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9

Huguenau hatte im Speisesaal Platz genommen. An einem der Nebentische saß ein weißhaariger Major. Das Mädchen stellte eben die Suppe vor ihn hin, und der alte Herr zeigte ein merkwürdiges Gehaben: mit gefalteten Händen, das rötliche Gesicht fromm verschlossen, neigte er sich ein wenig über den Tisch, und erst nach Beendigung solch unverkennbaren Gebets brach er das Brot.

Huguenau waren bei dem ungewohnten Anblick solchen Tuns die Augen steckengeblieben; er winkte das Mädchen heran und fragte ziemlich ungeniert nach dem merkwürdigen Offizier.

Das Mädchen beugte sich zu seinem Ohr: das sei der Stadtkommandant, ein adeliger Gutsbesitzer aus Westpreußen, der für Kriegsdauer reaktiviert worden sei. Frau und Kinder seien auf dem Gute verblieben und er stehe mit ihnen in täglichem Briefwechsel. Und die Kommandantur sei im Rathaus, der Herr Major aber wohne schon seit Kriegsbeginn hier im Hotel.

Huguenau nickte befriedigt. Plötzlich verspürte er im Magen lähmende Kälte, und da wußte er es nun plötzlich auch, daß da ein Mann saß, der die Militärgewalt verkörperte, daß dieser Mann bloß den Arm mit dem Suppenlöffel auszustrecken brauchte, um ihn zu vernichten, daß er also gewissermaßen mit seinem Henker Tür an Tür wohnte. Der Appetit war ihm vergangen! Sollte er nicht das Essen abbestellen und fliehen?!

Doch das Mädchen hatte inzwischen die Suppe gebracht, und während Huguenau mechanisch zu löffeln begann, wich die lähmende Kälte und ging in eine fast beglückende kühle Schwäche und Wehrlosigkeit über. Er durfte ja gar nicht fliehen, er mußte ja die Sache mit dem »Kurtrierschen Boten« ins reine bringen.

Ja, beinahe war ihm wohlig zumute. Denn der Mensch glaubt zwar, daß seine Entscheidungen und Entschlüsse in einer großen Mannigfaltigkeit sich bewegen, und in Wirklichkeit sind sie ein bloßes Pendeln zwischen Flucht und Sehnsucht, und alles Fliehen und alles Sehnen gilt doch dem Tode. Und in diesem Schwanken der Seele und des Geistes zwischen Pol und Gegenpol fühlte Huguenau, der soeben noch zur Flucht bereite Wilhelm Huguenau, sich seltsam zu dem alten Mann dort drüben hingezogen.

Mechanisch aß er, merkte nicht einmal, daß heute Fleischtag war, mechanisch trank er, und in der extremeren, sozusagen luzideren Realität, deren er nun schon seit Wochen teilhaftig war, zerfielen die Dinge, rückten auseinander bis zu den Polen, rückten bis an die Grenzen der Welt, wo alles Getrennte wieder eins wird und die Entfernung wieder aufgehoben ist, – Furcht wird zu Sehnsucht, Sehnsucht zu Furcht, und der »Kurtriersche Bote« verband sich mit jenem weißhaarigen Major zu einer seltsam unlöslichen Einheit. Das läßt sich nicht viel präziser oder rationaler ausdrücken, denn auch die Handlungen Huguenaus erfolgten unter Aufhebung jeglicher Entfernung, gewissermaßen irrational wie unter Kurzschluß und ohne Überlegungszeit; es war also auch kein eigentliches Warten, mit dem Huguenau zuwartete, bis der Major seine Mahlzeit beendet hatte, es war eine Art Gleichzeitigkeit von Ursache und Wirkung, in der er sich mit dem Augenblick erhob, da der Major nach neuerlichem stummem Gebet den Stuhl zurückschob und eine Zigarre anzündete: ohne jede Befangenheit und schnurstracks näherte er sich dem Major, trat er an den Major heran, unbefangen, obwohl er dabei noch keinen Vorwand für solchen Überfall wußte.

Doch kaum hatte er sich geziemend vorgestellt, da hatte er auch schon unaufgefordert Platz genommen, und leicht floß es ihm von den Lippen: er erlaube sich gehorsamst zu melden, daß er dem Pressedienst zugeteilt sei und sich in dessen Auftrag hier befinde, es gäbe nämlich hierorts ein Lokalblatt, »Kurtrierscher Bote« geheißen, über dessen Haltung allerlei Bedenkliches gemunkelt werde, und er sei, ausgestattet mit entsprechenden Vollmachten, hergereist, um die Verhältnisse an Ort und Stelle zu studieren. Ja, und – was werde ich jetzt sagen, dachte Huguenau, aber der Strom der Rede floß weiter; es war, als formte sie sich erst im Munde, – ja, und da die Zensurfragen gewissermaßen und in gewissem Sinne in das Ressort des Stadtkommandos fallen, so halte er es für seine Pflicht, dem Herrn Major hiemit Aufwartung zu machen und Meldung zu erstatten.

