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Der Uhrmacher Samwald kam nun öfters ins Spital hinaus. Er besuchte die Stätte, an der man seinen Bruder gepflegt hatte, auch wollte er sich erkenntlich zeigen und tat dies, indem er nicht nur die Uhren des Lazaretts kostenlos regulierte, sondern sich auch allen Insassen anbot, ihre Taschenuhren ohne Entlohnung in Reparatur zu nehmen. Und dann besuchte er den Landwehrmann Gödicke.
Gödicke aber wartete auf diese Besuche. Seit dem Begräbnis war ihm manches klarer und ruhiger geworden; das Irdische seines Lebens hatte sich verdichtet, und trotzdem schien es gehobener und luftiger zu werden, ohne an Sicherheit zu verlieren. Er wußte nun mit aller Deutlichkeit, daß er vor dem Dunkeln, hinter dem jener andere Gödicke, oder richtiger, jene vielen Gödickes von einst standen, daß er vor dieser dunklen Schranke nicht mehr zu erschrecken brauchte, denn sie war ja bloß die Zeit, während welcher er im Grabe gelegen hatte. Und kam jetzt einer, der ihn an das andere erinnern wollte, an das, was vor seiner Grablegung geschehen war, so brauchte man nicht mehr Angst zu haben, sondern man konnte es sozusagen mit einem Achselzucken abtun, wissend, daß es nichts mehr zu bedeuten hatte. Er mußte es jetzt nur mehr durchwarten, denn das Leben, das sich jetzt um ihn sammelte, brauchte er nicht mehr zu fürchten, selbst wenn es ganz nahe an ihn heranrückte: er hatte den Tod bereits hinter sich, und alles, was kam, diente lediglich dazu, das Gerüst immer höher zu bauen. Zwar sprach er noch immer kein Wort und er hörte auch nicht hin, wenn die Schwestern und die Zimmerkameraden sich an ihn wandten, aber seine Stummheit und Taubheit waren nun weit weniger Verteidigung seines Ichs und seiner Einsamkeit denn Verachtung und Strafe für die Störenfriede. Nur den Uhrmacher Samwald duldete er, ja er wartete auf ihn.
Samwald allerdings machte es ihm leicht. Selbst wenn Gödicke gebückt und auf die Stöcke gestützt einherging, konnte er auf den kleinen Uhrmacher herabsehen; doch war dies keineswegs das Wesentliche. Wichtiger war es wohl, daß Samwald, als wüßte er, wen er vor sich hatte, nicht den geringsten Versuch machte, ihn auszufragen oder an irgend etwas zu erinnern, das ihm, Ludwig Gödicke, nicht genehm war. Eigentlich sprach Samwald überhaupt nicht viel. Saßen sie nebeneinander auf einer Bank des Gartens, so zeigte er ihm die Uhren, die er zur Reparatur übernommen hatte, ließ die Deckel springen, so daß man das Räderwerk sehen konnte, und versuchte zu erklären, wo der Fehler lag. Oder er sprach von dem toten Bruder, der, wie er sagte, zu beneiden wäre, weil er es überstanden hätte und sich in einem schöneren Jenseits befände. Wenn aber der Uhrmacher Samwald dann vom Paradies und den himmlischen Freuden zu reden anhob, so war dies wohl einerseits abzulehnen, denn es war ein Belang, welcher den Konfirmationsunterricht des verschollenen Knaben Gödicke anging, andererseits jedoch war es wie eine Huldigung für den Mann Gödicke, wie eine Frage an ihn, der mit besserem Wissen bereits im Jenseitigen wandelte. Und wenn Samwald von Bibelversammlungen erzählte, die er zu besuchen pflegte und in denen er viel Erleuchtung erfuhr, wenn er erzählte, daß das Elend dieses Krieges schließlich zu einem lichteren Heil der Seele führen müsse, so hörte Gödicke noch lange nicht hin, allein es war von ferneher wie eine Bestätigung wiedergefundenen Lebens und es war wie eine Aufforderung, in diesem Leben einen gebührenden, gewissermaßen einen jenseitigen Platz einzunehmen. Der kleine Uhrmacher schien ihm dann wie einer der Jungen oder eines der Weiber, die die Ziegel zur Mauer zutrugen und die man zwar keiner Rede würdigte, sondern höchstens barsch anließ, die man aber nichtsdestoweniger brauchte. Es mag dies wohl auch der Grund gewesen sein, der ihn einmal veranlaßte, den kleinen Uhrmacher in seinen Erzählungen zu unterbrechen und ihm den Befehl zu erteilen: »Hol mir ein Bier«, und als der Befehl nicht prompt ausgeführt worden war, hatte er mit empörter Verständnislosigkeit vor sich hingeschaut. Viele Tage war er böse auf Samwald, schenkte ihm keinen Blick, und Samwald zerbrach sich den Kopf darüber, wie er Gödicke wieder versöhnen könnte. Das war schwierig genug. Denn Gödicke wußte ja eigentlich selber nicht, daß er böse auf Samwald war, und er litt sehr darunter, daß er unter dem Zwange eines unbekannten Gebotes das Gesicht abwenden mußte, sobald Samwald erschien. Und nicht daß er eben Samwald als den Urheber solchen Gebotes betrachtete, doch er verübelte es ihm zutiefst, daß das Gebot nicht aufgehoben wurde. Es war eine Art mühseligen Einander-Suchens, das zwischen den beiden Männern stattfand, und fast war es ein genialer Gedanke des Uhrmachers, als er eines schönen Tages den Mann Gödicke bei der Hand faßte und mit sich zog.
