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Zerfall der Werte (6)

Zur Logik des Soldaten gehört es, dem Feind eine Handgranate zwischen die Beine zu schmeißen;

zur Logik des Militärs gehört es überhaupt, die militärischen Machtmittel mit äußerster Konsequenz und Radikalität auszunützen und wenn es nottut, Völker auszurotten, Kathedralen niederzulegen, Krankenhäuser und Operationssäle zu beschießen;

zur Logik des Wirtschaftsführers gehört es, die wirtschaftlichen Mittel mit äußerster Konsequenz und Absolutheit auszunützen und, unter Vernichtung aller Konkurrenz, dem eigenen Wirtschaftsobjekt, sei es nun ein Geschäft, eine Fabrik, ein Konzern oder sonst irgendein ökonomischer Körper, zur alleinigen Domination zu verhelfen;

zur Logik des Malers gehört es, die malerischen Prinzipien mit äußerster Konsequenz und Radikalität bis zum Ende zu führen, auf die Gefahr hin, daß ein völlig esoterisches, nur mehr dem Produzenten verständliches Gebilde entstehe;

zur Logik des Revolutionärs gehört es, den revolutionären Elan mit äußerster Konsequenz und Radikalität bis zur Statuierung einer Revolution an sich vorwärtszutreiben, wie es überhaupt zur Logik des politischen Menschen gehört, das politische Ziel zur absoluten Diktatur zu bringen;

zur Logik des bürgerlichen Faiseurs gehört es, mit absoluter Konsequenz und Radikalität den Leitspruch des Enrichissez-vous in Geltung zu setzen: auf diese Weise, in solch absoluter Konsequenz und Radikalität entstand die Weltleistung des Abendlandes – um an dieser Absolutheit, die sich selbst aufhebt, ad absurdum geführt zu werden: Krieg ist Krieg, l'art pour l'art, in der Politik gibt es keine Bedenken, Geschäft ist Geschäft –, dies alles besagt das nämliche, dies ist alles von der nämlichen aggressiven Radikalität, ist von jener unheimlichen, ich möchte fast sagen, metaphysischen Rücksichtslosigkeit, ist von jener auf die Sache und nur auf die Sache gerichteten grausamen Logizität, die nicht nach rechts, nicht nach links schaut, – oh, dies alles ist der Denkstil dieser Zeit!

Man kann sich dieser brutalen und aggressiven Logik, die aus allen Werten und Unwerten dieser Zeit hervorbricht, nicht entziehen, auch wenn man sich in die Einsamkeit eines Schlosses oder einer jüdischen Wohnung verkrochen hat; indes, wer die Erkenntnis fürchtet, ein Romantiker also, dem es um Geschlossenheit des Welt- und Wertbildes geht, und der das ersehnte Bild in der Vergangenheit sucht, er wird mit gutem Grund auf das Mittelalter hinblicken. Denn das Mittelalter besaß das ideale Wertzentrum, auf das es ankommt, besaß einen obersten Wert, dem alle anderen Werte untertan waren: den Glauben an den christlichen Gott. Sowohl die Kosmogonie war von diesem Zentralwert abhängig (ja noch mehr, sie konnte aus ihm scholastisch deduziert werden) als auch der Mensch selber, der Mensch mitsamt seinem ganzen Tun, bildete einen Teil jener Weltordnung, die bloß Spiegelbild einer ekklesiastischen Hierarchie war, in sich geschlossenes und endliches Abbild einer ewigen und unendlichen Harmonie. Für den mittelalterlichen Kaufmann galt kein »Geschäft ist Geschäft«, der Konkurrenzkampf war ihm etwas Verpöntes, der mittelalterliche Künstler kannte kein l'art pour l'art, sondern bloß den Dienst am Glauben, der mittelalterliche Krieg nahm nur dann die Würde der Absolutheit in Anspruch, wenn er im Dienste des einzigen absoluten Wertes, im Dienste des Glaubens geführt wurde. Es war ein im Glauben ruhendes, ein finales, kein kausales Weltganzes, eine Welt, die sich durchaus im Sein, nicht im Werden begründete, und ihre soziale Struktur, ihre Kunst, ihre soziale Verbundenheit, kurzum ihr ganzes Wertgefüge waren dem umfassenden Lebenswert des Glaubens unterworfen: der Glaube war der Plausibilitätspunkt, bei dem jede Fragekette endigte, er war es, der die Logik durchsetzend, ihr jene spezifische Färbung und jene stilbildende Kraft verlieh, die nicht nur als Stil des Denkens, sondern immer wieder solange der Glaube überhaupt lebt, als Stil der Epoche zum Ausdruck kommt.

