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Die Befürchtungen Eschs sollten sich bewahrheiten: dem Major wurde noch weiteres Übel von Huguenau zugefügt. Allerdings spielte Huguenau vorerst eine passive Rolle.

Anfangs Oktober langte auf dem Schreibtisch des Majors eine jener Listen ein, mit denen die Heeresleitung nach desertionsverdächtigen oder sonstwie von ihren Kommandostellen vermißten Militärpersonen zu fahnden pflegte; unter den Namen befand sich auch der eines Wilhelm Huguenau aus Colmar, Füsilier im Füsilierregiment Nr. 14.

Der Major hatte die Liste schon wieder beiseite gelegt, als sich eine Beunruhigung meldete. Er nahm die Liste also nochmals zur Hand, streckte sie seiner Weitsichtigkeit wegen auf Armeslänge von sich, und gegen das Licht gewendet las er nochmals: »Wilhelm Huguenau« einen Namen, den er doch schon gehört haben mußte. Er schaute fragend auf die Ordonnanz, die sich während des Posteinlaufs im Zimmer zu Verfügung zu halten hatte, er sah noch, wie der Mann, der nun offenbar einen Befehl erwartete, sich stramm aufrichtete, er hatte noch die Kraft, »Sie können abtreten« zu kommandieren, doch da er nun allein ist, fällt er vornüber auf die Platte des Tischs, das Gesicht in den Händen vergraben.

Aus seiner Bewußtlosigkeit schreckt er mit dem Gedanken auf, daß die Ordonnanz noch bei der Türe stehe, und daß die Ordonnanz Esch sei. Er wagt erst gar nicht hinzusehen, und als er endlich merkt, daß wirklich niemand dort steht, sagt er ins leere Zimmer hinein: »Ist ja egal …« als könnte er damit den Fall erledigen. Allerdings, es nützt nichts, das Bild Eschs steht nach wie vor bei der Türe und blickt ihn an, Esch blickt ihn an, als hätte er ein Brandmal an ihm entdeckt. Es ist ein strafender vorwurfsvoller Blick, der auf ihm ruht, und der Major schämt sich, daß er Huguenau beim Tanze zugeschaut hat. Doch der Gedanke verflimmert, und plötzlich hört er die Stimme Eschs: »Immer ist ein Verräter unter uns.«

»Immer ist ein Verräter unter uns«, sagt nun der Major. Ein Verräter ist ein unehrenhafter Mensch, ein Verräter ist ein Mensch, der sein Vaterland verrät, ein Verräter ist ein Mensch, der das Vaterland und die Kameraden betrogen hat … ein Deserteur ist ein Verräter. Und während er solcherart seine Gedanken immer näher an den versteckten Gegenstand heranrückt, zerreißt plötzlich die Hülle, und er weiß mit einem Male alles, alles: er selber ist der Verräter, er selber war es gewesen, er, der Stadtkommandant war es gewesen, der einen Deserteur zu sich gerufen und ihm beim Tanzen zugeschaut hat, er war es gewesen, der den Deserteur zu sich gerufen hat, damit er von dem Deserteur in die Redaktion eingeladen werde, damit der Deserteur ihm den Weg ins Zivilistische bereite, zu Freunden, die keine Kameraden sind … der Major hat an das Eiserne Kreuz gegriffen und reißt an dem Band: ein Verräter darf das Ehrenzeichen nicht tragen, ein Verräter muß das Ehrenzeichen ablegen, darf nicht mit dem Ehrenzeichen aufgebahrt werden … eine Unehrenhaftigkeit läßt sich bloß durch eine Pistolenkugel auslöschen … man mußte die Strafe auf sich nehmen … und der Major, erstarrt in der Bewegung, den Blick wie gefroren, sagte: »Das unritterliche Ende.«

