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Nach dem Begräbnis Samwalds begann der Mann Gödicke zu sprechen.

Der Kriegsfreiwillige Samwald war der Bruder des Uhrmachers Friedrich Samwald gewesen, des Uhrmachers, der in der Römerstraße seinen Laden hatte. Nach einem Trommelfeuer samt Sturmangriff hatte der junge Samwald plötzlich zu husten begonnen und war zusammengeklappt. Er war ein netter, tapferer Bursche von 19 Jahren gewesen, von allen wohlgelitten, und so hatte er es erreichen können, daß er in das Lazarett seiner Vaterstadt geschickt wurde. Er war nicht einmal mit einem Krankentransport, sondern wie ein Urlauber allein gekommen, und Oberstabsarzt Kuhlenbeck hatte gesagt: »Na, dich, mein Junge, dich werden wir bald hochbringen.« Und obgleich auch Dr. Kessel um Samwald sehr bemüht gewesen war, und Samwald doch schon ganz gesund geschienen hatte, bekam er auf einmal wieder einen Blutsturz und nach drei Tagen lag er da, hinweggerafft. Trotz der schönen Sonne, die vom Himmel lachte.

Weil es ein Spital leichter Fälle war, wurde das Sterben nicht verheimlicht wie in den großen Spitälern. Im Gegenteil, das Sterben wurde zu einem feierlichen Ereignis gestaltet. Bevor man ihn zum Friedhof hinaustrug, hatte man den Sarg vor dem Eingang des Lazaretts aufgebahrt, und hier wurde die Einsegnung vorgenommen. Die Lazarettinsassen, soweit sie nicht bettlägerig waren, hatten die Waffenröcke angelegt und standen in Reih und Glied, und eine Menge Leute waren aus der Stadt gekommen. Der Oberstabsarzt hatte einen Heldennachruf gehalten, der Pfarrer stand vor dem Sarg, ein Junge in roter Soutane mit weißem Überwurf schwenkte das Räucherfaß. Dann knieten die Weiber nieder, auch manche der Männer, und es wurde nochmals der Rosenkranz gebetet.

Gödicke hatte sich im Garten aufgehalten. Als er die Ansammlung bemerkte, kam er mit seinen Stöcken hin und stellte sich mit dazu. Was da vor sich ging, war ein wohlvertrauter Anblick, und darum mußte er ihn ablehnen. Er dachte nach; er wollte diesen Anblick zerstören, zerfetzen wie man ein Stück Papier oder Karton zerfetzt – darüber mußte er scharf und eng nachdenken. Als die Weiber auf die Knie plumpsten wie Scheuerfrauen, saß ihm das Lachen in der Kehle, aber es war ihm verboten, einen Laut von sich zu geben. Er stand da auf seine beiden Stöcke gestützt, inmitten der knienden Weiber, wie ein Gerüst stand er da und rammte seine Stützen in die Erde und preßte den Ton in die Kehle zurück. Nun aber die Weiber ihr Vaterunser und ihre drei Aves beendet hatten und zu der Stelle kamen: »Abgestiegen zu der Hölle, am dritten Tage wieder auferstanden von den Toten«, da war es wie auf einer tieferen Fläche des Gerüstes, da war es wie von einem Bauchredner, den er einmal gehört hatte, da war es dort oberhalb des so schmerzenden und zusammengebogenen Unterleibs, daß Worte sich formten, und statt zu bellen, vielleicht sogar unhörbar, so sehr steckten die Worte noch drinnen, sagte der Maurer Gödicke: »Auferstanden von den Toten …«, sofort wieder verstummend, so sehr entsetzte ihn dieses Geschehen, das sich in dem untern Stockwerk des Gerüsts abspielte. Man beachtete ihn nicht; man hatte den Sarg aufgehoben; auf den Schultern der Träger schwankte der Sarg mit dem daraufgeschnallten Kruzifix; der Uhrmacher Samwald, klein und ein wenig krumm, schloß sich inmitten der übrigen Anverwandten den Trägern an; dann folgten die Ärzte; dann kamen alle anderen. Hinterdrein, in seinem Spitalskittel, gestützt auf seine beiden Stöcke, humpelte der Maurer Gödicke.

