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Zerfall der Werte (5)
Logischer Exkurs

Zugegeben, daß in der kgl. preußischen Kadettenanstalt Culm ein anderer Denkstil herrschte als etwa in einem römisch-katholischen Priesterseminar, es erinnert der Begriff eines »Denkstils« doch sehr an die Vagheit jener philosophischen und historischen Richtungen, deren methodologisches Krux in dem Wort »Intuition« gelegen ist. Denn die apriorische Eindeutigkeit des Denkens und des Logos erlaubt keine stilistischen Abschattungen, sie bedarf also außer der apriorischen Selbsterfassung des Geistes keinerlei anderer Intuition, und sie verweist alles übrige auf das Gebiet empirischer Abweichungen, pathologischer Abweichungen, die nicht der philosophischen, sondern der psychologischen und medizinischen Forschung anheimgegeben sind. Insuffizienz des empirischen und irdischen Denkens menschlicher Gehirne vor der absoluten Logik des Ichs, vor der absoluten Logik Gottes.

Oder es ließe sich auch einwenden: die absolute formale Logik bleibt ja bestehen, ist auch für die menschlichen Gehirne unabänderlich, – es ändern sich bloß die Denkinhalte, es ändern sich die Einsichten in das Wesen der Welt, es ist also bestenfalls eine erkenntnistheoretische, nie und nimmer eine logische Frage. Die Logik bleibt »stillos« wie die Mathematik.

 

Hat die Form des Logischen mit Inhalten tatsächlich nichts zu schaffen? irgendwo ist sie nämlich merkwürdigerweise selber Inhalt, am deutlichsten wohl, wenn man die sogenannt formalen Beweisketten verfolgt, denn nicht nur, daß die Glieder dieser Ketten Axiome sind oder axiomähnliche Sätze – etwa der Satz des Widerspruchs –, also Aussagen, die eine unübersteigbare Plausibilitätsschranke bilden (bis sie, wie z. B. beim Satz vom ausgeschlossenen Dritten, eines Tages doch überschritten wird) und deren Evidenz nur mehr inhaltlich erfaßt, aber nicht mehr formal bewiesen werden kann, sondern darüber hinaus, es würde überhaupt keine derartige logische Kette aufzustellen sein, es würde die ganze logische Maschinerie des Schließens und Beweisens sofort steckenbleiben, wenn es nicht überlogische und, trotz aller Vorverlegung der Formalgrenze, letzten Endes metaphysische und inhaltliche Prinzipien gäbe, die in ihrer Anwendung den gesamten Mechanismus in Gang erhalten würden. Das Gebäude der formalen Logik ruht auf inhaltlichen Grundlagen.

 

Der intuitionistisch-psychologistische Idealismus hat ein »Wahrheitsgefühl« vorausgesetzt, an dessen Evidenz jede Fragekette, beginnend mit dem staunenden »was ist das?«, fortgeführt im stets wiederholten »warum?«, schließlich zur Ruhe kommt, zu einer letzten axiomatischen Plausibilität: »So ist es und nicht anders.« Ist nun auch angesichts der Unabänderlichkeit eines apriorischen und rein formalen Logos das Wahrheitsgefühl eine überflüssige Einführung, so gelangt es angesichts der inhaltlichen Elemente im Logischen zu neuen und berechtigteren Ehren. Denn die Evidenzpositionen am Ende der Frage- und Beweisketten haben sich von der formalen Unabänderlichkeit losgelöst und sollen nun trotzdem bestimmenden Einfluß auf den logischen Beweisgang selber und auf dessen Form nehmen. Das Problem, das sich damit erhebt: »In welcher Art können Inhalte, seien sie nun logisch-axiomatischer oder außerlogischer Natur, derart in die formale Logizität eingreifen, daß bei Aufrechterhaltung der formalen Invarianz die Veränderlichkeit des Denkstils eintritt?«, dieses Problem ist kein psychologisches und kein empirisches mehr, sondern ein methodologisches und metaphysisches, denn hinter ihm steht in aller Apriorität die Urfrage alles Ethischen: Wie kann Gott den Irrtum zulassen, wie darf in der Welt Gottes der Wahnsinnige leben?

