich auch heute nicht, wenngleich sich manches seitdem verändert hat.

Ich hielt Dr. Litwak noch immer an der Kneiferschnur. Er sagte: »Sie sind doch auch ein aufgeklärter Mensch …«

»Nun, und?«

»Was lassen Sie den Leuten nicht ihre …« er brachte es bloß schwer heraus, »... ihre Vorurteil'?«

»So, Vorurteile nennen Sie das!«

Jetzt war er völlig verwirrt. »Eigentlich sind es keine Vorurteil' … was sind schon Vorurteil'? …« und schließlich beruhigt: »es sind doch wirklich keine Vorurteil'.«

Als er draußen war, überlegte ich mir den Heilsarmeeabend. Wie gesagt, er war für mich völlig eindruckslos verlaufen. Hie und da habe ich Nuchem Sussin betrachtet, wie er dort saß und mit etwas entgeistertem Lächeln um den geschweiften Judenmund im milchigen Antlitz dem Singen zugehört hatte. Und dann habe ich die beiden mit in mein Zimmer genommen, oder richtiger bloß Marie, denn Nuchem wohnte ohnehin hier, – nun, und dann saßen sie beide bei mir im Zimmer, ließen mich reden und schwiegen. Bis daß Nuchem wieder auf die Laute deutete und sagte: »Spielen Sie.« Da nahm Marie die Laute und sang das Lied: »Durch Zions Tore zog schon ein / ein Heer so mächtiglich, / Gewaschen in des Lammes Blut – / und Raum ist auch für dich.« Und Nuchem hörte mit etwas entgeistertem Lächeln zu.

 


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