Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

51

Seitdem Heinrich Wendling seinen Urlaub angekündigt hatte, waren mehr als drei Wochen vergangen. Und obwohl sie immer noch des Morgens länger im Bette blieb, glaubte Hanna kaum mehr daran, daß Heinrich wirklich noch kommen würde. Aber plötzlich war er da, weder am Abend noch am Morgen, sondern am hellen Mittag. Er hatte die halbe Nacht am Koblenzer Bahnhof verbracht und war dann mit einem Militärzug langsam heraufgekommen. Und während er dies erzählte, standen sie auf dem gepflasterten Gartenweg einander gegenüber; die Mittagssonne brannte, in der Mitte der Rasenfläche leuchtete der rote Gartenschirm neben dem Streckstuhl, auf dem sie gelegen hatte, man roch die heiße rote Baumwolle, und das herabgeglittene Buch blätterte im leichten Mittagswind. Der Heimgekehrte berührte sie nicht, er hatte ihr nicht einmal die Hand gereicht, doch er starrte ihr unverwandt ins Gesicht, und sie, wissend, daß er ein Bild suchen mußte, das er seit mehr als zwei Jahren mit sich trug, sie hielt still unter dem suchenden Blick, und auch sie schaute in das ihr zugewandte Antlitz, auch sie suchend, zwar nicht nach einem Bilde, das sie begleitet hatte, denn in ihr war kein Bild mehr vorhanden, doch nach Zügen suchte sie, um derentwillen sie einst gezwungen gewesen, dieses Antlitz zu lieben. Sonderbar unverändert schien ihr nun dieses Antlitz, sie kannte und wiedererkannte die Linie der Lippen, Stellung und Form der Zähne, die Einkerbung oberhalb des Kinns war die gleiche geblieben, und der Raum an der Nasenwurzel zwischen den Augen war infolge des breiten Oberschädels ein wenig zu groß. »Ich muß dein Profil sehen«, sagte sie und er wandte folgsam den Kopf. Da war es wieder die gleiche gerade Nase über der langen Oberlippe, es war bloß alle Weichlichkeit verschwunden. Man mußte ihn eigentlich einen schönen Mann nennen, doch sie fand trotzdem nicht, was sie einst so sehr entzückt und bezwungen hatte. Heinrich fragte: »Wo ist der Junge?« – »Er ist in der Schule … willst du nicht ins Haus gehen?« Sie traten ins Haus. Aber auch jetzt berührte er sie nicht, küßte sie nicht, sondern schaute sie bloß an. »Ich muß mich vor allem säubern … seit Wien nicht gebadet.«

»Ja, wir wollen ein Bad einlaufen lassen.«

Die beiden Dienstmädchen kamen, den Herrn zu begrüßen. Hanna war dies nicht ganz angenehm. Sie ging mit ihm ins Badezimmer hinauf. Richtete selber die Badetücher.

»Es ist alles noch am alten Platz, Heinrich.«

»Oh, es ist alles noch am alten Platz.«

Sie verließ das Badezimmer; es gab allerlei anzuordnen, umzuordnen; sie tat es müde.

Schnitt Rosen im Garten für den Mittagstisch.

Kehrte nach einiger Zeit leise zur Badezimmertür zurück, hörte ihn drinnen plätschern. Sie fühlte das herannahende Kopfweh im Hinterhaupt. Auf das Treppengeländer sich stützend, stieg sie wieder zur Hall hinunter.

Endlich kam der Junge aus der Schule. Sie nahm ihn bei der Hand. Vor dem Badezimmer rief sie: »Darf man schon hinein?« – »Natürlich«, klang es etwas erstaunt zurück. Sie öffnete ein wenig, lugte durch den Spalt; Heinrich stand halbangezogen vor dem Spiegel, und da steckte sie dem Jungen eine der Rosen in die widerwillig geöffnete Kinderfaust und schob ihn hinein und lief selber davon.

