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60

Siegesfeier des Vereins »Moseldank« in der Bierwirtschaft »Stadthalle« zur Erinnerung an die Schlacht bei Tannenberg

Jaretzki strich im Garten der »Stadthalle« umher. Im Saale wurde getanzt. Natürlich hätte man auch als Einarmiger mittun können, aber Jaretzki fühlte sich geniert. Er war froh, als er an einer der Saaltüren Schwester Mathilde traf: »Na, Sie tanzen auch nicht, Schwesterchen?«

»Doch, ich tanze, wollen wir's mal versuchen, Leutnant Jaretzki?«

»Bevor ich nicht das Zeugs, die Prothese habe, läßt sich mit mir nichts Rechtes anfangen … nur saufen und rauchen … eine Zigarette, Schwester Mathilde?«

»Ach wo denken Sie hin, ich bin doch hier im Dienst.«

»So, Sie tanzen also dienstlich, bitte dann kümmern Sie sich gefälligst auch um einen armen einarmigen Krüppel … setzen Sie sich doch'n bißchen zu mir.«

Etwas schwerfällig ließ sich Jaretzki beim nächsten Tische nieder.

»Gefällt's Ihnen da, Schwesterchen?«

»Ach, ganz nett.«

»Mit gefällt's nämlich nicht.«

»Die Leute sind doch fröhlich, man muß es ihnen mal gönnen.«

»Wissen Sie, Schwester, ich hab' nämlich vielleicht schon 'nen Dusel … aber das macht nichts … ich sage Ihnen, daß dieser Krieg niemals aufhören kann … oder was meinen Sie?«

»Nun, schließlich muß er wohl aufhören …«

»Was werden wir denn treiben, wenn's keinen Krieg mehr geben wird … wenn für Sie keine Krüppel zum Pflegen mehr fabriziert werden?«

Schwester Mathilde sann nach: »Nach dem Krieg … ja, Sie wissen doch auch, was Sie dann anfangen wollen. Sie sprachen doch schon von einer Anstellung …«

»Bei mir ist's was anderes … ich war im Feld … ich habe Leute umgebracht … verzeihen Sie, es klingt vielleicht'n bißchen wirr, aber die Sache ist doch ganz klar … für mich ist die Chose erledigt … aber da sind die vielen anderen …« er wies auf den Garten, »die müssen erst alle ran … die Russen sollen schon Frauenbataillone einrichten …«

»Sie könnten einem ja geradezu Angst einjagen, Herr Leutnant Jaretzki.«

»Ich? nö … ich hab's ja schon erledigt … ich geh' heim … such mir 'ne Frau … Nacht für Nacht die gleiche … ich hab das Herumv... mir scheint, ich hab' doch 'nen Dusel, Schwester, … aber sehen Sie, es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei … so heißt es schon in der Bibel. Und auf die Bibel halten Sie ja große Stücke, Schwester.«

»Wie wär's, Herr Leutnant Jaretzki, möchten Sie nicht jetzt schon heimgehen? einige von unseren Leuten wollen auch schon aufbrechen … da könnten Sie gleich mit …«

Sie spürte seinen Alkoholatem im Gesicht: »Ich, ich sage Ihnen, Schwester, daß der Krieg nicht aufhören kann, weil der Mensch draußen allein geworden ist … weil einer nach dem andern an die Reihe kommt, allein zu sein … und jeder, der allein ist, muß einen andern töten … Sie meinen, daß ich zu viel getrunken habe, Schwester, aber Sie wissen, ich vertrage schon was, … wirklich kein Grund, mich in die Klappe zu legen … aber was ich Ihnen sage, das ist die Wahrheit.«

Er erhob sich: »Komische Musik, was? … weiß gar nicht, was die eigentlich tanzen, wollen wir'n bißchen zusehen?«

 

Der Kriegsfreiwillige Dr. Ernst Pelzer von der Minenwerferabteilung prallte mit dem eiligen Huguenau zusammen: »Hoppla, Herr Oberzeremonienmeister, … Sie sind ja das reinste Wirbelwindchen … immer hinter den Damen her.«

Huguenau hörte gar nicht hin; er deutete mit erfreuter Wichtigkeit auf zwei Herren in Bratenrock, die soeben den Festgarten betreten hatten: »Der Herr Bürgermeister ist eingetroffen!«

»Aha, besseres Wild, … na, denn weiter gutes Gejaide und Weidmannsheil mit Horridoh und Hussassa, edler Jäger …«

»Danke, danke, Herr Doktor«; Huguenau, der nicht zugehört hatte, rief es über die Schulter zurück und holte bereits zur offiziellen Begrüßungsansprache aus.

