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80

Jaretzki war mit Hauptmann v. Schnaack abgereist. Die Schwestern standen noch vor dem Gittertor und winkten dem Wagen nach, der die beiden zur Bahn brachte. Als sie ins Haus zurückgingen, sah Schwester Mathilde spitzig und altjüngferlich aus.

Flurschütz sagte: »Eigentlich furchtbar nett von Ihnen, daß Sie sich gestern abend seiner so angenommen haben, … der Kerl war ja in einer abscheulichen Verfassung … wo hat er denn den polnischen Schnaps hergehabt?«

»Ein unglücklicher Mensch«, sagte Schwester Mathilde.

»Haben Sie die Toten Seelen gelesen?«

»Lassen Sie mich mal nachdenken … ich glaube schon …«

»Gogol«, sagte Schwester Carla mit dem Stolze schlagfertiger Bildung, »russische Leibeigene.«

»So eine tote Seele ist der Jaretzki«, sagte Flurschütz, und nach einer Weile, indem er auf die Gruppe der Soldaten im Garten hinwies, »... das sind sie alle, tote Seelen … wahrscheinlich wir alle; jeden hat es irgendwo gepackt.«

»Können Sie mir das Buch leihen?« fragte Schwester Mathilde.

»Hier habe ich's nicht … wird sich aber schon wo finden lassen … übrigens Bücher … Sie wissen, ich kann nichts mehr lesen …«

Er hatte sich auf die Bank neben dem Hauseingang gesetzt, schaute auf die Straße und auf die Berge, auf den hellen Herbsthimmel, der sich im Norden verdüsterte. Schwester Mathilde zögerte ein wenig, dann nahm auch sie Platz.

»Wissen Sie, Schwester, es müßte eigentlich ein neues Verständigungsmittel außerhalb der Sprache erfunden werden … was so geschrieben und gesprochen wird, das ist vollkommen taub und stumm geworden, … es müßte etwas Neues geben, sonst behält unser Oberstabs noch recht mit seiner Chirurgie …«

»Ich begreife nicht recht«, sagte Schwester Mathilde.

»Ach, bemühen Sie sich nicht, es ist ein Blödsinn … ich meinte bloß irgendwie, wenn die Seelen tot sind, so bleibt bloß das chirurgische Messer, … aber es ist ein Unsinn.«

Schwester Mathilde dachte nach: »Sagte nicht Leutnant Jaretzki etwas Ähnliches, als man ihm den Arm amputieren mußte?«

»Schon möglich, er hatte es ja auch mit dem Radikalismus … natürlich konnte er nicht anders als radikal sein … wie jedes eingesperrte Tier …«

Schwester Mathilde war von dem Ausdruck »Tier« schockiert: »Ich glaube, daß er sich bloß bemüht hat, alles zu vergessen … er hat es einmal angedeutet und das mit dem Trinken …«

Flurschütz hatte die Mütze zurückgeschoben; er spürte die Narbe auf seiner Stirne und rieb ein wenig daran: »Eigentlich würde ich mich nicht wundern, wenn jetzt eine Periode käme, in der die Menschen es überhaupt bloß darauf anlegen würden, zu vergessen, nur zu vergessen: Schlafen, Essen, Schlafen, Essen … so wie die Leute hier … Schlafen, Essen, Karten spielen …«

»Das wäre ja furchtbar, ganz ohne Ideale!«

»Liebe Schwester Mathilde, was Sie erleben, das ist ja kaum der Krieg, das ist nur eine Miniaturausgabe des Krieges … Sie haben sich seit vier Jahren nicht von hier fortgerührt … und die Leute schweigen ja alle, wenn sie auch verwundet sind … schweigen und vergessen … aber Ideale hat keiner mit heimgebracht, das können Sie mir glauben.«

Schwester Mathilde hatte sich erhoben. Das Wetter stand jetzt als breite schwarze Wolkenwand gegen den hellen Himmel.

»Ich melde mich möglichst bald wieder zu einem Feldlazarett«, sagte er.

»Leutnant Jaretzki meinte, daß der Krieg niemals aufhören wird.«

»Ja, … vielleicht ist's eben deshalb, daß ich wieder raus will.« »Ich sollte mich wohl auch für draußen melden …«

»Na, Schwester, Sie leisten hier auch genug.«

Schwester Mathilde sah zum Himmel: »Ich muß die Liegestühle hineinschaffen.«

»Ja, tun Sie das, Schwester.«

 


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