Im Eßzimmer wartete sie auf die beiden und mußte wegblicken, als sie eintraten. Sie sahen sich lächerlich ähnlich, die gleichen weitauseinanderstehenden Augen, die nämlichen Bewegungen, der nämliche Ansatz des braunen Haars, bloß daß Heinrich es jetzt ganz kurz geschoren trug. Es war, als hätte sie an dem Kinde gar kein Teil gehabt. Ein fürchterlicher Mechanismus war es; oh, es ist fürchterlich, verliebt gewesen zu sein. Und ihr Leben erschien ihr in diesem Augenblick wie eine einzige Unzurechnungsfähigkeit, verzweifelte Unzurechnungsfähigkeit, die man doch niemals würde abstellen können.

Heinrich sagte: »Wieder daheim«, und setzte sich auf seinen alten Platz. Vielleicht erschien ihm sein Ausspruch selber dumm; er lächelte unsicher. Der Bub betrachtete ihn aufmerksam und befremdet.

Da saß er wie ein Familienvater und war ein Störenfried.

Auch das Mädchen konnte den Blick nicht von ihm abwenden; es war etwas wie scheue Verwunderung und wie Neid darin, und als das Mädchen wieder hereinkam, sagte Hanna sehr laut: »Soll ich zu Röders telefonieren … wegen Abend?«

Rechtsanwalt Röders war der Kanzleikollege Wendlings; er war über fünfzig und militärfrei.

Die Uhr in dem englischen Mahagonigehäuse schlug ihren tiefen Gongschlag.

Hanna berührte mit dem kleinen Finger die Kante seines Handrückens, als sollte diese Liebkosung um Verzeihung bitten für den Gedanken an den Abend mit Röders, zugleich aber auch mahnen, daß sie körperliche Berührung vermeiden wollten.

Heinrich sagte: »Natürlich muß ich bei Röders anklingeln, … ich will's dann gleich besorgen.«

Hanna sagte: »Nachmittags wollen wir mit Papa spazieren gehen, uns zeigen.«

»Ja, das wollen wir«, sagte Heinrich.

»Ist es nicht schön, daß Papa wieder bei uns sitzt?«

»Ja«, sagte das Kind nach einigem Zögern.

»Du mußt dir seine Schulhefte ansehen, … jetzt kann er schon schreiben und rechnen. Seine Briefe hat er ganz allein geschrieben.«

»Das waren mächtig schöne Briefe, Walter.«

»Das waren nur Karten«, sagte Walter schüchtern.

Daß sie das Kind zwischen sich nahmen, um über seinen braunen Scheitel hinweg einander zu finden, deuchte ihnen beiden wie ein Mißbrauch. Sicherlich wäre es richtiger gewesen zu sagen: wir küssen uns erst, bis unsere Sehnsucht unerträglich geworden ist. Aber diese Sehnsucht war keine Sehnsucht, war bloß unerträgliche Erwartung.

Sie gingen ins Kinderzimmer, über dessen Täfelung ein sogenannt lustiger Kinderfries gemalt war. Und mit jener zweiten und helleren und etwas verschobenen Intelligenz, die aus übersteigerter Erwartung oder aus klammerndem ziehendem Kopfschmerz zu entspringen vermag, wußte Hanna, daß diese Schleiflackmöbel und all diese Weiße gleichfalls Mißbrauch des Kindes waren, wußte daß dies mit des Kindes eigenem Sein und Wesen nichts zu tun hatte, sondern daß hier ein Symbol errichtet und eingerichtet worden war, Symbol ihrer weißen Brüste und der weißen Milch, die sie nach erfolgreicher Umarmung geben sollten. Sie hatte die Hände an den schmerzenden Nacken gelegt. Es war ein sehr entfernter und sehr undeutlicher Gedanke, und doch lag darin die Ursache, um derentwillen sie sich niemals im Kinderzimmer hatte aufhalten mögen und den Jungen lieber zu sich kommen ließ. Sie sagte: »Du mußt Papa auch deine neuen Spielsachen zeigen.« Walter brachte den neuen Baukasten und die feldgrauen Soldaten. Es waren dreiundzwanzig Mann und ein Offizier, der gebeugten Knies mit gezücktem Degen auf den Feind hinwies. Keines der drei bemerkte, daß auch Dr. Heinrich Wendling eine feldgraue Offiziersuniform trug; allerdings hatte ein jedes ein anderes Motiv für dieses Nichtbemerken: Walter, weil er den Vater als Eindringling empfand, Heinrich, weil er die heroische Geste des Zinnsoldaten unmöglich mit dem eigenen Kriegertum identifizieren konnte, Hanna, weil sie, zu ihrem eigenen Schrecken, diesen Mann nackt vor sich sah, nackt und isoliert in seiner Nacktheit. Es war die gleiche Isoliertheit, in der die Möbel wie nackt, unverbunden ihrer Umgebung, beziehungslos untereinander, fremd und befremdend um sie herumstanden.

