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Seit nahezu zwei Jahren war Heinrich Wendling nicht auf Urlaub gewesen. Trotzdem war Hanna überrascht, so überrascht, als bräche ein unfaßbar irrationales Ereignis herein, da nun der Brief eintraf, mit dem Heinrich seine Heimkunft ankündigte. Die Fahrt von Saloniki dauerte mindestens sechs Tage, wahrscheinlich sogar länger, aber immerhin, es war nur noch eine Angelegenheit von Tagen. Hanna fürchtete seine Ankunft, als hätte sie einen heimlichen Liebhaber vor ihm zu verbergen. Sie empfand jeden Tag der Verzögerung wie ein Geschenk; doch jeden Abend machte sie noch sorgsamere Nachttoilette als sonst, und noch länger als sonst blieb sie des Morgens im Bette liegen, wartend, fürchtend, daß der Heimkehrende, schmutzig und unrasiert, sofort von ihr Besitz ergreifen werde. Und mochte sie sich derartiger Vorstellungen eigentlich auch schämen und schon aus diesem Grunde hoffen, daß irgendeine Offensive oder ein anderes Unheil den Urlaub vereiteln würde, so spürte sie eine noch viel stärkere und sehr seltsame Hoffnung, die dazwischen lief, ein Ahnen, von dem man nichts wissen wollte und auch nichts wußte und das wie das Gefühl vor einer schweren Operation war: man mußte sich ihr unterziehen, um vor etwas Unabänderlichem, dem man sonst unaufhaltsam zustrebte, bewahrt zu werden, es war wie eine letzte, schreckliche Zuflucht, dunkel auch sie, dennoch wie eine Rettung vor der tieferen Dunkelheit. Wollte man solches Verhalten, dieses hoffende Fürchten und schreckhafte Harren, als Masochismus werten, man bliebe damit bloß an der äußersten seelischen Oberfläche. Und die Erklärung, die sich Hanna selber für ihren Zustand, soweit sie ihn überhaupt zur Kenntnis nahm, gestatten durfte, wich nicht wesentlich von jener törichten Meinung alter Frauen ab, die in einer Heirat das einzige Heilmittel sehen, um damit sämtliche Leiden bleichsüchtiger junger Mädchen ein für alle Male in Ordnung zu bringen. Nein, sie hätte es nicht gewagt, weiter darüber nachzudenken, es war ein Gestrüpp, in das sie nicht einzudringen wünschte, und wenn sie irgendwie gewärtigte, es werde sich mit dem Eintreffen Heinrichs eine natürliche Ordnung wiederherstellen lassen, so ahnte sie mit gleicher Intensität, daß solche Ordnung nie mehr zu finden sein werde.
Richtiger Sommer war es geworden. Das »Haus in Rosen« machte seinem Namen Ehre, obwohl man, der Zeit Rechnung tragend, die Pflege der Blumen hinter der des Gemüses zurückstellte und der kränkliche Aushilfsgärtner nicht einmal dazu ausreichte. Doch die Crimson Ramblers ließen sich auch durch den Krieg nicht bändigen und rankten sich bis zu den Putten neben der Eingangstüre empor, die Gruppen der Pfingstrosen waren weiß und rosa, und die Streifen der Heliotropen und Levkoien an den Rändern der Rasenflächen waren in voller Blüte. Beruhigt lag die grüne Landschaft vor dem Haus, die weitausholende Senkung des Tales fing den Blick und lenkte ihn bis zum Waldesrand, das Försterhaus drüben, das man im Winter mit allen seinen Fenstern sah, war wieder im Grün verschwunden, grün waren die Weinberge geworden, und dunkel lag der Wald, dunkler noch, da nun schwarzes Gewölk über dem Berg heraufzog.
Hanna hatte nachmittags ihren Liegestuhl vor das Haus gestellt. Unter den Kastanienbäumen lag sie und schaute auf die heraufziehenden Wolken, deren Schatten über den Feldern vorrückte, das lichte helle Grün in ein schwärzliches und sonderbar ruhiges Grünviolett verwandelnd, und als der Schatten sich nun über den Garten legte und es plötzlich kühl und kellerig wurde, da begannen die Blumen, die von der Hitze bisher verschlossenen Blumen, plötzlich zu duften, als wäre ihr Atem gelöst worden. Oder vielleicht war es die plötzliche Kühle, die Hanna nun den Duft spüren ließ, doch war dies so plötzlich, so einmalig, so vehement, es war diese hervorbrechende Welle von süßem Duft so kühl und bezaubernd wie ein Abend in südlichen Gärten, wie eine Dämmerung am felsigen Gestade eines Tyrrhenischen Meeres. So lag die Erde am Ufer der Wolke, die ihre Woge herabsandte, Gewitterregen dicht und mild, und Hanna, in der geöffneten Verandatüre stehend, roch den Süden, und wenn sie auch fast gierig die milde Feuchtigkeit einsog, die sie kühl und frisch in der Nase fühlte, so war mit der Erinnerung des Geruchs auch jene Angst herangeweht worden, die sie zum ersten Male empfunden hatte, als sie an einem Regenabend während ihrer Hochzeitsreise in Sizilien am Meeresufer gestanden hatte: das Hotel lag hinter ihr, die Blumen des Hotelgartens dufteten, und sie wußte nicht, wer der fremde Mann war, der neben ihr stand, – er hieß Dr. Wendling.
Sie erschrak, der Gärtner war über den Weg geeilt, die Gartenmöbel in Sicherheit zu bringen; sie erschrak, sie mußte an einen Einbrecher denken, obgleich sie genau wußte, was der Mann vorhatte. Wäre Walter nicht zu ihr herausgekommen, sie hätte sich ins Zimmer geflüchtet und die Türe abgesperrt. Walter hatte sich auf die Schwelle gesetzt; er streckte seine nackten Beine in den Regen hinaus und beschäftigte sich damit, einen trockenen Schorf von seinem Knie vorsichtig abzulösen, um sodann die neue rosa Haut befriedigt zu streicheln. Auch Hanna hatte sich auf die Schwelle gesetzt; sie hielt ihre Beine, ihre schönen schlanken Beine mit den Händen umfaßt – auch sie trug keine Strümpfe wenn sie daheim im Garten war – und die glatten Schienbeine fühlten sich kühl an.
Nun hatte der Regen den Duft der Blumen, den er erst erweckt hatte, niedergeschlagen und es roch nur noch nach feuchter Erde. Das braungesprenkelte Ziegeldach des Gärtnerhauses glänzte vor Nässe, und als der Gärtner jetzt wieder über den Weg ging, knirschte der Kies nicht mehr vor Trockenheit, sondern raschelte körnig und gewaschen. Hanna legte den Arm um die Schultern des Kindes, – warum konnten sie nicht ewig so sitzenbleiben, beruhigt eingeordnet in eine reinliche und kühle Welt! sie hatte nur noch sehr wenig Angst. Nichtsdestoweniger sagte sie: »Wenn es heute nacht so gewittert, darfst du bei mir schlafen, Walter.«