Er hatte die Hand noch an den Uniformknöpfen; mechanisch vergewisserte er sich, ob sie alle geschlossen seien, und das war nun eine seltsame Beruhigung, war gleichsam eine Hoffnung auf Rückkehr in die Pflicht, Rückkehr ins eigentliche geborgene Leben, wenn auch das Bild Eschs noch nicht verschwunden war. Schillernd und unheimlich war das Bild, es stand in jener Welt und zugleich in dieser, Vertreter des Guten und Bösen zugleich, voll leichter Sicherheit war es und doch voll fremdester Ungewißheit des Zivilistischen, ein Mann, der die Weste öffnet und das Hemd sehen läßt. Und der Major, die Hand noch immer an den Uniformknöpfen, richtet sich auf, streicht den Rock glatt, streicht sich dann über die Stirne und sagt: »Hirngespinste.«

Gerne würde er Esch rufen lassen, der könnte alles aufklären … er möchte es gerne, aber es wäre ein neuerliches Abweichen vom Wege der Pflicht, ein neuerliches Abweichen ins Zivilistische. Das durfte nicht sein. Überdies … man muß sich allein besinnen: der ganze Verdacht konnte sich als haltlos erweisen … und wenn man es recht überlegte, hatte sich dieser Huguenau stets korrekt und patriotisch betragen … vielleicht würde sich doch alles von selber aufklären und zum Guten wenden.

Der Major, mit noch ein wenig zitternden Händen, hatte abermals die Liste vor die Augen gehalten, dann legte er sie weg und wandte sich dem übriggebliebenen Posteinlauf wieder zu. Indes so sehr er sich bemühte, seine Gedanken wieder in Ordnung zu bringen, das Bemühen scheiterte an den widersprechenden Befehlen und Dienstanweisungen, und er vermochte die Widersprüche nicht zu entwirren. Das Chaos der Welt stieg allenthalben, es stieg das Chaos der Gedanken und das Chaos der Welt, die Dunkelheit stieg und die Dunkelheit hatte den Klang eines höllischen Sterbens, in dessen Prasseln nur eines hörbar, nur eines gewiß wurde: die Niederlage des Vaterlands – oh, die Dunkelheit stieg, es stieg das Chaos, aber aus dem Chaos im Pfuhle giftiger Gase grinste die Fratze Huguenaus, die Fratze des Verräters, Werkzeug der göttlichen Strafe, Urheber des wachsenden Unglücks.

Zwei Tage lang ertrug der Major die Pein einer Unschlüssigkeit, deren er sich im Drange der überstürzten äußeren Ereignisse selbst nicht bewußt wurde. Angesichts der allgemeinen Unordnung hätte er die kleine Desertionsangelegenheit natürlich auf sich beruhen lassen können, doch ebenso natürlich war es, daß für den Stadtkommandanten ein derartig billiger Ausweg überhaupt nicht im Bereich des Denkbaren lag. Denn der kategorische Imperativ der Pflicht duldet es nicht, daß Unzuverlässigkeit auf Unzuverlässigkeit gehäuft werde; und am zweiten Tage gab der Major den Befehl, Huguenau auf die Kommandantur zu laden.

