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An dem Sonntagnachmittag, der auf das Fest in der Stadthalle folgte, entschloß sich Major v. Pasenow zu seiner eigenen Überraschung, der Einladung Eschs Folge zu leisten und die Bibelstunde zu besuchen. Das kam folgendermaßen: eigentlich dachte er gar nicht an Esch, und Schuld daran hatte vielleicht bloß der Spazierstock, den er plötzlich im Ring des Kleiderständers lehnen sah, einen Spazierstock mit weißer Elfenbeinkrücke, der auf irgendeine Weise ins Gepäck geraten war und offenbar bis jetzt im Schranke versteckt gewesen sein mußte. Natürlich kannte er den Stock von altersher, aber es war trotzdem ein fremder Stock. Einen Augenblick lang schien es dem Major v. Pasenow, als wäre es notwendig, Zivil anzulegen und eine jener zweideutigen Vergnügungsstätten zu besuchen, die von Offizieren nicht in Uniform betreten werden dürfen. Und sozusagen als Annäherungswert schnallte er nicht den Degen um, sondern nahm den Stock zur Hand und verließ den Gasthof. Ein wenig zögernd blieb er vor dem Hause stehen, dann schlug er die Richtung zum Fluß ein. Er promenierte langsam, auf seinen Stock gestützt, vielleicht wie ein verwundeter oder kranker Offizier in einem Badeort, – und flüchtig mußte er daran denken, daß an dem Stock eine Gummikapsel fehlte. So gelangte er gemächlichen Schrittes vor die Stadt und hatte das kleine Freiheitsgefühl eines Mannes, der jederzeit umkehren darf, ein Offizier auf Urlaub. Und tatsächlich kehrte er bald um – es war wie ein beglückendes und beruhigendes, dennoch beunruhigendes Heimfinden –, und als wäre es ein dringliches Versprechen, das er eilends einzulösen hätte, ging er auf kürzestem Wege zu Eschs Anwesen.
Seitdem die Zahl der Anhänger gewachsen war, und weil man während der schönen Jahreszeit ohnehin keines geheizten Lokals bedurfte, fanden die Versammlungen in einem der leeren Schuppenräume des ehemaligen Wirtschaftsgebäudes statt. Ein Zimmermann, der dem Kreise angehörte, hatte einfache Bänke beigestellt; ein kleiner Tisch mit einem Stuhl befand sich in der Mitte des Raumes. Wegen Mangel eines Fensters war das Tor offen gelassen worden, und der Major, den Hof betretend, wußte sogleich, wohin sich wenden.
Da nun der Major im Rahmen des Tores erschien und ein wenig verweilte, sein Auge an das Dämmerlicht zu gewöhnen, da standen alle auf; fast sah es aus, als hätten sie einen Vorgesetzten zur Kaserneninspektion erwartet, und dieser Eindruck wurde durch die Uniformen der anwesenden Militärpersonen verstärkt. Dieses wenn auch nur gleichnishafte Zurückverwandeln in gewohntere Würde milderte für den Major das Außergewöhnliche der Situation; es war wie eine leichte und doch feste Hand, die ihn vor einem dunklen Gleiten zurückhielt, es war wie das flüchtige Ahnen einer eben bestandenen Gefahr, und er salutierte.
