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Vielleicht ist das Entsetzen dieser Zeit in den architektonischen Erlebnissen am sinnfälligsten: eine grauenhafte Müdigkeit bringe ich stets heim, wenn ich durch die Straßen gewandert bin. Ich brauche die Häuserfronten gar nicht eigens betrachten; sie beunruhigen mich, auch ohne daß ich den Blick zu ihnen erhebe. Manchmal flüchte ich zu den so sehr gerühmten neuen Bauten, aber – sicherlich ist es ungerecht – das Warenhaus von Messel, der doch gewiß ein großer Architekt ist, hat in seiner Gotik für mich etwas Komisches, und es ist eine ärgerliche und ermüdende Komik. Es ermüdet mich so sehr, daß ich mich kaum bei den klassizistischen Bauten auszuruhen vermag. Und doch liebe ich die großzügige Klarheit der Schinkelschen Architektur.
Ich bin überzeugt, daß in keiner früheren Zeit der Mensch die architektonischen Ausdrucksformen mit Ekel und Widerwillen betrachtet hat; das ist unserer Zeit vorbehalten geblieben. Bis zum Klassizismus war Bauen eine natürliche Funktion. Es mag sein, daß man neue Bauwerke gar nicht sah, so wenig man einen neugepflanzten Baum zur Kenntnis nehmen muß, allein wenn man sie sah, so wußte man, daß etwas Gutes und Natürliches geschehen war; so sah noch Goethe auf die Bauwerke seiner Zeit.
Nein, ich bin kein Ästhet, war es sicherlich auch niemals, mochte wohl auch manches solchen Anschein erweckt haben, und ebensowenig ist es rücksehnende Sentimentalität, verklärende Rückschau auf vergangene Epochen. Nein, hinter all meinem Ekel und meiner Müdigkeit steckt eine alte sehr fundierte Erkenntnis, die Erkenntnis, daß es für eine Epoche nichts Wichtigeres gibt als ihren Stil. Keine Epoche der Menschheit, die sich anders als durch ihren Stil und vor allem durch ihren Baustil charakterisiert hätte, und sie ist wohl nur so weit Epoche zu nennen, als sie ihren Stil besitzt.
Man mag mir einwenden, daß meine Müdigkeit und Reizbarkeit auf meine Unterernährung zurückzuführen sei. Man mag mir sagen, daß diese Zeit ihren sehr prägnanten Maschinen-, Kanonen- und Eisenbetonstil besitzt, man mag mir sagen, daß erst künftige Generationen den Stil dieser Zeit erfassen werden. Nun, irgendein Stilchen besitzt jede Zeit, und selbst die Gründer jähre hatten trotz allen Eklektizismus ihren Stil. Und ich gebe sogar zu, daß der Stilwille von der Technik einfach überrannt worden ist und daß man den neuen Baustoffen eben noch nicht ihre adäquaten Ausdrucksformen abgerungen hat, daß all die beunruhigende Disproportion vorderhand noch unbewältigter Zweck sei. Immerhin wird niemand mir abstreiten können, daß dem neuen Bauausdruck, möge er nun vom neuen Material oder von der persönlichen Unfähigkeit bestimmt sein, etwas abhanden gekommen ist, ja, von ihm mit aller Bewußtheit verworfen wird und mit Recht verworfen werden muß, etwas, das ihn radikal von allen früheren Stilen unterscheidet: das Merkmal des Ornaments. Gewiß kann man auch dies noch als Tugend preisen und behaupten, man verstünde erst jetzt, so materialgerecht zu konstruieren, daß man des ornamentalen Beiwerks entraten könne. Aber ist der Terminus von der »Materialgerechtheit« nicht bloß ein modernes Schlagwort? hat etwa die Gotik oder sonst irgendeine Zeit nicht materialgerecht gebaut? Wer das Ornament als Beiwerk betrachtet, ist sich über die innere Logik eines Baues nicht im klaren. »Baustil« ist Logik, ist eine Logik, die das Gesamtbauwerk durchdringt, angefangen vom Grundriß bis zur Luftkontur, und innerhalb dieser Logik ist das Ornament bloß das letzte, der differentiale Ausdruck im kleinen für den einheitlichen und einheitsetzenden Grundgedanken des Ganzen. Ob es nun Unfähigkeit zum Ornament ist oder seine Ablehnung, es bedeutet hier das gleiche, es bedeutet nichts anderes als daß die architektonische Ausdrucksform dieser Zeit aufs schärfste von allen früheren Stilen unterschieden ist.
Indes, was nützt solche Einsicht! Weder kann die ornamentale Form durch Eklektizismus geschaffen, noch kann künstlich eine neue errungen werden, ohne in die komischen Gebilde eines Van de Velde zu verfallen. Was bleibt, ist eine tiefe Beunruhigung, Beunruhigung und Wissen, daß dieser Baustil, der keiner mehr ist, bloß ein Symptom darstellt, ein Menetekel für einen Zustand des Geistes, welcher der Ungeist dieser Unzeit sein muß. Ach, ihn zu sehen, macht mich müde. Wenn ich könnte, ich würde meine Wohnung nicht mehr verlassen.