Auch er mußte es fühlen. Und als sie spazieren gingen, nahmen sie das Kind in die Mitte, und es war Trennung, obwohl Hanna, lustig mit dem Arm schlenkernd, den Knaben an der Hand führte, und obwohl Heinrich oftmals die andere Hand des Knaben ergriff. Sie schauten einander auch nicht an, sie waren gleichsam von Scham befangen, sie blickten geradeaus oder auf die Wiesen, wo Löwenzahn und violetter Klee, Steinnelken und lila Skabiosen zwischen den Gräsern wuchsen. Es war ein warmer Tag und Hanna war es nicht gewohnt, nachmittags spazieren zu gehen. Trotzdem lag es nicht allein an der Hitze, daß sie, heimgekehrt, ein so starkes Bedürfnis nach einem Bad verspürte; jeder Wunsch setzte jetzt merkwürdig in einer tieferen Schicht an: als wäre es eine große Einsamkeit, die den ins Wasser getauchten Körper umgibt, waren es Vorstellungen von der magischen Wiedergeburt, die der Einsame durch das Wasser erfährt. Deutlicher allerdings als solche Gedanken war dabei die Scheu, das Badezimmer abends in Heinrichs Anwesenheit aufsuchen zu müssen. Indes, es wäre vor dem Mädchen auffallend gewesen, wenn sie mitten am Tage ein Bad genommen hätte, und vorschützend, daß sie sich für den Abend umkleiden müsse, bat sie Heinrich, er möge mittlerweile einen Wagen bestellen und sich um Walter bekümmern. Dann begab sie sich ins Badezimmer, um wenigstens zu duschen. Wie sie aber in die Wanne stieg, in der noch vom Vormittag her einige Tropfen hingen, denn an der Brause haftete noch das Wasser, da wurden ihr die Knie schwach, und sie mußte das kalte Wasser so lange über sich rinnen lassen, bis ihre Haut wie Glas und die Spitzen ihrer Brüste ganz hart geworden waren. Hernach war es erträglicher.

Sie fuhren spät zu Röders; Heinrich schickte den Wagen weg, es war solch schöner Abend, und Hanna war mit der Rückkehr zu Fuß dankbar einverstanden, – je später es werden würde, desto besser. Und es war wohl Mitternacht, als sie das Haus Röders verließen. Doch wie sie dann den stillen Marktplatz überquerten, auf dem außer dem Posten vor der Kommandantur niemand zu sehen war, und dieser Platz mit den dunklen Häusern ringsum, in denen kaum ein Licht mehr brannte, wie ein Krater der Einsamkeit vor ihnen lag, wie ein Krater der Stille, aus dem stets neue Wellen der Ruhe sich über die schlafende Stadt ergossen, da faßte Heinrich Wendling seine Frau unter den Arm, und in dieser ersten Berührung der Körper schloß sie die Augen. Vielleicht hatte auch er die Augen geschlossen, sah weder den schweren sommerlichen Nachthimmel, noch den weißen Streif der Landstraße, die sich vor ihnen dehnte und in deren Staub sie gingen, vielleicht sah jeder von ihnen ein anderes Firmament, sie beide verschlossen wie ihre Augen, ein jeder in seiner Einsamkeit, und doch vereint in dem Wiedererkennen der Körper, die zum endlichen Kusse sich fügten, entschleierten Gesichts, lasziv in der Deutlichkeit des Geschlechts, dennoch keusch in dem Schmerz nie endenwollender Fremdheit, die von keiner Zärtlichkeit mehr aufgehoben werden kann.

 


 << zurück weiter >>