 

Oberstabsarzt Kuhlenbeck gehörte eigentlich an den Honoratiorentisch. Doch er hatte sich nicht lange dort aufgehalten.

»Rin ins Vergnügen«, sagte er, »wir sind Landsknechte in eroberter Stadt.«

Er steuerte auf eine Gruppe junger Mädchen zu. Trug den Kopf hoch, sein Bart stach etwas waagrecht in die Luft. Als er bei Füsilier Kneese vorbeikam, der traurig und gelangweilt an einem Baum lehnte, schlug er ihn auf die Schulter: »Na, trauern Sie Ihrem Blinddarm nach? Ihr seid mir schöne Landsknechte, seid da, um den Frauen Kinder zu machen … man muß sich ja für Euch Waschlappen schämen … vorwärts, alter Schlappschwanz!« – »Zu Befehl, Herr Oberstabsarzt«, sagte Kneese und stand stramm.

Kuhlenbeck hakte sich in Berta Kringel ein, preßte ihren Arm an sich: »Jetzt tanz ich mit euch allen 'ne Runde rum … wer am besten tanzen kann, kriegt 'nen Kuß.«

Die Mädchen kreischten auf, Berta Kringel suchte sich frei zu machen. Aber als er ihre kurzfingrige Bürgermädchenhand mit seiner weichen Mannstatze umschloß, fühlte er, wie ihre Finger schwach wurden und sich in sein Fleisch kuschelten.

»Also ihr wollt nicht tanzen … habt wohl alle Angst vor mir … gut, so führe ich euch zur Tombola … kleine Kinder wollen spielen.«

Lisbeth Wöger rief: »Sie machen sich ja doch nur immer lustig über uns, Herr Oberstabsarzt … ein Oberstabsarzt tanzt doch nicht.«

»Na, Lisbeth, du wirst mich schon noch kennenlernen.« Und Oberstabsarzt Kuhlenbeck erwischte auch Lisbeth am Arm.

Als sie beim Tombolatisch standen, kam Frau Paulsen, die Gattin des Apothekers Paulsen, daher, faßte Posto neben Oberstabsarzt Kuhlenbeck und wisperte mit bleichen Lippen: »Daß du dich nicht schämst … mit dem grünen Gemüse.«

Der große Mann schaute ein wenig ängstlich hinter dem Kneifer hervor, dann lachte er: »Oh, gnädige Frau, Sie bekommen das große Los.«

»Danke«, sagte Frau Paulsen, und entfernte sich.

Lisbeth Wöger und Berta steckten die Köpfe zusammen: »Hast du die grünen Augen gesehen, die sie gemacht hat?«

 

Obwohl Heinrichs Anwesenheit ihr Einsiedlerleben bis zu einem gewissen Grade durchbrochen hatte, war Hanna Wendling nicht gern zum Feste gekommen. Doch fühlte sich Rechtsanwalt Wendling als hervorragender Bürger der Stadt und als Offizier dazu verpflichtet. So waren sie mit Röders hinausgefahren.

Sie saßen im Saale; Dr. Kessel war bei ihnen. An der Schmalseite war der Honoratiorentisch errichtet, weißgedeckt und mit Blumen und Laubgewinden geschmückt; dort präsidierten der Bürgermeister und der Major, und auch Herr Redakteur Huguenau hatte dort seinen Platz. Als er die Neuankömmlinge bemerkte, steuerte er auf sie zu. Das Komiteeabzeichen steckte im Knopfloch, aber hoch deutlicher leuchtete es von seiner Stirn. Kein Mensch hätte Herrn Huguenaus Würde übersehen können. Wen er vor sich hatte, wußte Huguenau natürlich schon längst; Frau Wendling war ihm oft genug auf der Straße aufgefallen, und das übrige war leicht zu erfahren gewesen.

Er hielt Kurs auf Dr. Kessel: »Darf ich Sie, hochgeehrter Herr Doktor, um die besondere Ehre bitten, mich den Herrschaften freundlichst vorzustellen.«

Ja, das durfte er.