Esch war mit den anderen aufgesprungen, und nun geleitete er den Gast zu dem Stuhle hinter dem Tischchen. Er selbst blieb daneben stehen, gewissermaßen ein Engel, der zu ihm getreten war, über ihn zu wachen. Und der Major empfand es so ähnlich, ja, es war, als hätte sich der Zweck seines Besuches damit schon erfüllt, als umgäbe ihn eine Atmosphäre der Gesichertheit, ein vereinfachter Lebensraum, der ihn gleich einem Heimgefundenen aufnehmen wollte. Auch das Schweigen, das ihn umgab, war wie Selbstzweck, es hätte ewig so andauern mögen: keiner sprach ein Wort, der Raum, von Schweigen erfüllt, durch Schweigen seltsam entleert, war wie über die eigenen Grenzen hinaus geweitet, und das gelbe Sonnenlicht vor dem geöffneten Tor floß vorüber wie ein ewig unermeßlicher Strom, an dessen Ufer man saß. Niemand wußte, wie lange die schweigende Bewegungslosigkeit währte, es war gleichsam die starre Unentscheidbarkeit der Sekunde, in der der Tod neben dem Menschen steht, und obwohl der Major wußte, daß Esch es war, der neben ihm stand, fühlte er die ganze Brüderlichkeit des Todes, fühlte sein Drohen wie einen süßen Halt. Und da er versuchte, sich ihm zuzuwenden, geschah es mit all der Anstrengung desjenigen, der Entscheidendes erwartet und der trotzdem weiß, daß er bis zum letzten Augenblick die Form zu wahren hat. Mit großer Anstrengung wandte er sich ihm zu und sagte: »Ich bitte fortzusetzen.«
Nun aber erfolgte durchaus nichts, denn Esch sah auf den weißen Scheitel des Majors, er hörte des Majors leise Stimme, und es war, als wüßte der Major alles von ihm, als wüßte er alles von dem Major, zwei Freunde, die viel voneinander wissen. Er und der Major, sie waren da wie auf erhöhter und lichterer Bühne, an bevorzugter Stelle waren sie, still war die Versammlung, als hätte ihr eine Glocke Schweigen geboten, und Esch, der es nicht wagte, die Hand auf die Schulter des Majors zu legen, stützte sich auf die Lehne des Stuhls, obzwar eigentlich auch dies ungebührlich war. Er fühlte sich stark, fest und wohlbestellt, so stark wie in seinen besten Jugendtagen, gleichwohl geborgen und weich, als wäre er befreit von allem Menschenwerk, als wäre der Raum nicht mehr aus geschichteten Ziegeln, das Tor nicht mehr aus zersägten Brettern, als wäre alles Gotteswerk und als wäre das Wort in seinem Munde das Wort Gottes. Er schlug die Bibel auf und las aus dem 16. Kapitel der Apostelgeschichte: »Schnell aber war ein großes Erdbeben, also daß sich bewegten die Grundfesten des Gefängnisses. Und von Stund an wurden alle Türen aufgetan und aller Bande los. / Als aber der Kerkermeister aus dem Schlafe fuhr und sah die Türen des Gefängnisses aufgetan, zog er das Schwert und wollte sich selbst erwürgen, denn er meinte, die Gefangenen wären entflohen. / Paulus aber rief laut und sprach: Tu dir kein Leid! denn wir sind alle noch hier.«
Den Finger zwischen die Seiten des zugeklappten Buches gelegt und vorsichtig sich räuspernd, wartete Esch. Er wartete, daß die Grundfesten des Gebäudes erzittern sollten, er wartete, daß eine große Erkenntnis sich jetzt auftun werde, er wartete, daß jener den Befehl erteilen werde, die schwarze Fahne zu hissen, und er dachte: ich muß Platz machen für den, nach dem die Zeit gezählt werden wird. Er dachte es und wartete. Jedoch für den Major waren die gehörten Worte wie Tropfen, die im Auffallen zu Eis wurden; er schwieg und alle schwiegen mit ihm.
Esch sagte: »Sinnlos jede Flucht, freiwillig müssen wir die Haft auf uns nehmen … der Unsichtbare mit dem Schwerte steht hinter uns.«
Wie sich der Major einen Augenblick sehr richtig vorstellte, hatte Esch den Sinn der Bibelstelle teils bedeutungsgerecht, teils höchst unklar und phantastisch erfaßt, aber der alte Herr verweilte nicht bei dieser Überlegung, vielmehr versank sie ihm in einem Bilde, das, einer Erinnerung gleichend, doch kaum Erinnerung war, da er alles leibhaftig vor sich sah: die alten Landsturmleute und die jungen Rekruten, wie Apostel und Jünger waren sie, wie eine Gemeinde, die sich in einem Gemüsekeller oder in einer dunklen Gruft zusammengefunden hat, dunkle fremde Sprache redend, dennoch verständlich wie die Sprache der Kindheit, überglänzt von himmlischer Silberwolke, – und voll entschlossener Inbrunst, und zuversichtlich gleich ihm sahen die Jünger zu der Himmlischen empor.