Als er den Verräter vor sich sah, wallte des Majors ganzer zurückgedämmter Abscheu mit erneuter Stärke auf. Die herzliche Begrüßung erwiderte er mit dienstlicher Förmlichkeit und, über den Tisch hin die Liste reichend, wies er wortlos auf die Rubrik »Wilhelm Huguenau«, die mit einem roten Strich angezeichnet war. Huguenau begriff, daß es jetzt ums Ganze ging, und angesichts der drohenden Gefahr fand er die luzide Sicherheit wieder, die ihn bisher noch immer beschützt hatte. Zwar schlug er einen leichten Ton an, allein die Strenge des Blickes hinter den blitzenden Augengläsern gab dem Major zu verstehen, daß da einer war, der sich seiner Haut recht gut zu wehren wußte: »Ich habe Ähnliches schon lange erwartet, hochgeehrter Herr Major; die Unordnung bei den Heeresstellen, mit Verlaub zu sagen, reißt eben mehr und mehr ein … ja, Herr Major schütteln den Kopf, aber so ist es, ich bin leider ein lebendes Beispiel dafür; als ich mich bei der Pressehauptleitung abmeldete, nahm mir der dienstführende Unteroffizier meine Papiere ab, angeblich um das Regiment zu verständigen; ich befürchtete gleich damals arge Unannehmlichkeiten, da es doch nicht angeht, einen dienstpflichtigen Soldaten ohne Dokumente fortzuschicken – da werden Herr Major mir nur recht geben –, mich aber hat man mit dem Hinweis beruhigt, daß man mir die Dokumente nachsenden würde; man händigte mir bloß einen interimistischen Militärfahrschein nach Trier aus, Herr Major verstehen, ich hatte nichts in der Tasche als meinen Fahrschein, im übrigen, hilf dir selbst! na, und den Fahrschein habe ich vorschriftsmäßig beim Bahnhofkommando abgeliefert … ja, so war die Geschichte. Natürlich habe ich mir auch selbst vorzuwerfen, daß ich zwischenzeitig die ganze Chose immer wieder vergaß; aber Herr Major wissen ja am besten, wie überlastet ich bin; und wenn schon die Behörden versagen, kann man dem einfachen Steuerträger und Landesverteidiger keinen Vorwurf machen. Sollte man meinen. Anstatt aber vor der eigenen Türe zu kehren, ist es natürlich einfacher, einen anständigen Menschen zum Deserteur zu stempeln! Herr Major, würde es mir meine patriotische Pflicht nicht verbieten, ich hätte nicht übel Lust, diesen unerhörten Fall in die Presse zu bringen!«

All dies klang plausibel; der Major wurde wieder unsicher.

»Wenn ich Herrn Major einen Vorschlag unterbreiten dürfte, so würde ich ersuchen, der Heeresgendarmerie und dem Regiment wahrheitsgetreu mitzuteilen, daß ich hier die offiziöse Landeszeitung leite und daß ich die fehlenden Dokumente, um die ich mich indessen bekümmern will, ehebaldigst nachfolgen lasse.«

Der Unmut des Majors hakte bei dem Wort »wahrheitsgetreu« ein. Welche Sprache wagte dieser Mann zu führen.

»Es steht Ihnen nicht zu, mir Vorschriften über die Art meiner Meldungen zu machen. Und im übrigen, um vollkommen bei der Wahrheitstreue zu bleiben: ich glaube Ihnen nicht!«

»So, Herr Major glauben mir nicht? Haben Herr Major vielleicht schon untersucht, auf welche glaubwürdige Denunziation jene Anzeige zurückzuführen ist? und daß es sich bloß um eine Denunziation – und um eine läppische und boshafte obendrein – handeln kann, ist doch sonnenklar …«

Er schaute triumphierend auf den Major, der, von dem neuerlichen Angriff überrumpelt, gar nicht merkte, daß es zu dieser Anzeige keinerlei Denunziation bedurft hätte. Und triumphierend fuhr Huguenau fort: »Wie viele Leute wissen denn überhaupt, daß ich Unzukömmlichkeiten mit meinen Papieren hatte? ich kenne bloß einen einzigen, und dieser einzige hat, angeblich zum Spaß oder zum Symbol, wie er's zu nennen beliebt, mich oft genug als Verräter beschimpft, wollen sich Herr Major bloß erinnern … ich kenne solche scheinheilige Späße … religiösen Wahnsinn nennen es die Herrschaften und unsereiner kann das Geld daran verlieren, wenn's nicht gar den Kragen kostet …«

Völlig überraschend fiel ihm der Major ins Wort: er schlug sogar mit dem Papiermesser auf den Tisch: »Wollen Sie Herrn Redakteur Esch gefälligst aus dem Spiele lassen. Er ist ein ehrenwerter Mann.«