Auf der Chaussee bemerkte ihn Schwester Mathilde. Sie bahnte sich den Weg zu ihm: »Gödicke, Sie können doch so nicht mitgehen … denken Sie mal, im Spitalskittel …« aber er hörte nicht auf sie. Auch als sie den Oberstabsarzt zur Verstärkung heranholte, ließ er sich nicht beirren, sondern blickte geradeaus vor sich hin und ging seinen geraden Weg weiter. Kuhlenbeck sagte schließlich: »Ach, lassen Sie ihn, Krieg ist Krieg, … wenn er müde wird, soll ein Mann bei ihm bleiben, der ihn heimbringt.«

Es war ein langer Weg, den Ludwig Gödicke solcherart zurücklegte; die Frauen um ihn herum beteten, und die Ufer der Straße waren voller Gebüsche. War eine Gruppe mit ihren Aves zu Ende, so begann eine andere, und aus dem Walde rief der Kuckuck. Manche der Männer und auch der kleine Uhrmacher Samwald trugen schwarze Anzüge wie Zimmerleute. Es rückte vieles zusammen, besonders wenn an den Wegbiegungen der Zug sich verlangsamte und die Leiber zusammendrängte; und die Röcke der Weiber waren wie sein eigener Kittel; um die Beine schlugen die Röcke beim Gehen; und eine da vorne ging mit gebeugtem Kopf und ein Taschentuch vor dem Gesicht. Und wenn der Mann Gödicke auch nicht hinsah, sondern den Blick unverwandt geradeaus auf die Wagenspuren geheftet hielt, ja sogar oftmals versuchte, die Augen zu schließen, nicht anders als er die Zähne zusammengepreßt hielt, auf daß die Teile seiner Seele sich noch näher zusammendrängten, sein Ich zu ersticken, ja, wenn er auch lieber stehen geblieben wäre, die Stöcke in den Boden gerammt, und all diese Menschen lieber zum Schweigen und zum Stehen gebracht hätte, sie lieber zerstoben gesehen hätte nach allen Windrichtungen, so war er dennoch fortgezogen, fortgetragen, und er schwamm und er schwebte, er selber ein schwankender Sarg, auf der Woge des wiederkehrenden Gebets, das ihn begleitete.

Als auf dem Friedhof die Leiche nochmals eingesegnet wurde und über der geöffneten Erde, in die man sie hinabließ, nochmals die Litanei anhob: »Auferstanden von den Toten«, und während der kleine Uhrmacher Samwald unentwegt in die Grube schaute und schluchzte, und ein jeder an das Grab herantrat, die Erde dem Krieger nachzuschütten und dem Uhrmacher die Hand zu drücken, da stand, nunmehr allen sichtbar, gestützt auf seine zwei Stöcke und mit wehendem Vollbart, da stand im grauen langen Spitalskittel dieser Mann Gödicke mächtig vor dem kleinen Uhrmacher Samwald am Rande des Grabes und beachtete nicht die gebotene Hand, sondern sprach mit großer Anstrengung, trotzdem für alle vernehmlich, seine ersten Worte; er sagte: »Auferstanden von den Toten.« Und hierauf legte er seine Stöcke beiseite, jedoch nicht, weil er die Schaufel nehmen und Erde hinabschütten wollte, nein, das tat er nicht, es geschah etwas völlig anderes und Unerwartetes, er schickte sich an, selber in die Grube zu steigen, schickte sich umständlich und mühselig an, hinunterzuklettern, und ein Bein hatte er auch glücklich schon über den Rand hinausgebracht. Natürlich war sein Vorhaben jedermann unbegreiflich; man glaubte, daß er, der sich noch nie ohne Stöcke fortbewegt hatte, kraftlos zusammengesunken sei. Der Oberstabsarzt und noch etliche Trauergäste sprangen hinzu, zogen ihn aus der Grube und trugen ihn zu einer der Friedhofsbänke. Vielleicht war nun der Mann Gödicke wirklich schon von seinen Kräften verlassen; er leistete keinen Widerstand mehr, und er saß auch jetzt ganz still da, hatte die Augen geschlossen und sein Kopf war zur Seite gesunken. Der Uhrmacher Samwald aber, der mitgelaufen war und gerne beim Tragen geholfen hätte, war bei ihm geblieben; und da ein großer Schmerz die Seele eines Menschen aufzulockern vermag, so ahnte Samwald, daß hier etwas Besonderes geschehen war; neben ihm sitzend, sprach er zu dem Maurer Gödicke tröstend wie zu einem Leidtragenden, sprach zu ihm wie zu einem, der das schwerste Leid zu tragen hat, und er sprach von dem toten Bruder, der einen schönen und jungen und schmerzlosen Tod gehabt. Und der Mann Gödicke hörte es mit geschlossenen Augen an.

Inzwischen waren die Honoratioren des Ortes an das Grab getreten, unter ihnen, wie sich's gehörte, auch Huguenau im blauen Anzug, einen steifen schwarzen Hut in der einen Hand, in der anderen aber einen Kranz. Und Huguenau sah sich höchst indigniert um, weil der Bruder des Verstorbenen nicht zur Stelle war, diesen Kranz zu bewundern, einen schönen Eichenkranz, gestiftet vom Verein »Moseldank«, ein wirklich schönes Gebinde mit Schleifen, auf welchen zu lesen war: »Dem tapferen Krieger das Vaterland.«

 


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