Es war ein guter warmer Nachmittag, und der Uhrmacher Samwald führte den ehemaligen Maurer Gödicke am Ärmel des Waffenrocks, Schritt für Schritt und vorsichtig, achtete auch darauf, den zackigen Basaltschotter auf der Straße zu vermeiden. Manchmal ruhten sie. Und wenn sie eine Weile geruht hatten, zupfte Samwald an Gödickes Ärmel, und Gödicke erhob sich und sie gingen weiter. So kamen sie zu Eschs Anwesen.
Die Leiter, die zur Redaktion hinaufführte, war für Gödicke zu steil, und Samwald setzte ihn auf die Bank vorm Garten und stieg allein hinauf; er kam mit Esch und Fendrich zurück. »Das ist Gödicke«, sagte Samwald. Gödicke grüßte nicht. Esch wollte sie ins Gartenhaus führen. Indes vor den beiden Mistbeeten, deren Glasfenster aufgeschlagen waren, weil Esch für den Herbstanbau gesät hatte, blieb Gödicke stehen und schaute in die Vertiefungen, in denen die braune Erde lag. Esch sagte »Na?« Jedoch Gödicke starrte weiter in die Beete. So blieben sie alle stehen, barhäuptig und in ihren dunklen Anzügen, als wären sie um ein geöffnetes Grab versammelt. Samwald sagte: »Herr Esch hat die Bibelstunden eingerichtet … wir wollen den Himmel suchen.« Da lachte der Mann Gödicke, er lachte nicht wild, es war vielleicht bloß ein etwas geräuschvolles Lächeln, und er sagte: »Der Gödicke Ludwig auferstanden von den Toten«, nicht sehr laut sagte er es, und er sah triumphierend auf Esch, ja, er richtete sich aus seiner demütig gebückten Haltung auf und war beinahe so groß wie Esch. Fendrich, der die Bibel unterm Arm trug, betrachtete ihn mit den fiebrigen Augen des Lungenleidenden, und dann berührte er leise die Uniform Gödickes, als wollte er sich vergewissern, ob Gödicke auch leibhaftig vorhanden wäre. Für den Mann Gödicke aber schien die Sache erledigt, er hatte das Seinige getan, es war nicht einmal gar so sehr anstrengend gewesen, er durfte sich ausruhen, und so ließ er sich einfach auf dem Holzrand des Mistbeets nieder, wartend, daß Samwald sich neben ihn setzen werde. Samwald sagte: »Er ist müde«, und Esch ging mit langen Schritten in den Hof zurück und rief zum Küchenfenster hinauf, die Frau möge Kaffee bringen. Dann brachte Frau Esch Kaffee, und sie holten auch Herrn Lindner aus der Druckerei, auf daß er mit ihnen Kaffee trinke, und standen um Gödicke herum, der am Rande des Mistbeets saß, und schauten zu, wie er den Kaffee schlürfte. Und bloß Gödicke sah etwas anderes. Und nachdem Gödicke mit dem Kaffee gelabt war, nahm Samwald ihn wieder bei der Hand und sie machten sich auf den Heimweg ins Lazarett. Vorsichtig gingen sie, und Samwald achtete darauf, daß Gödicke nicht auf den zackigen Schotter trete. Manchmal ruhten sie. Und wenn Samwald dem andern zulächelte, wandte dieser den Blick nicht mehr ab.