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Huguenau, dessen Vorfahren wohl Hagenau geheißen haben mochten, ehe das elsässische Land 1682 von den Truppen Condés besetzt worden war, hatte durchaus den Habitus eines bürgerlichen Alemannen. Beleibt und untersetzt, trug er Augengläser seit seiner Jugend, oder präziser gesagt, seit jenen Tagen, da er in Schlettstadt dem Handelsschulstudium oblag, und als er sich zur Zeit des Kriegsausbruchs seinem dreißigsten Lebensjahr näherte, waren alle Züge der Jugendlichkeit aus seinem Gesicht und aus seinem Gehaben verschwunden. Seine Geschäfte betrieb er im Badischen und in Württemberg, teils als Filiale des väterlichen Unternehmens (André Huguenau, Textilien, Colmar/Els.), teils auf eigene Rechnung und als Vertreter elsässischer Fabriken, deren Erzeugnisse er in jenem Rayon absetzte. Sein Ruf in Branchekreisen war der eines strebsamen, umsichtigen und soliden Kaufmanns.

Sicherlich hätte ihn sein kaufmännisches Ethos eher dem zeitgerechteren Schleichhandel als dem Kriegshandwerk verpflichtet. Doch er nahm es ohne weitere Auflehnung hin, als man sich 1917 über seine hochgradige Kurzsichtigkeit bedenkenlos hinwegsetzte und ihn zu den sogenannten Waffen rief. Zwar gelang es ihm noch während der Ausbildungszeit in Fulda, das eine oder das andere Tabakgeschäft abzuschließen, aber bald genug ließ er es bleiben. Nicht nur weil der Dienst ihn für alle anderen Dinge müde machte oder abstumpfte. Es war bloß so angenehm, an nichts anderes mehr denken zu müssen, und von ferne her gemahnte es an die Schulzeit: noch erinnerte sich der Schüler Huguenau (Wilhelm) an die Schlußfeier in der Schlettstadter Anstalt und mit welch eindrucksvollen Worten der Direktor damals die kommerzbeflissenen Jünglinge in den Ernst des Lebens entlassen hatte, in einen Lebensernst, mit dem man bisher ganz gut zurechtgekommen war und den man nun zugunsten einer neuen Schulzeit wieder aufgeben mußte. Nun war man wieder in eine ganze Reihe von Verpflichtungen hineingeraten, die man viele Jahre hindurch vergessen gehabt hatte, man wurde wie ein Schuljunge behandelt, wurde angeschrien, hatte ein ähnliches Verhältnis zu den Aborträumlichkeiten und ihrer Kollektivität wie in der Jugendzeit; auch der Fraß stand wieder im Mittelpunkt des Interesses, und die Respektbezeugungen und die ehrgeizigen Bestrebungen, in die man verflochten wurde, gaben dem Ganzen ein vollkommen infantiles Gepräge. Überdies war man in einem Schulgebäude untergebracht, und vor dem Einschlafen sah man die beiden Reihen der Lampen mit den grünweißen Schirmen über sich und die schwarze Tafel, die in dem Raume belassen worden war. Durch all dies wurden Kriegs- und Jugendzeit zu unauflöslicher Einheit verwirrt, und auch als das Bataillon endlich zur Front abging, kindische Lieder singend und mit Fähnchen geschmückt, primitive Unterkünfte in Köln und Lüttich beziehend, vermochte sich der Füsilier Huguenau von der Vorstellung eines Schulausflugs nicht freizumachen.

An einem Abend wurde seine Kompagnie in die Kampflinie gebracht. Es war eine ausgebaute Schützengrabenstellung, der man sich durch lange, gesicherte Laufgräben zu nähern hatte. In den Unterständen herrschte beispielloser Schmutz, der Fußboden war mit trockenem und frischem Tabakspeichel allenthalben bespuckt, an den Wänden gab es Urinstreifen, ob es nach Fäkalien oder nach Leichen stank, war nicht zu unterscheiden. Huguenau war zu müde, um sich das, was er sah und roch, auch wirklich zu vergegenwärtigen. Schon als sie einer nach dem andern durch den Laufgraben dahintrotteten, hatten sie wohl alle das Gefühl, hinausgestoßen zu sein aus dem Schutze des Kameradschaftlichen und des Zusammengehörens, und wenn sie auch sehr abgestumpft waren gegen den Mangel jedweder Reinlichkeit, und wenn sie auch das Zivilisatorische, mit dem der Mensch die Gerüche des Todes und der Verwesung abzuwehren sucht, nicht sehr entbehrten, und wenn auch diese Überwindung des Ekels immer die erste Vorstufe zum Heldentum ist – wodurch sich eine seltsame Verbindung zur Liebe ergibt –, und wenn auch das Grauen manchem von ihnen in langen Kriegsjahren zur gewohnten Umgebung geworden war, und wenn sie auch unter Flüchen und Witzen ihr Lager herrichteten, so gab es doch keinen, der nicht wußte, daß er als einsamer Mensch mit einsamem Leben und einsamem Tode hier herausgestellt worden war in eine übermächtige Sinnlosigkeit, in eine Sinnlosigkeit, die sie nicht begreifen oder höchstens als Scheißkrieg bezeichnen konnten.