»Wir wollen singen«, sagte Esch und er begann:
»Herr Gott, Zebaoth,
Nimm uns auf in Deine Gnade,
Schling um uns Dein einend Band,
Führe uns mit Deiner Hand,
Herr Gott, Zebaoth.«
Mit der Stiefelsohle klopfte Esch den Takt; viele der Leute taten desgleichen, sie wiegten sich im Takt und sie sangen. Vielleicht sang auch der Major mit, er wußte es nicht, es war eher ein Singen in seinem Innern, ein Singen in seinen geschlossenen Augen, kristallener Tropfen, der singend aus der Wolke fällt. Und er hörte die Stimme: Tu dir kein Leid! denn wir sind noch alle hier!
Esch ließ den Gesang verebben, und dann sagte er: »Nichts nützt es, der Finsternis des Kerkers zu entfliehen, denn wir entfliehen bloß zu neuer Finsternis … wir müssen das Haus neu bauen, wenn die Zeit gekommen sein wird.«
Eine Stimme setzte wieder ein:
»Fach ihr Fünklein an zum Brand,
Fünklein an zum Brande rot.
Herr Gott, Zebaoth.«
»Halt's Maul«, sagte eine andere Stimme. Eine nächste Stimme respondierte:
»Mit Feuer tauf uns. Jesus Christ,
Send das Feuer!
Dies Feuer unser Anrecht ist.
Send das Feuer!
Herr, unser Gott, wir flehn Dich an,
Send das Feuer!
Nur so wird alles wohlgetan.
Send das Feuer!«
»Halt's Maul«, sagte wieder die andere Stimme, schwerfällige Stimme, doch dröhnend wie ein Kellergewölbe, und es war die eines Menschen in Landwehruniform, der mit langem Bart, auf zwei Stöcke gestützt, nun dastand. Und trotz der Anstrengung, die es ihm machte, fuhr er fort, dies zu sagen: »Wer nicht tot war, muß's Maul halten … wer tot war, ist getauft, die andern nicht.«
Doch auch der erste Sänger war aufgesprungen und seine Stimme erwiderte singend:
»Rett, oh rett mich vor dem Tod,
Herr Gott, Zebaoth.«
»Send das Feuer«, sagte da auch der Major, und obwohl er es sehr leise sagte, war es vernehmlich genug, daß Esch sich nun zu ihm herabbeugte. Es war gewissermaßen ein unkörperliches Herabbeugen, zumindest wurde es von dem Major so empfunden, es war eine leichte Sicherheit in dieser Annäherung, beruhigend und gleichzeitig beunruhigend, und der Major betrachtete die Elfenbeinkrücke seines Stockes auf dem Tischchen vor ihm, betrachtete die weiße Manschette, die aus dem Ärmel des Uniformrockes hervorlugte, – es war gewissermaßen eine unkörperliche Ruhe, eine gewissermaßen verdünnte, helle, fast weiße Ruhe, die in dem dunklen Raum und über all dem Stimmengewirr ausgespannt lag, ein klingendes durchsichtiges Netz in einer merkwürdig abstrakten Vereinfachung. Draußen flutete wie ein scharfer feuriger Schutz der Strom des Sonnenlichtes vorüber; man war in einem Hafen, in einer Gruft, in einem Keller, in einer Katakombe.