»Eine besondere Ehre, eine besondere Ehre«, sagte Herr Huguenau, »ein besonderer Vorzug; gnädigste Frau leben ja so zurückgezogen, und wenn nicht der besondere Glücksfall eingetreten wäre, daß der Herr Gemahl auf Urlaub hier ist, so wäre uns gewiß nicht das Vergnügen zuteil geworden, Sie heute in unserer Mitte begrüßen zu dürfen.«

Der Krieg habe sie menschenscheu gemacht, meinte Hanna Wendling.

»Das ist ein Unrecht, gnädige Frau. Gerade in so schwerer Zeit bedarf der Mensch der Aufheiterung … ich hoffe, die Herrschaften bleiben zum Tanze hier.«

»Nein, meine Frau ist ein wenig müde, da müssen wir wohl leider bald gehen.«

Huguenau war aufrichtig gekränkt: »Aber Herr Rechtsanwalt, wenn Sie und die gnädige Frau uns einmal das Vergnügen schenken, wenn eine so schöne Frau unser Fest verschönt … es ist ja zu wohltätigem Zweck, da müssen Herr Oberleutnant doch einmal ausnahmsweise ein Auge zudrücken und Gnade vor Recht ergehen lassen.«

Und obwohl Frau Hanna Wendling sich über die Seichtheit solchen Geschwätzes völlig im klaren war, schloß sie dennoch ihr Antlitz auf, als sie sagte: »Nun, Ihnen zuliebe, Herr Chefredakteur, wollen wir noch ein Weilchen bleiben.«

 

In der Mitte des Gartens hatte man den Soldaten eine lange Tafel aufgebaut, und der »Moseldank« hatte ihnen ein Fäßchen Bier gespendet, das auf seinen zwei Böcken daneben stand. Das Bier war schon längst alle, aber einige von den Leuten lümmelten noch immer um den leeren Tisch. Auch Kneese hatte sich wieder zu ihnen gesellt und zeichnete mit der Fingerspitze Ornamente in den Biertümpeln auf dem Brettertisch: »Der Oberstabs sagt, daß wir ihnen Kinder machen sollen.«

»Wem?«

»Den Mädels hier.«

»Sag ihm, er soll's uns vormachen.«

Gewieher.

»Er ist schon dran.«

»Soll uns lieber zu unsern Weibern lassen.«

Die Lampions schaukelten im Nachtwind.

 

Jaretzki streicht allein durch den Garten. Wie er Frau Paulsen begegnet, verbeugt er sich: »So einsam, schöne Frau.«

Frau Paulsen sagt: »Sie ja auch, Herr Leutnant.«

»Hat bei mir nichts zu bedeuten, ich hab's schon hinter mir.«

»Wollen wir nicht unser Glück bei der Tombola versuchen, Herr Leutnant?« Frau Paulsen hakt sich in den gesunden rechten Arm Jaretzkis ein.

 

Huguenau trifft auf Oberstabsarzt Kuhlenbeck, der mit Lisbeth und Berta unter den Bäumen promeniert.

Huguenau grüßt: »Frohes Fest, Herr Oberstabsarzt, frohes Fest, meine jungen Damen.«

Und weg ist er.

Oberstabsarzt Kuhlenbeck hält noch immer kurzfingrige Bürgermädchenhände in seinen großen warmen Pranken: »Gefällt euch dieser elegante junge Mann?«

»Nee …« kichern die beiden Mädchen.

»So? warum nicht?«

»Da gibt's andere.«

»Also wer zum Beispiel?«

Berta sagte: »Dort drüben geht Leutnant Jaretzki mit Frau Paulsen spazieren.«

»Laß die man ruhig«, sagte der Oberstabsarzt, »ich geh' mit dir.«

 

Die Musik blies einen Tusch. Huguenau stand neben dem Kapellmeister auf der Musikestrade, die auf der einen Seite in den Saal, auf der anderen pavillonartig in den Garten hineinragte.

Die Hände zum Trichter formend, schrie Huguenau in den Garten über die Tische hin: »Silentium.«

Im Garten und Saale wurde es mäuschenstill.