Doch das Denken hat den Schritt vom Monotheistischen ins Abstrakte gewagt, und Gott, der im Endlich-Unendlichen der Dreieinigkeit sichtbare und persönliche Gott, wurde zu dem, dessen Name nicht mehr auszusprechen und von dem kein Bild mehr zu machen ist, aufgestiegen und versunken in die unendliche Neutralität des Absoluten, verschwunden in einem grausamen Sein, das nicht mehr ruht, sondern unerreichbar ist.

In der Gewalt solcher Umwälzung, getragen von der Radikalisierung, ja, man könnte wohl sagen, von der Entfesselung des Logischen, in dieser Umverlegung des Plausibilitätspunktes auf eine neue Unendlichkeitsebene, in dieser Entrückung des Glaubens aus dem irdischen Wirken, wird das Sein-Ruhende aufgehoben. Die stilbildende Kraft im irdischen Raume scheint erloschen, und neben der Wucht des Kantschen Gebäudes und neben dem Lodern der Revolution steht zierlich noch immer das Rokoko, steht ein sofort zum Biedermeier degeneriertes Empire. Denn mochte auch das Empire und kurz darauf die Romantik die Diskrepanz zwischen der geistigen Umwälzung und den irdisch-räumlichen Ausdrucksformen erkannt haben, mochte ihr rückgewendeter Blick auch die Antike und die Gotik zu Nothelfern anrufen, es war die Entwicklung nicht mehr zu hemmen; aufgelöst das Sein zu reiner Funktionalität, aufgelöst selbst das physikalische Weltbild, zu solcher Abstraktheit aufgelöst, daß es nach zwei Generationen sogar des Raumes beraubt werden konnte, war die Entscheidung für das reine Abstraktum bereits getroffen. Und angesichts des unendlich fernen Punktes, zu dessen unerreichbar noumenaler Ferne nunmehr jede Frage- und Plausibilitätskette hinzustreben hat, war die Bindung der einzelnen Wertgebiete an einen Zentralwert mit einem Schlage unmöglich geworden; mitleidlos durchdringt das Abstrakte die Logik jedes einzelnen Wertschaffens, und ihre Inhaltsentblößung verbietet nicht nur jegliche Abweichung von der Zweckform, sei es nun die Zweckform des Bauens oder die einer anderen Tätigkeit, sondern sie radikalisiert auch die einzelnen Wertgebiete so sehr, daß diese, auf sich selbst gestellt und ins Absolute verwiesen, voneinander sich trennen, sich parallelisieren und, unfähig einen gemeinsamen Wertkörper zu bilden, paritätisch werden, – gleich Fremden stehen sie nebeneinander, das ökonomische Wertgebiet eines »Geschäftemachens an sich« neben einem künstlerischen des l'art pour l'art, ein militärisches Wertgebiet neben einem technischen oder einem sportlichen, jedes autonom, jedes »an sich«, ein jedes in seiner Autonomie »entfesselt«, ein jedes bemüht, mit aller Radikalität seiner Logik die letzten Konsequenzen zu ziehen und die eigenen Rekorde zu brechen. Und wehe, wenn in diesem Widerstreit von Wertgebieten, die sich eben noch die Balance halten, eines das Übergewicht erhält, emporwachsend über allen anderen Werten, emporgewachsen wie das Militärische jetzt im Kriege oder wie das ökonomische Weltbild, dem sogar der Krieg Untertan ist, – wehe! denn es umfaßt die Welt, es umfaßt alle anderen Werte und rottet sie aus wie ein Heuschreckenschwarm, der über ein Feld zieht.

Der Mensch aber, der Mensch, einst Gottes Ebenbild, Spiegel des Weltwerts, dessen Träger er war, er ist es nicht mehr; mag er auch noch eine Ahnung von der einstigen Geborgenheit besitzen, mag er sich auch fragen, welch übergeordnete Logik den Sinn ihm verdreht hat, der Mensch, hinausgestoßen in das Grauen des Unendlichen, mag ihn auch schaudern, mag er auch voll Romantik und Sentimentalität sein und sich zurücksehnen in die Obhut des Glaubens, er wird ratlos bleiben im Getriebe der selbständig gewordenen Werte, und nichts bleibt ihm übrig als die Unterwerfung unter den Einzelwert, der zu seinem Berufe geworden ist, nichts bleibt ihm übrig, als zur Funktion dieses Wertes zu werden, – ein Berufsmensch, aufgefressen von der radikalen Logizität des Wertes, in dessen Fänge er geraten ist.

 


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