Vielleicht erwartete Esch, daß der Major weitersprechen werde, denn der Major hob zweimal die Hand, gleichsam einstimmend in den rhythmischen Takt des Gesanges, gleichsam ihn zu begrüßen, – Esch hielt den Atem an, allein der Major ließ die Hand wieder sinken. Da sagte Esch, als sollte damit aus Totem das Lebendige erstehen: »Die Fackel der Freiheit … der erleuchtende Brand … die Fackel der wahren Freiheit.«
Für den Major indes war es eine Art Verschmelzung, und er hätte nicht zu sagen gewußt, ob er den erleuchtenden Kranz der Fackeln über sich sah, oder ob er die Stimme des Mannes hörte, der den Refrain »Send das Feuer« immer weiter psalmodierte, oder ob es die Stimme Eschs war oder das Weinen des kleinen Uhrmachers Samwald, das dünn aus dem Hintergrund hervordrang: »Rette uns aus der Finsternis, führe uns zu den paradiesischen Freuden.«
Aber der Landwehrmann, der keuchend sich aufgerichtet hatte, und er schwang dabei einen seiner Stöcke, gab heisere Laute von sich, heulende Worte: »Auferstanden von den Toten … wer nicht in der Erde war, soll's Maul halten.«
Esch entblößte sein Pferdegebiß, lachte: »Du darfst selber dein ungewaschenes Maul halten, Gödicke.«
Das waren grobe Worte; Esch mußte selber so laut darüber lachen, daß es ihn irgendwie lähmend in der Kehle schmerzte wie einen, der im Schlafe lacht. Der Major allerdings vernahm weder die Grobheit der Rede noch das überlaute Lachen, denn in seinem besseren Wissen sah er durch die Rauheit der Oberflächen hindurch, ja, er bemerkte sie gar nicht, und eher war es ihm, als würde Esch mit leichter Hand alles in Ordnung bringen können, als würden Eschs Züge, unkenntlich fast in dem Dämmerlicht, zu seltsam dämmeriger Landschaft mit dem ganzen Raum verschmolzen sein, und durch das dröhnende Lachen schimmerte ihm eine Seele, die sich aus dem Nachbarfenster beugt und lächelt, Seele des Bruders, dennoch keine Einzelseele, dennoch nicht in der Nachbarschaft, sondern wie eine unendlich ferne Heimat. Und er lächelte Esch zu. Doch auch in Esch war das Wissen und er wußte gleichfalls, daß ein gemeinsames Lächeln gemeinsam sie auf erhöhte Stufe trug, es war ihm, als käme er aus weitester Ferne angefahren inmitten eines brausenden Windes, der alles Gewesene hinwegfegt, als käme er auf feurigem rotem Gefährt angefahren, um hier am Ziele zu sein, an jenem erhöhten Ziele, an dem es gleichgültig wird, wie einer heißt, gleichgültig, ob einer in den andern verfließt, Ziel, an dem es kein Heute und kein Morgen mehr gibt, – er spürte den Hauch der Freiheit seine Stirne berühren, Traum im Traume, und Esch, die Knöpfe der Weste öffnend, stand da, hochaufgerichtet, als wollte er den Fuß auf des Schlosses Freitreppe setzen.
Freilich, den Mann Ludwig Gödicke hatte er trotz alledem nicht einschüchtern können. Der war nun fast bis an das Tischchen vorgehumpelt und kampfbereit schrie er: »Wer reden will, soll erst mal in die Erde kriechen … da …«, er bohrte die Spitze seines Stockes in den Lehmboden, »... da … kriech erst selber mal da hinein.«
Esch mußte wieder lachen. Er fühlte sich stark, fest und wohlbestellt, robust auf seinen Beinen, ein Kerl, den umzubringen sich schon verlohnte. Er streckte die Arme aus wie einer, der vom Schlafe aufwacht oder wie ein Gekreuzigter: »Na, willst du mich vielleicht gar erschlagen … mit deinen Krücken … du läufst ja auf Krücken, du Mißgeburt.«
Einige riefen, den Gödicke solle man in Ruhe lassen, das sei ein heiliger Mann.
Esch machte eine wegwerfende Geste: »Keiner ist heilig … heilig ist erst der Sohn, der das Haus bauen wird.«
»Alle Häuser baue ich«, brüllte der Maurer Gödicke, »alle Häuser habe ich gebaut … immer höher …« und er spuckte verächtlich aus.
»Wolkenkratzer in Amerika«, feixte Esch.
»Er kann auch Wolkenkratzer bauen«, weinte der Uhrmacher Samwald.