 

Man kann sich vorstellen, daß eine Fragekette überhaupt zu keinem Schluß kommt: alle ontischen Frageketten besitzen offenbar diese Eigentümlichkeit, – das Problem der Materie, das sich von Grundbegriff zu Grundbegriff, vom Urstoff zum Atom, vom Atom zum Elektron, vom Elektron zum Energiequantum weiterschiebt und immer wieder nur zu einem vorläufigen Ruhepunkt gelangt, ist ein Beispiel für solch eine unendliche Fragekette.

 

An welcher Stelle eine derartige Fragekette abgebrochen wird, ist nun Angelegenheit des Wahrheits- und Evidenzgefühls, also Angelegenheit der in Kraft stehenden Axiomatik. Wenn nach der Lehre des Thales dieser Plausibilitätspunkt für die ontische Fragekette mit der Substanz »Wasser« zu setzen war, so deutet dies darauf hin, daß für Thales ein Axiomensystem in Geltung stand, innerhalb dessen die Wasser-Qualität der Materie »beweisbar« erschien. Hier sind es inhaltliche und nicht formallogische Axiome, die die Fragekette abstoppen, es sind Axiome der geltenden Kosmogonie, – aber diese inhaltlichen Axiome müssen mit den formal-logischen in irgendeiner, zumindest in der Beziehung der Widerspruchslosigkeit stehen, denn würde der inhaltliche Fortgang des Beweises mit dem formalen nicht übereinstimmen, es gäbe keine Plausibilität. (Daß nichtsdestoweniger inhaltliche und logische Axiome in Widerstreit geraten können, ist an der Lehre von der doppelten Wahrheit zu ersehen.) Aber selbst wenn man sich mit vollkommener Skepsis auf den Standpunkt des Ignorabimus stellt, und, das Vorhandensein einer kosmogonischen Plausibilität und ihrer Axiomatik leugnend, die Frageketten als unabbrechbar annimmt und ihren Abbruch als eine rein zweckmäßige, doch fiktive Willkürlichkeit betrachtet, so ist es klar, daß auch das Ignorabimus als solches einen bestimmten Plausibilitätscharakter besitzt und daß auch dieser von einer bestimmten Logizität und einer bestimmten logischen Axiomatik gestützt wird.

 

Eine gewisse, über den Rahmen des rein Intuitionistischen hinausgehende rationale Vorstellung dieser Verhältnisse könnte vielleicht die Menge der in einem Weltbild enthaltenen und wirksamen Axiome liefern. Selbstverständlich kann diese Menge weder aufgewiesen noch durchgezählt werden, – man kann bloß den Axiomsreichtum oder die Axiomsarmut in den Extremfällen sichtbar machen. Die Kosmogonie der Primitiven z. B. ist von äußerster Kompliziertheit: jedes Ding der Welt führt sein Eigenleben, ist gewissermaßen causa sui, jeder Baum wird von seinem eigenen Gott bewohnt, jedes Ding von seinem eigenen Dämon; es ist eine Welt von unendlich vielen Axiomen und jede Kette von Fragen, die sich auf die Dinge der Welt beziehen, jede Fragekette stößt nach ganz wenigen, ja vielleicht schon nach dem ersten Schritt auf eines dieser Axiome. Gegenüber solcher Vielfalt kurzer, fast eingliedriger ontologischer Ketten sind in einer monotheistischen Welt diese Ketten bereits sehr weit, wenn auch nicht unendlich weit fortgeführt, so weit nämlich, bis sie in dem einzigen Urgrund »Gott« zusammenlaufen. Zieht man also bloß die ontologisch-kosmogonischen Axiome in Betracht – unter Vernachlässigung der anderen, also etwa der rein logischen –, so ist für die beiden Extremfälle, die sich in den polaren Kosmogonien der primitiven Magie und des Monotheismus repräsentieren, die Axiomenanzahl von Unendlich auf Eins herabgesunken.