»Silentium«, krähte Huguenau nochmals in die Stille hinein. Hauptmann v. Schnaack, der mit dem verheilten Lungenschuß von Zimmer VI, war zu ihm auf das Podium getreten, entfaltete nun ein Blatt Papier: »Sieg vor Amiens. 3700 Engländer gefangen, drei feindliche Flugzeuge abgeschossen, davon zwei durch Hauptmann Bölcke, der damit seinen 23. Luftsieg errang.«

Hauptmann v. Schnaack hob den Arm: »Hoch, hoch, hoch.« Die Musik intonierte das Deutschlandlied. Alle erhoben sich; die meisten sangen mit. Als es still geworden war, tönte es aus einer schattigen Ecke: »Hurra, hurra, hurra, es lebe der Krieg!«

Alle wandten sich um.

Dort saß Leutnant Jaretzki. Er hatte eine Flasche Sekt vor sich und versuchte, den gesunden Arm um Frau Paulsen zu schlingen.

 

Die Wände des Saals waren mit den Bildnissen der verbündeten Heerführer und Herrscher, mit Eichenlaub und Papiergirlanden geschmückt; Fahnentuch drapierte sich herum. Der patriotisch-repräsentative Teil des Festes war erledigt, und Huguenau konnte sich dem Vergnügen widmen. Er war stets ein guter Tänzer gewesen, hatte sich stets schmeicheln dürfen, trotz beleibter Untersetztheit gute Figur zu machen; doch hier war es mehr, hier war es mehr als die Elastizität und Agilität eines beleibten kleinen Mannes, hier unter den Augen der Heerführer wurde der Tanz zur Siegesfeier.

Es ist der Tänzer dieser Welt entrückt. Eingeschmiegt in die Musik, hat er sein freies Handeln aufgegeben und handelt dennoch in höherer und luziderer Freiheit. In der Strenge des Rhythmus, der ihn führt, ist er geborgen und eine große Gelöstheit kommt über ihn aus der Geborgenheit. So bringt die Musik Einheit und Ordnung in das Verworrene und in die Wirrsäligkeit des Lebens. Die Zeit aufhebend, hebt sie den Tod auf und läßt ihn trotzdem in jedem Takte neu erstehen, selbst in den Takten jenes öden und langen Potpourris, das hier erklingt und das »Von allen musikalischen Gestaden« heißend, vaterländische Weisen mit feindlichen Tänzen wie Cake-walk, Matchiche und Tango in bunter Folge aneinanderreiht. Des Tänzers Dame summt, doch wärmer werdend, singt sie. Und ihre gerührte und ungeschulte Stimme läßt die barbarischen Texte, die sie ausnahmslos beherrscht, mit dem schmeichelnden Hauch ihres Atems an seinem Gesicht vorbeistreifen, da er im Tango sich ihr zubeugt. Aber schon strafft der Tänzer sich wieder, starr und streng blickt sein angestachelter Mut durch die Brillengläser, blickt in die Ferne, und mutig trotzen Tänzer und Tänzerin feindlichen Gewalten, wenn die Musik zum heroischen Marschtempo aufbraust; nun aber kippen sie mit dem Rhythmus zum listig wippenden One-step, watscheln sonderbar wackelnd, fast ohne sich fortzubewegen, an einem Platze, bis die langen Wellen des Tangos wieder heranrollen und der Schritt wieder katzig und weich wird, biegsam Haltung und Schenkel. Kommen sie am Honoratiorentisch vorüber, hinter dessen Blumenvasen der Major mit dem Bürgermeister sitzt, so nimmt der Tänzer mit gerundetem Arm das Glas vom Tische – denn er selbst gehört auch zu dieser Tafel – und ohne den Tanz zu unterbrechen, dem Seiltänzer gleich, der hoch in der Luft leichthin und lächelnd leckeres Mahl verzehrt, trinkt er den Sitzenden zu.

