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Bäume und Häuser standen vor dem Auge des Maurers Gödicke, es wechselte das Wetter, es war Tag und es war Nacht, es bewegten sich Menschen und er hörte sie sprechen. Auf zumeist runden Gegenständen aus Blech oder Steingut wurde Essen gebracht und vor ihn hingestellt. All dies kannte er, aber der Weg, der zu diesen Dingen hinführte oder auf dem sie zu ihm kamen, war ein mühseliger Weg: der Maurer Gödicke hatte jetzt schwerer zu arbeiten, als er es in seinem arbeitsreichen Leben je getan. Denn es war durchaus nicht selbstverständlich, den Löffel zum Munde zu führen, wenn man sich nicht im klaren war, wen eigentlich man damit fütterte, und angesichts des furchtbaren Zwanges, sich dies klarzumachen, wurde es zur Qual einer hoffnungslosen Arbeit und einer unerfüllbaren Pflicht; denn niemandem, am allerwenigsten dem Mann Gödicke selber, wäre es möglich gewesen, sich über die Konstruktionselemente jenes Baues, der die Seele desselbigen Gödicke darstellte, eine Theorie zu bilden. So z. B. wäre es falsch zu behaupten, daß der Mann Gödicke aus vielerlei Gödickes zusammengesetzt war, etwa aus einem Knaben Ludwig Gödicke, der auf der Straße gespielt, mit Freunden gemeinsam onaniert und in den Müllstätten und Sandgruben Tunnels gebaut hat, aus diesem Knaben Gödicke, der von der Mutter zum Essen gerufen wurde, um hierauf dem gleichfalls das Maurergewerbe ausübenden Vater das Essen auf den Bau zu bringen, daß also dieser Knabe Ludwig Gödicke einen Bestandteil seines jetzigen Ichs darstellen würde, das zu behaupten, wäre ebenso falsch, wie wenn man einen andern Bestandteil etwa in jenem Jüngling Gödicke erblicken wollte, der die Hamburger Zimmerleute ob ihrer breitrandigen Hüte und Perlmutterwesten so sehr beneidet hat, daß er nicht eher ruhte, bevor er nicht, ihnen allen zum Tort die Braut des Zimmermanns Gürzner im Gebüsch am Flußufer drangekriegt hatte, er, ein einfacher Maurerbursche, und es wäre falsch zu behaupten, daß wieder ein anderer Teil jener Mann sei, der während eines Streiks die Betonmischmaschine durch Lockerung der Trommeln unbrauchbar gemacht hatte und der trotzdem aus der Organisation ausgetreten war, als er das Dienstmädchen Anna Lamprecht einfach deshalb ehelichte, weil sie wegen des Kindes so sehr geweint hatte: nein, ein derartiger Längsschnitt durch eine Persönlichkeit, eine derartige, quasi historische Aufspaltung gibt niemals die Bestandteile der Persönlichkeit, denn sie kann über das Biographische nicht hinausreichen. Die Schwierigkeiten, mit denen der Mann Gödicke zu kämpfen hatte, waren also sicherlich nicht darin gelegen, daß er die Reihe dieser Personen in sich leben fühlte, viel eher lag die Schwierigkeit darin, daß diese Reihe mit einem Male abriß, daß die Biographie an einem bestimmten Punkte unterbrochen war, daß keine Verbindung zu ihm, der doch das letzte Glied solcher Kette sein sollte, herüberreichte, und daß er auf solche Art, losgelöst von etwas, das er kaum mehr als sein Leben bezeichnen durfte, seine eigene Existenz verloren hatte. Er sah jene Gestalten wie durch ein rußgeschwärztes Glas, und wenn er, den Löffel zum Munde führend, auch gern den Mann gefüttert hätte, der mit Gürzners Braut unter den Büschen geschlafen, ja, wenn dies auch sehr erfreulich gewesen wäre, so war man dennoch nicht imstande, eine Brücke hinüberzuschlagen, man blieb sozusagen am andern Ufer und konnte des Mannes drüben nicht habhaft werden. Und vielleicht hätte man trotzalledem die Brücke geschlagen, hätte man bloß sicher gewußt, wer eigentlich sich an Gürzners Braut erinnerte: die Augen, die das Ufergebüsch von damals vor sich sahen, waren nicht die gleichen, die hier die Bäume an der Chaussee erblickten, und die waren wieder nicht völlig die gleichen wie jene, die hier im Zimmer umherschauten. Und bestimmt gab es einen Gödicke, der es nicht duldete und der es verbot, daß jener Mann gefüttert werde, jener Mann, welcher noch immer bereit war, mit Gürzners Braut zu schlafen. Und der Gödicke, der die Schmerzen im Unterleib zu erleiden hatte, konnte ebensowohl der sein, der das Verbot erließ, wie jener, den es treffen sollte, doch es konnte ebensowohl ein ganz anderer sein. Es waren höchst komplizierte Verhältnisse, und der Maurer Gödicke durchschaute sie in keiner Weise. Sie hatten sich vielleicht ergeben, weil der ins Bewußtsein zurückkehrende Gödicke die Stücke seiner Seele nicht zurückrufen wollte, vielleicht aber waren sie auch die Ursache, daß er dazu nicht imstande war. Freilich, würde er jetzt in sich hineinblicken können, so wäre es nicht von der Hand zu weisen, daß er in jedem der zugelassenen Stücke seines Ichs einen eigenen Gödicke erkennen würde, etwa so, als ob jedes dieser Stücke eine eigene selbständige Region um sich gebildet hätte. Denn es mag schon sein, daß es mit der Seele nicht anders ist als mit einem Protoplasma, in dem man durch Zerschneiden die Häufung von Zellkernen und damit Regionen von selbständig intakten Eigenleben zu erzeugen vermag. Wie immer dem auch sei, und wie immer es entstanden sein möge: es lebten in der Seele Gödickes vielerlei selbständige und intakte Spaltungsleben, von denen man eigentlich jedes einzelne als Gödicke bezeichnen durfte, und es war eine mühselige und kaum zu bewältigende Arbeit, sie alle unter einen Hut zu bringen.
Diese Arbeit mußte der Maurer Gödicke ganz allein vollbringen; niemand war da, ihm zu helfen.