 

Soferne Sprache Ausdruck der Logik ist, soferne Logik immanent in der Struktur der Sprache aufscheint, läßt sich von der Sprache ein Rückschluß auf die ontologische Axiomenanzahl, auf die Natur der Logik und die Veränderlichkeit ihres »Stils« ziehen. Denn eben das komplizierte ontologische System der Primitiven, eben ihr ausgebreitetes Axiomensystem spiegelt sich in der ganz außerordentlich komplizierten Struktur und Syntax ihrer Sprachen wider. Und ebensowenig wie die Veränderung des metaphysischen Weltbilds auf Zweckmäßigkeitsgründe zurückzuführen ist – niemand wird behaupten können, daß die abendländische Metaphysik »zweckmäßiger« sei als etwa die auf mindestens gleich hoher Entwicklungsstufe stehende chinesische –, ebensowenig wird die Vereinfachung und der grundlegende Stilwandel innerhalb der Sprachen (kann auch ihre Gebrauchsabschleifung nicht angezweifelt werden) ausschließlich unter den Zweckmäßigkeitsgedanken gestellt werden dürfen, ganz abgesehen davon, daß die Zweckerklärung für eine ganze Reihe von Veränderungen und syntaktischen Eigentümlichkeiten nicht ausreicht.

 

Welche Funktionen das Axiomensystem, sei es nun ontisch oder logisch, für die eigentliche logische Struktur haben kann, auf welche Art es sich in dieser Unabänderlichkeit des Formalen trotzdem als »Stil« ausprägt, kann immerhin durch ein Bild vorstellbar gemacht werden: bei gewissen geometrischen Konstruktionen wird der unendlich ferne Punkt willkürlich innerhalb der endlichen Zeichenebene angenommen, und dann wird so konstruiert, als würde dieser fiktive Unendlichkeitspunkt wirklich der unendlich weit entfernte sein. Die Lage der einzelnen Konstruktionsglieder zueinander bleibt in einer solchen Konstruktion die gleiche, als würde jener Punkt wirklich unendlich weit entfernt sein; bloß haben sich alle Maße verzerrt und zusammengeschoben. Und so ähnlich darf man sich die Veränderungen vorstellen, welche die logischen Konstruktionen erleiden, wenn der logische Plausibilitätspunkt aus dem Unendlichen ins Endliche und Irdische gerückt wird: die formale Logik als solche, ihre Schlußweise, ja sogar ihre inhaltlichen Assoziationsnachbarschaften bleiben bestehen, – was sich ändert, sind ihre »Maße«, ist ihr »Stil«.

 

Der Schritt, der über die monotheistische Kosmogonie hinaus noch zu tun blieb, war ein fast unmerklicher, und war doch von größerer Bedeutung als alle vorhergegangenen: der Urgrund wird aus der »endlichen« Unendlichkeit eines immerhin noch anthropomorphen Gottes in die wahre abstrakte Unendlichkeit hinausgeschoben, die Frage ketten münden nicht mehr in dieser Gottesidee, sondern laufen tatsächlich in die Unendlichkeit (sie streben sozusagen nicht mehr nach einem Punkt, sondern haben sich parallelisiert), die Kosmogonie ruht nicht mehr auf Gott, sondern auf der ewigen Fortsetzbarkeit der Frage, auf dem Bewußtsein, daß nirgends ein Ruhepunkt gegeben ist, daß immer weiter gefragt werden kann, gefragt werden muß, daß weder ein Urstoff noch ein Urgrund aufzuweisen ist, daß hinter jeder Logik noch eine Metalogik steht, daß jede Lösung bloß als Zwischenlösung gilt und daß nichts übrigbleibt als der Akt des Fragens als solcher: die Kosmogonie ist radikal wissenschaftlich geworden und ihre Sprache und ihre Syntax haben ihren »Stil« abgestreift, haben sich zum mathematischen Ausdruck gewandelt.

 


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