Fast führt er die Tänzerin nicht; nur die eine Hand, galant in das Taschentuch gewickelt, ruht unterhalb des zärtlichen Rückenausschnitts, die Linke hängt lässig herab. Erst wenn die Musik zum Walzer umschlägt, dann fassen sich die freien Hände, steif und gedoppelt strecken sich die Arme aneinander, und die Finger verschränkt, wirbelt das Paar im Kreise. Schweift sein Blick im Saale, so sind die Reihen gelichtet. Ein einziges Paar außer ihnen tanzt noch, kommt näher, streift beinahe, entfernt sich, gleitet längs der Wände davon. Die übrigen sind unter die Zuschauer getreten; der feindlichen Tanzweisen nicht mächtig, bewundern sie. Verstummt die Musik, so klatschen Zuschauer und Tänzer in die Hände, und die Musik hebt wieder an. Beinahe ist es wie ein Wettkampf. Huguenau sieht nicht seine Partnerin, die den Kopf empfangend zurückgeworfen, sich seiner starken, dennoch kaum sichtbaren Leitung hingegeben hat, er merkt nicht, daß die Musik eine zartere und straffere Kunst des Geschlechts in seiner Dame auslöst, eine bacchantische Weibheit, wie sie dem Gatten der Dame, wie sie ihrem Liebhaber, wie sie ihr selber ewig unbekannt bleiben wird, er sieht auch nicht das ekstatische Lächeln, mit dem die andere Dame zahnfleischentblößend an ihrem Herrn hängt, er sieht bloß diesen, sieht bloß diesen feindlichen Tänzer, der, ein hagerer Weinagent in Frack mit schwarzer Krawatte und Eisernem Kreuz, ihn selber, der bloß den blauen Anzug zur Verfügung hat, an Eleganz und heldischer Auszeichnung überstrahlt. So könnte auch der hagere Esch hier tanzen, und darum, die Frau ihm zu rauben, heftet Huguenau nun den Blick in die Augen der vorübergleitenden Tänzerin, und er tut es so lange, bis sie den Blick erwidert, sich ihm mit den Blicken schenkt, so daß er, Wilhelm Huguenau, nun beide Frauen besitzt, sie besitzt, ohne sie zu begehren, denn es geht ihm nicht um die Gunst der Frauen, mag er jetzt auch um sie werben, – es geht ihm nicht um Liebeslust, vielmehr verdichtet sich ihm dieses Fest und dieser geräumige Saal immer enger um die weißgedeckte Tafel dort, und seine Gedanken richten sich immer unbedingter auf den Major, der weißbärtig und schön hinter den Blumen sitzt und ihm zusieht, ihm, Wilhelm Huguenau in der Mitte des Saales: er ist der Krieger, der vor seinem Häuptling tanzt.

Doch die Augen des Majors füllen sich mit steigendem Entsetzen. Dieser Saal mit den beiden Männern, schamlos watschelnd, schamlos hüpfend, schamloser noch als die an sie angegatteten Frauen, das war wie ein verrufenes Haus, das war die Hölle. Und daß ein Krieg von solchen Siegesfeiern begleitet sein durfte, das machte den Krieg selber zum blutigen Zerrbild der Verworfenheit. Es war als würde die Welt gesichtslos werden, gesichtslos jedes Antlitz, ein Pfuhl des Ununterscheidbaren, ein Pfuhl, aus dem es keine Rettung mehr gab. Von Grauen erfaßt, ertappte sich der Major v. Pasenow, daß er, ein preußischer Offizier, am liebsten die Fahnentücher von der Wand gerissen hätte, nicht weil sie durch den festlichen Greuel entweiht wurden, sondern weil sie dem Greuel und dem höllischen Gepräge unfaßbar verbunden waren, in einer Unfaßbarkeit, hinter der all die Unritterlichkeit unritterlicher Waffen, verräterischer Freunde und gebrochener Bündnisse stand. Und in sonderbar eisiger Bewegungslosigkeit steigt furchtbar der Wunsch in ihm auf, das dämonische Gezücht zu vernichten, es auszurotten, es zermalmt zu seinen Füßen liegen zu sehen. Aber bewegungslos und groß wie aufgetürmtes Gebirge, wie eines Gebirgsturms Schatten an der Wand, erhebt sich über dem Gezücht das Bild des Freundes, vielleicht das Bild des Esch, ernst und feierlich, und dem Major v. Pasenow ist es, als müßte für den Freund es geschehen, daß das Böse zermalmt und ins Nichts verwiesen werde. Major v. Pasenow sehnt sich nach dem Bruder.

 

Schwester Mathilde suchte nach Oberstabsarzt Kuhlenbeck. Sie fand ihn im Kreise angesehener Gewerbetreibender. Da saßen der Kaufmann Kringel, der Gastwirt und Fleischselcher Quint, der Herr Baumeister Salzer, der Herr Postdirektor Westrich. Und die Frauen und Töchter saßen daneben.