»Ja, kratz dich selber … Wände kann er abkratzen.«
»Aus der Erde heraus bis in den Himmel hinein …«
Gödicke hatte die Arme mit den beiden Stöcken in der Luft, er sah drohend und gewaltig aus, »... auferstanden von den Toten!«
»Tot!« schrie Esch, »die Toten glauben, daß sie mächtig sind … ja, mächtig sind sie, aber das Leben im dunklen Haus können sie nicht erwecken … die Toten sind die Mörder! Mörder sind sie!«
Er stockte, erschrocken über das Wort vom Mord, das jetzt wie ein dunkler Schmetterling durch die Luft geflattert war, doch nicht minder erschrocken und verstummt vor dem Gehaben des Majors: denn der Major hatte sich erhoben, mit einem sonderbar steifen Ruck, und hatte das Wort wiederholt, wiederholte starr »Mörder« und blickte, als erwarte er Entsetzliches, auf das geöffnete Tor und auf den Hof hinaus.
Alle schwiegen und sahen auf den Major. Der Major regte sich nicht, schaute noch immer gebannt auf das Tor und Esch schaute gleichfalls hin. Nichts Außergewöhnliches war dort sichtbar; die Luft zitterte im Sonnenlicht, die Hausmauer am andern Ufer des Sonnenstroms – eine Kaimauer, mußte der Major denken – blendete, ein viereckiger weißer Ausschnitt in dem braunen Kasten des Tors und seiner Flügel. Aber das Gleichnis hatte seine beglückende Unmittelbarkeit verloren, und als Esch, die eingetretene Ruhe benützend, nochmals die Bibelstelle vorlas: »Und von Stund an waren alle Türen auf getan«, da war dem Major das Tor wieder ein gewöhnliches Scheunentor, und nichts war geblieben, als daß der Hof da draußen von ferne her an die Heimat gemahnte und an den großen Gutshof inmitten der Ställe. Und auch als Esch schloß: »Tu dir kein Leid! denn wir sind noch alle hier!« da war es nicht mehr Ruhe, es war Angst, – die Angst, daß in der Welt des Gleichnisses und der Stellvertretung bloß das Böse leibhaftig sein könne. »Wir sind noch alle hier«, sagte Esch nochmals, doch der Major konnte es nicht glauben, denn es waren nicht mehr Apostel und Jünger vor seinen Augen, sondern Landsturmleute und Rekruten, Angehörige des Mannschaftsstandes, und er wußte, daß Esch gleich ihm, einsam wie er selber, voll Angst auf das Tor starrte. So standen sie nebeneinander.
Und da geschah es, daß am Grunde des dunklen Kastens, daß im Rahmen des Tores eine Gestalt auftauchte, eine rundliche, untersetzte Gestalt, die sich über den weißen Kies des Hofes hinbewegte, ohne daß die Sonne sich verdunkelte. Huguenau. Die Hände auf dem Rücken, ein Passant, der gemächlich einherschlendert, spazierte er über den Hof und machte vor dem Tore halt, blinzelte herein. Unbeweglich stand noch der Major, stand Esch, denn mochte es ihnen auch eine Ewigkeit dünken, es waren nur wenige Sekunden, und als Huguenau sich vergewissert hatte, was hier vor sich ging, nahm er den Hut ab, kam auf Zehenspitzen herein, verbeugte sich vor dem Major und setzte sich bescheiden ans Ende einer Bank. »Der Leibhaftige«, murmelte der Major, »der Mörder …«, aber vielleicht sagte er es gar nicht, denn die Kehle war ihm zugeschnürt, und beinahe hilfeheischend schaute er auf Esch. Esch indes lächelte, lächelte fast sarkastisch, obgleich er selber das Eindringen Huguenaus wie einen hinterhältigen Angriff empfand oder wie einen Meuchelmord, wie einen unentrinnbaren Tod, der trotzdem herbeigewünscht wird, selbst dann, wenn der Arm, der den Dolch hält, nur der eines schäbigen Agenten ist, – Esch lächelte, und weil der, der vor dem Tode steht, zur Freiheit erlöst ist und ihm alles erlaubt ist, berührte er den Arm des Majors: »Immer ist ein Verräter unter uns.« Und der Major erwiderte ebenso leise: »Er soll sich packen … er soll sich packen …« und als Esch den Kopf schüttelte, setzte er hinzu: »... nackt und bloß ausgestellt … ja, nackt und bloß sind wir ausgestellt auf der andern Seite …« und dann sagte er schließlich: »... ist ja egal …« denn in der Welle des Ekels, die er plötzlich in sich aufsteigen fühlte, floß breit und übermächtig die Gleichgültigkeit, floß die Müdigkeit. Und müde und schwerfällig ließ er sich wiederum bei dem Tischchen nieder.