Während dieser Ansprache hatte der Major mit einem kleinen Ruck eine vorschriftsmäßige Haltung angenommen und den Versuch gemacht, den Einwand anzubringen, daß für diese Angelegenheit der regelmäßige Dienstweg angemessen erscheine; Huguenau, dem die strömende Rede nicht versiegen durfte, hörte kaum hin und schnitt den Einwand kurzweg mit dem Hinweis ab, daß er sich nicht in offizieller, sondern bloß in offiziöser Eigenschaft dem Herrn Major respektvollst genähert habe, da die erwähnten Vollmachten keine staatlichen seien, vielmehr solche der patriotischen Großindustrie, Namen brauche er nicht zu nennen, man wisse ohnehin, welche ihn mit der Mission betraut haben, bedenkliche Zeitungen bei Preiskonvenienz eventuell anzukaufen, da verhütet werden müsse, daß bedenkliche Ideen ins Volk dringen. Und Huguenau wiederholte »Bedenkliche Ideen im Volk«, wiederholte das Wort, als wäre ihm mit der Rückkehr zum Ausgangspunkt alle Sicherheit gegeben, als wäre das Wort ein gutes Bett, in dem es sich gut liegt.

Wahrscheinlich verstand der Major nicht, worauf es hinauslaufen sollte, aber er nickte, und Huguenau nahm seinen Kreislauf wieder auf: ja, es handle sich um bedenkliche Zeitungen, und nach seinem eigenen, wie überhaupt nach menschlichem Ermessen sei der »Kurtriersche Bote« eine bedenkliche Zeitung, deren Aufkauf er unbedingt empfehlen würde.

Er sah den Major triumphierend an, seine Finger trommelten auf dem Tisch, und es war, als erwarte er von dem Stadtkommandanten Bewunderung und Lob für die gelungene Leistung.

»Zweifelsohne sehr patriotisch«, stimmte der Major endlich zu, »ich danke für die Mitteilung.«

Huguenau hätte sich somit entfernen können, aber er mußte ein besseres Resultat erzielen, und so dankte er dem Herrn Major vor allem für das gezeigte Wohlwollen und bat, angesichts solchen Wohlwollens eine Bitte, eine kurze Bitte anschließen zu dürfen: »Meine Kaufproponenten legen begreiflichen Wert darauf, daß bei einem derartigen Aufkauf einer Zeitung, die doch mehr oder weniger ein Lokalblatt genannt werden muß, auch lokale Interessenten an der Sache beteiligt wären; das ist doch begreiflich, wegen der Kontrolle etcetera … Herr Major verstehen?«

Ja, das sei begreiflich, sagte der Major verständnislos.

Nun, sagte Huguenau, seine Bitte ginge dahin, der Herr Major, der ja hiefür als die berufenste Person gelten könne, möge doch einige zuverlässige und begüterte ortsansässige Herren nennen, die – selbstverständlich unter entsprechender Geheimhaltung – an dem Projekt zu interessieren wären.

Der Major meinte: eigentlich falle diese Angelegenheit in das Ressort der Zivilverwaltung und nicht in das des militärischen Kommandos, doch könne er Herrn Huguenau den Rat erteilen, sich Freitag abends hier einzufinden, da an diesem Tage stets einige Stadtverordnete und andere Herren der Bürgerschaft anzutreffen seien.

»Ausgezeichnet! aber Herr Major werden gleichfalls anwesend sein«, sagte Huguenau, der nicht so leicht locker ließ, »ausgezeichnet, wenn Herr Major die Patronanz über die Aktion übernehmen, dann kann ich für ein gutes Gelingen garantieren, speziell, da es sich doch um verhältnismäßig geringfügige Kapitalien handelt, und es sehr vielen der Herren höchst interessant sein wird, solcherart mit der Großindustrie in Fühlung und in ein gewisses Kompagnieverhältnis zu treten … ausgezeichnet, wirklich ausgezeichnet … Herr Major gestatten zu rauchen …« und er rückte seinen Stuhl näher heran, nahm eine Zigarre aus dem Etui, putzte seine Brillengläser und begann zu rauchen.

Der Major sagte, daß dies sicherlich sehr erfreuliche Auspizien wären und daß er bedaure, von diesen geschäftlichen Dingen nichts zu verstehen.

Oh, das mache nichts, sagte Huguenau, das tue nichts zur Sache. Und weil er seinen Kreis nochmals zu durchlaufen wünschte, vielleicht aus Virtuosentum, vielleicht um die gewonnene Sicherheit zu befestigen, vielleicht aus bloßem Übermut, rückte er noch ein Stückchen näher an den Major heran und bat um die Erlaubnis, eine weitere Mitteilung anfügen zu dürfen, die jedoch bloß für den Herrn Major persönlich bestimmt sei. Er habe nämlich bei seinen bisherigen Unterhaltungen mit dem Herausgeber jener Zeitung, einem gewissen Esch, von dem der Herr Major gewiß schon gehört habe, den sicheren Eindruck empfangen, daß hinter der Zeitung eine, wie möge er sich ausdrücken, eine ganze submarine Bewegung bedenklicher subversiver Elemente im Gange sei, manches scheine sich ja schon herumzusprechen, wenn aber das Zeitungsprojekt tatsächlich realisiert werde, so wäre er dann wohl in der Lage, auch in solch dunkles Treiben jenen Einblick zu gewinnen, der im Interesse des Volksganzen zu erstreben und notwendig sei.

Und ehe der alte Herr antworten konnte, war Huguenau aufgestanden und schloß seine Rede: »Bitte, oh bitte Herr Major, es ist bloß meine patriotische Pflicht … es ist nicht der Erwähnung wert … ich werde mir also gestatten, der so ehrenden Einladung am Freitag abend Folge zu leisten.«

Er schlug die Hacken zusammen und begab sich leicht, fast tänzerisch an seinen Tisch zurück.

 


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