»Einen Augenblick, Herr Oberstabsarzt.«

»Noch ein Weib, das es auf mich abgesehen hat.«

»Nur ein Augenblickchen, Herr Oberstabsarzt.«

Kuhlenbeck stand auf: »Was ist los, mein Kind?«

»Wir müssen Leutnant Jaretzki wegschaffen …«

»Na, er wird eben genug haben.«

Schwester Mathilde lächelte zustimmend.

»Will mal nach ihm sehen.«

Jaretzki lag mit dem gesunden Arm auf dem Tisch, hatte den Kopf darin vergraben und schlief.

Der Oberstabsarzt schaute auf die Uhr: »Flurschütz löst mich ab. Er muß jeden Augenblick mit dem Auto da sein. Er soll ihn dann mitnehmen.«

»Kann man ihn hier so schlafen lassen, Herr Oberstabsarzt?«

»Wird ohnehin nichts anderes übrigbleiben. Krieg ist Krieg.«

 

Dr. Flurschütz blinzelte aus etwas entzündeten Augen durch den Wirtsgarten. Dann ging er in den Saal. Der Major und die übrige ausgezeichnete Gesellschaft hatten das Fest bereits verlassen. Die lange Tafel war weggeschafft und der ganze Saal diente dem Tanze, der dick, rauchig, schwitzend, schleifend sich vorwärts bewegte.

Es dauerte, bis er den Oberstabsarzt erspäht hatte; mit ernster Miene, emporgestreckten Bartes, drehte Kuhlenbeck sich mit Frau Apotheker Paulsen im Walzer. Flurschütz wartete das Ende des Tanzes ab, und dann meldete er sich.

»Na, endlich, Flurschütz. Da sehen Sie Ihren würdigen Vorgesetzten, zu solch kindischen Vergnügungen bringen Sie ihn mit Ihrer Saumseligkeit … jetzt nützt Ihnen aber nichts; wenn der Stabsarzt tanzt, muß der Oberarzt nach.«

»Herr Oberstabsarzt, Insubordination, ich tanze nicht.«

»Das nennt sich Jugend … ich glaube, ich bin doch noch jünger als Ihr alle … aber jetzt gehe ich, schicke Ihnen dann das Auto. Nehmen Sie den Jaretzki mit; vorderhand ist er stinkbesoffen … eine von den beiden Schwestern fährt mit mir, die andere mit Ihnen.«

Im Garten stöberte er Schwester Carla auf: »Schwester Carla, ich nehme Sie samt vier Fuß verletzten mit nach Hause. Machen Sie sie stellig, aber dalli.«

Dann verstaute er seine Fracht. Drei Mann kamen in den Fond, Schwester Carla und ein Mann auf die Vordersitze, und er selber nahm neben dem Chauffeur Platz. Sieben Krücken starrten in die schwarze Luft (die achte lag irgendwie im Wagen). Sterne hingen im schwarzen Gezelt. Es roch nach Benzin und nach Staub. Aber von Zeit zu Zeit, besonders an den Wegbiegungen, spürte man die Nähe des Waldes.

 

Leutnant Jaretzki erhob sich. Er hatte ein Gefühl, als wäre er im Coupé eingeschlafen gewesen. Nun hielt der Zug an einer größeren Station; Jaretzki wollte zum Büfett. Viele Leute gab's auf dem Bahnsteig und viele Lichter. »Sonntagsverkehr«, sagte sich Jaretzki. Ihm war kalt geworden. So um den Magen herum. Was Warmes wird ihm gut tun. Plötzlich fehlte ihm der linke Arm. Wird schon im Gepäcknetz liegen. Er bahnte sich den Weg durch Tische und Menschen. Beim Tombolastand hielt er an.

»Einen Grog«, befahl er.

 

»Gut, daß Sie da sind«, sagte Schwester Mathilde zu Dr. Flurschütz, »mit Jaretzki wird es heute nicht so einfach abgehen.«

»Werden es schon schaffen, Schwester, … gut amüsiert?«

»Ach ja, es war ganz vergnügt.«

»Ist's Ihnen nicht auch ein wenig gespenstisch, Schwester?«

Schwester Mathilde suchte zu begreifen, antwortete nicht.

»Na, hätten Sie sich früher mal so was vorstellen können?«

»Es erinnert doch an unsere Kirchweihfeste.«

»Etwas hysterische Kirchweih.«

»Ja, vielleicht, Doktor Flurschütz.«

»Leere Formen, die noch leben … schaut aus wie 'ne Kirchweih, aber die Leute wissen nicht mehr, wie ihnen geschieht …«

»Es wird sich schon wieder einrenken, Herr Doktor.«

Sie stand gesund und gerade vor ihm.

