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Wäre damals nicht der Hausbau in Aussicht gestanden, so hätte sich Hanna Wendling vielleicht nicht in den jungen Provinzrechtsanwalt verliebt. Aber im Jahre 1910 lasen die jungen Mädchen des besseren Bürgerstands den »Studio«, die »Innendekoration«, die »Deutsche Kunst und Dekoration«, sie besaßen das Werk »Stilmöbel in England«, und ihre erotischen Vorstellungen von der Ehe waren aufs innigste mit architektonischen Problemen verquickt. Das Haus Wendling oder »Haus in Rosen«, wie auf seinem Giebel in barockalen Lettern zu lesen war, entsprach in bescheidenem Ausmaß diesen Idealen; es hatte ein tief herabgezogenes Dach; Majolikaputten neben dem Hauseingang zeigten Symbole der Liebe und der Fruchtbarkeit; es gab eine englische Hall mit einem Rohziegelkamin, und auf dem Kaminsims stand messingener Krimskrams. Freude und Mühe hatte es gekostet, alle Möbel in eine so richtige Stellung zu bringen, daß überall ein architektonisches Gleichgewicht zu herrschen beginnen konnte, und als alles fertig war, hatte Hanna Wendling das Gefühl, daß bloß sie allein von der Vollkommenheit dieses Gleichgewichts wisse, mochte Heinrich auch daran teilhaben, ja, mochte ein gutes Stück ihres Eheglücks in solch gemeinsamem Wissen um die geheime Harmonie und die Kontrapunktik der Möbel- und Bilderanordnungen gelegen sein.

Nun, die Möbel hatten sich seitdem nicht verrückt, im Gegenteil, es wurde streng darauf geachtet, den ursprünglichen Plan nicht um einen Millimeter zu verändern, und dennoch war es anders geworden; was war geschehen? kann Gleichgewicht sich abnützen, kann Harmonie fadenscheinig werden? Anfänglich war es ihr nicht bewußt gewesen, daß sich Teilnahmslosigkeit dahinter verbarg, – das Positive war einfach ins Neutrale zurückgesunken, und erst als es ins Negative umschlug, wurde es bemerkbar: nicht daß das Haus oder die Möbelanordnungen ihr nun plötzlich widerwärtig geworden wären, dem hätte sich zur Not durch Umstellen des Mobiliars beikommen lassen, nein, es war etwas, das tiefer hinabreichte; es war der Fluch des Zufälligen und Zusammengewehten, der sich über die Dinge und über das Zueinander der Dinge gebreitet hatte, und keine Anordnung hätte man sich ausdenken können, die nicht ebenso zufällig und willkürlich gewesen wäre wie die bestehende. Es war zweifelsohne eine gewisse Verwirrung, eine gewisse Düsternis, ja, beinahe eine Gefahr, die in alldem lag, besonders da kein Grund einzusehen war, warum die Unsicherheit des Architektonischen vor anderen Dingen des Gefühls oder gar vor den Fragen der Mode haltmachen sollte; das war merkwürdig beängstigend, und wußte Hanna Wendling auch recht gut, daß es weit Wichtigeres und Schwereres gibt, so war vielleicht nichts so sehr beängstigend wie die Vorstellung, daß sogar die Modejournale ihre Anziehung einbüßen würden und daß man eines Tages selbst die »Vogue«, die während dieser vier Kriegsjahre so sehr entbehrte englische »Vogue«, ohne Entzücken, ohne Interesse, ohne Verständnis betrachten könnte.

Wenn sie sich bei derartigen Vorstellungen ertappte, so nannte sie sie phantastisch, obwohl es eigentlich viel eher nüchterne denn phantastische Gedanken waren, erfüllt von einer Art Ernüchterung, die bloß insoferne phantastisch war, als kein Rausch sich hier ernüchterte, sondern ein ohnehin nüchterner und nahezu normaler Zustand einer nachmaligen und zweiten Ernüchterung unterworfen, daß er sozusagen noch normaler wurde und im Negativen landete. Solche Wertungen sind natürlich bis zu einem bestimmten Grad immer relativ; die Grenze zwischen Nüchternheit und Berauschtheit ist nicht immer festzuhalten, und ob erst die russische Menschenliebe als Berauschtheit zu bezeichnen wäre oder ob man dies bereits auf die normale soziale Beziehung zwischen Mensch und Mensch anwenden kann, ja ob die Zusammenschau der Dinge als Rausch oder als Nüchternheit zu nehmen ist, das bleibt letzten Endes unentscheidbar. Dennoch ist es nicht unmöglich, daß es für die Nüchternheit einen Zustand der Entropie oder einen absoluten Nullpunkt gäbe, einen absoluten Nullpunkt, dem alle Beziehungen mit Notwendigkeit und unaufhaltsam zustreben. Und daß Hanna Wendling sich auf diesem Wege befand, hat manche Wahrscheinlichkeit für sich und war im Prinzip vielleicht nichts anderes als ihr Vorauseilen vor der Mode: die Entropie des Menschen ist seine absolute Vereinsamung, und was er vorher Harmonie oder Gleichgewicht genannt hat, ist vielleicht bloß ein Abbild gewesen, Abbild, das er sich von dem sozialen Gefüge geschaffen hat und schaffen mußte, solange er noch dessen Teil gewesen ist. Je einsamer er aber wird, desto mehr zerfallen und isolieren sich ihm auch die Dinge, desto gleichgültiger müssen ihm die Beziehungen zwischen den Dingen werden, und schließlich vermag er sie kaum mehr zu sehen. So ging Hanna Wendling durch ihr Haus, ging durch ihren Garten, ging über Wege, die nach englischem Muster mit Bruchtafeln gepflastert waren, und sie sah nichts mehr von der Architektonik und nichts mehr von den Verschlingungen der weißen Wege, und so schmerzlich dies auch hätte sein mögen, es war kaum mehr schmerzlich, weil es notwendig war.

 


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