Damals wurde von den verschiedenen Generalstäben gemeldet, daß am flandrischen Abschnitt völlige Ruhe herrsche. Auch die abgelöste Kompagnie hatte ihnen versichert, daß nichts los sei. Trotz alledem begann nach Einbruch der Dunkelheit eine beiderseitige Artillerieschießerei, die immerhin arg genug war, um den Neuankömmlingen allen Schlaf zu rauben. Huguenau saß auf einer Art Pritsche, hatte Leibschmerzen, und erst nach geraumer Zeit merkte er, daß er in allen Gelenken zitterte und klapperte. Den anderen ging's auch nicht besser. Einer flennte. Die Alten freilich, die lachten: daran würden sie sich schon noch gewöhnen, das sei so ein allnächtlicher Jux, den sich die Batterien leisteten, der habe nichts zu bedeuten; und ohne sich weiter um die Schlappschwänze zu kümmern, schnarchten sie richtig schon nach wenigen Minuten.

Huguenau hätte sich gern beschwert: dies alles ging gegen die Verabredung. Übel und käsig wie ihm zumute war, sehnte er sich nach Luft, und als das Zittern in den Knien nachließ, schlich er auf lahmen Beinen zum Eingang des Unterstands, hockte sich dort auf eine Kiste und starrte mit leeren Augen in den feuerwerkartigen Himmel. Das Bild eines in einer Orangewolke gen Himmel auffliegenden Herrn mit erhobener Hand kam ihm immer wieder vor Augen. Dann erinnerte er sich an Colmar und daß man seine Schulklasse einmal ins Museum geführt und mit Erklärungen gelangweilt hatte; aber vor dem Bild, das wie ein Altar in der Mitte stand, hatte er sich gefürchtet: eine Kreuzigung, und Kreuzigungen liebte er nicht. Vor ein paar Jahren, da mußte er einmal zwischen zwei Kundenbesuchen einen Sonntag in Nürnberg vertrödeln, und da hatte er die Folterkammer besichtigt. Das war interessant gewesen! Und auch 'ne Menge Bilder gab es dort. Auf einem war ein Mann zu sehen, der an eine Art Pritsche angekettet war und der, wie die Beschreibung sagte, einen Pastor im Sächsischen mit vielen Dolchstößen ermordet hatte und nun dafür auf dieser Pritsche die Strafe des Räderns erwartete. Über den Vorgang des Räderns konnte man sich an den andern Ausstellungsstücken eingehend belehren. Der Mann hatte ein durchaus gutmütiges Aussehen, und es war ebenso unvorstellbar, daß dieser Mann einen Pastor erstochen hatte und zum Rädern bestimmt war, wie daß man selber hier im Leichengestank auf einer Pritsche ausharren sollte. Sicherlich litt auch der Mann an Leibschmerzen und mußte sich, weil er angekettet war, beschmutzen. Huguenau spuckte aus und sagte »merde!«

So saß Huguenau am Eingang des Unterstandes wie eine Schildwache; sein Kopf lehnte an einem Pfosten, er hatte den Mantelkragen hochgeschlagen, er fror nicht mehr, er schlief nicht und er wachte auch nicht. Folterkammer und Unterstand tauchten immer tiefer in die etwas schmutzigen und doch leuchtenden Farben jenes Grünewaldschen Altarwerks, und während draußen im aufzuckenden Orangelicht des Kanonenfeuerwerks und der Leuchtraketen die Äste der nackten Bäume ihre Arme zum Himmel reckten, schwebte ein Mann mit aufgehobener Hand in die strahlend aufbrechende Kuppel.

Als das erste Morgengrauen kalt und bleiern dämmerte, bemerkte Huguenau die Grasbüschel am Grabenrand und einige vorjährige Gänseblümchen. Da kroch er heraus und entfernte sich. Er wußte, daß er von den englischen Linien ohne weiteres abgeschossen werden konnte, und daß er von den deutschen Posten auch gehörige Unannehmlichkeiten zu gewärtigen hätte. Aber die Welt lag wie unter einem Vakuumrezipienten – Huguenau mußte an eine Käseglocke denken – die Welt lag grau, madig und vollkommen tot in unverbrüchlichem Schweigen.

 


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