Flurschütz schüttelte den Kopf: »Noch nie hat sich etwas eingerenkt … am allerwenigsten das Jüngste Gericht … so ähnlich schaut das doch aus: nicht?«

»Woran Sie bloß denken, Doktor! … aber wir müssen unsere Patienten sammeln.«

 

Beim Musikpavillon wurde der umherirrende Jaretzki von dem Kriegsfreiwilligen Dr. Pelzer abgefangen: »Herr Leutnant, Sie scheinen dringend nach etwas zu suchen.«

»Ja, einen Grog.«

»Das ist eine famose Idee, Herr Leutnant, der Winter bricht an, und ich werde einen Grog holen … setzen Sie sich aber inzwischen.« Er lief davon und Jaretzki setzte sich auf den Tisch, schlenkerte mit den Beinen.

Dr. Wendling und Frau, im Begriffe, das Fest zu verlassen, kamen vorbei. Jaretzki salutierte: »Gestatten, Herr Oberleutnant, Leutnant Jaretzki, hessisches Jägerbataillon Nr. 8, Heeresgruppe Kronprinz, Verlust des linken Arms infolge Gasvergiftung bei Armentieres, stellt sich gehorsamst vor.«

Wendling sah ihn befremdet an: »Sehr erfreut«, sagte er, »Oberleutnant Dr. Wendling.«

»Diplomingenieur Otto Jaretzki«, fühlte sich Jaretzki zu ergänzen verpflichtet, wobei er nun auch vor Hanna stramm stand, um zu zeigen, daß die Vorstellung auch ihr gegolten hatte.

Hanna Wendling hatte heute schon viel Bewunderung erfahren. Sie sagte liebenswürdig: »Das ist aber schrecklich mit Ihrem Arm.«

»Jawohl, meine Gnädigste, schrecklich, aber gerecht.«

»Aber, aber, Herr Kamerad«, sagte Wendling, »da kann man doch nicht von Gerechtigkeit sprechen.«

Jaretzki hob einen Finger: »Keine Juristengerechtigkeit, Herr Kamerad, … wir haben eine neue Gerechtigkeit bekommen, was sollen dem Menschen so viel Gliedmaßen, wenn er allein ist … das werden Sie wohl zugeben, meine Gnädigste.«

»Guten Abend«, sagte Wendling.

»Schade, jammerschade«, sagte Jaretzki, »aber natürlich, jeder ist seiner Einsamkeit verpflichtet … guten Abend, meine Herrschaften.« Und er wendet sich wieder seinem Tische zu.

»Merkwürdiger Mensch«, sagt Hanna Wendling.

»Betrunkener Narr«, antwortet ihr Mann.

Der Kriegsfreiwillige Pelzer kommt mit zwei Groggläsern vorbei und macht Front.

 

Huguenau eilte aus dem Tanzsaal. Wischte sich den Schweiß von der Stirn, steckte das Taschentuch in den Kragen.

Schwester Mathilde hielt ihn an: »Herr Huguenau, Sie könnten uns behilflich sein, unsere Patienten zusammenzutrommeln.«

»Besondere Ehre, gnädiges Fräulein, soll ich einen Tusch blasen lassen?« – er wollte sich schon zur Musik hinwenden.

»Nein, nein, Herr Huguenau, machen Sie nicht so viel Aufsehen, es geht auch so.«

»Bitteschön … großartiges Fest gewesen, nicht wahr, gnädiges Fräulein? der Herr Major hat sich auch überaus günstig ausgesprochen.«

»Gewiß, ein schönes Fest.«

»Auch der Herr Oberstabsarzt schien durchaus befriedigt … war in glänzender Stimmung … darf ich Sie bitten, mich dem Herrn Oberstabsarzt zu empfehlen … er hat uns so rasch verlassen, ich konnte ihm nicht das Geleite geben.«

»Bitte, Herr Huguenau, machen Sie vielleicht die Soldaten im Tanzsaal darauf aufmerksam, daß Dr. Flurschütz und ich sie am Eingang erwarten.«

»Soll geschehen, soll sofort geschehen … daß Sie uns aber so bald verlassen wollen, ist nicht recht, gnädiges Fräulein … hoffentlich kein Zeichen, daß Sie sich nicht amüsiert haben … das will ich denn doch nicht hoffen …«

Das Taschentuch im Kragen, eilte Huguenau in den Saal zurück.