Am liebsten hätte auch Esch nichts mehr von alledem gehört und gesehen. Am liebsten hätte er die Versammlung aufgehoben. Aber er durfte den Major nicht in solchem Mißklang scheiden lassen, und so schlug er etwas unziemlich mit der Bibel auf den Tisch, und rief: »Wir bleiben im Text. Jesaia, Kapitel 42, Vers 7, Daß du sollst öffnen die Augen der Blinden und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen, und die da sitzen in der Finsternis, aus dem Kerker.«
»Amen«, respondierte Fendrich.
»Es ist ein schönes Gleichnis«, sagte nun auch der Major.
»Ein Gleichnis von der Erlösung«, sagte Esch.
»Ja, ein Gleichnis von der erlösenden Buße«, sagte der Major und gab sich einen kleinen vorschriftsmäßigen Ruck, »ein schönes Gleichnis … wollen wir damit für heute schließen?«
»Amen«, sagte Esch, und knöpfte die Weste zu.
»Amen«, sagte die Versammlung. –
Als sie den Schuppen verließen und die Leute in stillem Gespräch noch unschlüssig auf dem Hofe beisammenstanden, drängte sich Huguenau durch die Gruppen zum Major hin, war aber von dessen abweisender Miene betroffen. Demungeachtet wollte er auf die Begrüßung nicht verzichten, um so weniger, als er sich hiezu schon ein Scherzwort zurechtgelegt hatte: »Herr Major sind also gekommen, um die Primiz unseres neugebackenen Herrn Pastors mitzufeiern?« Das kurze fremde Nicken, mit dem diese Anrede quittiert wurde, belehrte ihn, daß das Verhältnis getrübt sei, und dies wurde noch deutlicher, als der Major sich umwandte und mit auffallend lauter Stimme sagte: »Kommen Sie, Esch, wir wollen ein wenig vor die Stadt gehen.« Huguenau blieb in einer Mischung von Verständnislosigkeit, Wut und suchendem, vagem Schuldbewußtsein zurück.
Die beiden nahmen den Weg durch den Garten. Die Sonne neigte sich bereits zu den westlichen Höhenzügen.
Es war damals, als würde der Sommer überhaupt kein Ende nehmen: Tage von vergoldeter zitternder Stille folgten einer dem andern in gleichem strahlendem Licht, als wollten sie vor ihrer süßen Ruhe die blutigste Periode des Krieges doppelt sinnlos erscheinen lassen. Wie nun die Sonne hinter der Bergkette verschwand, der Himmel zu immer zarterem Blau aufhellte, die Landstraße immer friedlicher sich dehnte und das Leben sich allenthalben in sich faltete wie das Atmen des Schlafes selber, da ward jene Ruhe immer offenkundiger und aufnahmsbereiter für die Seele des Menschen. So lag der Sonntagsfrieden wohl über dem ganzen deutschen Vaterland, und in heftig aufquellender Sehnsucht gedachte der Major seiner Frau und seiner Kinder, die er über die abendlichen Felder sich ergehen sah: »Wäre dies alles nur schon vorbei«, und Esch konnte kein Wort des Trostes für ihn finden. Hoffnungslos dünkte sie beide jegliches Leben, einziger spärlicher Gewinn ein Spaziergang in abendlicher Landschaft, auf der ihrer beider Blicke ruhten. Es ist wie eine Galgenfrist, dachte Esch. Und so gingen sie schweigend.