Vielleicht war es unklug von Huguenau, sich zu verbeißen und nicht abzuirren, das Kartenhaus drohte jeden Augenblick einzustürzen. Er wußte es, aber etwas in ihm sagte »va banque«, und er konnte nicht anders: »Ich mache Herrn Major gehorsamst darauf aufmerksam, daß nicht ich, sondern Sie den Namen des Herrn Esch zuerst genannt haben. Also habe ich mich nicht getäuscht, und er ist der saubere Denunziant. Ah, wenn der Wind von dieser Seite her weht und Herr Major mit Rücksicht auf die Freundschaft mit Herrn Esch dessen Geschäfte führen will, dann allerdings, dann bitte ich höflichst um meine Verhaftung.«

Das sitzt. Der Major hatte den Finger gegen Huguenau ausgestreckt und stammelte mühselig: »Packen Sie sich, packen Sie sich … ich lasse Sie abführen.«

»Bitte, Herr Major, bitte, … ganz nach Ihrem Belieben. Aber ich weiß, was ich von einem preußischen Offizier zu halten habe, der zu solchen Mittelchen greift, um sich eines Zeugen seiner defaitistischen Reden in kommunistischen Versammlungen zu entledigen, es ist ja hübsch, wenn man seinen Mantel nach dem Winde hängt, aber ich habe keine Lust, den Windfänger abzugeben … Salü.«

Die letzten, eigentlich unsinnigen Worte, von Huguenau bloß zum Aufputz seiner Rhetorik draufgegeben, hörte der Major nicht mehr. Tonlos murmelte er noch: »Packen Sie sich … er soll sich packen … der Verräter …« während Huguenau schon längst das Zimmer verlassen und respektlos die Türe hinter sich zugeschlagen hatte. Es war das Ende, das unritterliche Ende! gebrandmarkt, für immer gebrandmarkt!

Gab es noch einen Ausweg? nein, es gab keinen Ausweg … der Major hatte aus der Schreibtischlade den Armeerevolver genommen und ihn vor sich hingelegt. Dann nahm er ein Briefblatt, legte es gleichfalls vor sich hin; es sollte das Abschiedsgesuch werden. Am liebsten würde er um infame Kassierung ansuchen. Aber es sollte alles seinen dienstlichen ordentlichen Weg gehen. Er wird seinen Platz nicht verlassen, ehe er nicht den Dienst ordnungsgemäß übergeben haben würde.

Obwohl der Major glaubte, all diese Verrichtungen mit rascher und soldatischer Pünktlichkeit zu vollziehen, ging alles sehr langsam vonstatten, und jede Bewegung kostete sehr große Anstrengung. Und mit sehr großer Anstrengung begann er zu schreiben, mit fester Hand wollte er schreiben. Vielleicht lag es an dieser übermäßigen Anstrengung, daß er über die ersten Worte nicht hinauskam: »An das …« hatte er auf das Papier gemalt mit Buchstaben, die ihm selber fremd waren, und dann war er stecken geblieben, – die Feder war zerbrochen, sie hatte das Papier zerrissen und einen häßlichen Fleck verursacht. Und den Federhalter fest, ja krampfhaft umklammernd, sank der Major, kein Major mehr, sondern ein ganz alter Mann, langsam in sich zusammen. Nochmals versuchte er, die zerbrochene Feder einzutauchen, indes es gelang nicht, er warf das Tintenfaß um, die Tinte rann in einem schmalen Bach über die Platte, tropfte auf das Beinkleid. Der Major achtete nicht mehr darauf. Er war mit tintenbeschmutzten Händen sitzen geblieben und starrte auf die Türe, hinter der Huguenau verschwunden war. Doch als sich die Türe nach einer Weile öffnete und die Ordonnanz sichtbar wurde, da gelang es ihm, sich aufzurichten und die Hand gebieterisch auszustrecken: »Packen Sie sich«, befahl er dem etwas verblüfften Mann, »packen Sie sich … ich bleibe im Dienst.«

 


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