»Wie ist's mit den Offizieren, Schwester?« fragte Flurschütz.

»Ach, um die brauchen wir uns nicht weiter zu kümmern, die haben wohl selber für Fahrgelegenheit gesorgt.«

»Schön, scheint sich doch noch alles einzurenken … aber der Jaretzki bleibt uns nicht erspart.«

 

Jaretzki und der Kriegsfreiwillige Dr. Pelzer saßen noch immer im Garten unter der Musikestrade. Jaretzki versuchte durch das braune Grogglas auf die Lampions zu schauen.

Flurschütz setzte sich zu ihnen: »Wie wär's mit Schlafengehen, Jaretzki?«

»Mit einem Weibe gehe ich schlafen, ohne Weib gehe ich nicht schlafen … die Sache hat damit begonnen, daß die Männer ohne Weiber und die Weiber ohne Männer schlafen gegangen sind … das war schlecht.«

»Da hat er recht«, sagte der Kriegsfreiwillige.

»Möglich«, sagte Flurschütz, »und darauf sind Sie jetzt gekommen, Jaretzki?«

»Ja, jetzt eben … aber ich weiß es schon lange.«

»Damit werden Sie sicherlich die Welt erlösen.«

»Es würde schon genügen, wenn er Deutschland erlöste …« sagte der Kriegsfreiwillige Pelzer.

»Deutschland …« sagte Flurschütz und sah in den leeren Garten.

»Deutschland …« sagte Pelzer, »damals habe ich mich als Kriegsfreiwilliger an die Front gemeldet … jetzt bin ich froh, daß ich hier sitze.«

»Deutschland …«, sagte Jaretzki, der zu weinen begonnen hatte, »... zu spät …« er wischte sich die Augen, »Flurschütz, Sie sind ein netter Junge, ich liebe Sie.«

»Das ist brav von Ihnen, ich liebe Sie auch … wollen wir jetzt heimgehen?«

»Wir haben kein Heim mehr, Flurschütz, … ich will's mit dem Heiraten versuchen.«

»Auch dafür ist's heute wohl zu spät«, sagte der Kriegsfreiwillige.

»Ja, spät ist es, Jaretzki«, sagte Flurschütz.

»Dafür ist's nie zu spät«, heulte Jaretzki, »aber du hast ihn mir abgeschnitten, du Schwein.«

»Na, Jaretzki, jetzt wär's aber an der Zeit, daß Sie endlich mal aufwachen …«

»Schneidest du ihn mir ab, schneid' ich ihn dir ab … deshalb muß der Krieg ewig weitergehen … hast du's auch schon mal mit einer Handgranate versucht …?« er nickte ernsthaft, »... ich, ich hab's getan … feine Eier, die Handgranaten … faule Eier.«

Flurschütz nahm ihn unterm Arm: »Ja, Jaretzki, wahrscheinlich haben Sie sogar recht … ja, und wahrscheinlich ist es wirklich das einzige Verständigungsmittel … aber nun kommen Sie, mein Freund.«

Beim Eingang waren die Soldaten bereits um Schwester Mathilde versammelt.

»Haltung, Jaretzki«, sagte Flurschütz.

»Zu Befehl«, sagte Jaretzki, und als er vor Schwester Mathilde hintrat, stand er stramm und meldete: »Ein Leutnant, ein Oberarzt und vierzehn Mann zur Stelle … melde gehorsamst, daß er ihn mir abgeschnitten hat …« er machte eine kleine Kunstpause, und dann zog er den leeren Ärmel aus der Tasche, ließ ihn vor Schwester Mathildes langer Nase hin- und herbaumeln: »Keusch und leer.«

Schwester Mathilde rief: »Wer fahren will, soll mitfahren; ich gehe mit den übrigen zu Fuß.«

Huguenau kam herausgestürzt: »Es hat hoffentlich alles geklappt, gnädiges Fräulein, und wir sind vollzählig … darf ich glückliche Heimkunft wünschen …«

Er verabschiedete sich von Schwester Mathilde, von Dr. Flurschütz, von Leutnant Jaretzki, von jedem einzelnen der vierzehn Mann, wobei er sich jedem von ihnen als »Huguenau« vorstellte.

 


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