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Jene verbrecherische und rebellische Zeit, die die Renaissance genannt wird, jene Zeit, in der das christliche Wertgebilde in eine katholische und eine protestantische Hälfte zersprengt wurde, jene Zeit, in der mit dem Auseinanderfallen des mittelalterlichen Organons der Prozeß der fünfhundertjährigen Wertauflösung eingeleitet und der Samen der Moderne gelegt wurde, Zeit der Aussaat und zugleich der ersten Blüte, diese Zeit ist weder durch den Protestantismus eindeutig zu umreißen, noch durch ihren Individualismus, noch durch ihren Nationalismus, noch durch ihre Sinnenfreude, und auch nicht durch ihre humanistische und naturwissenschaftliche Erneuerung: wenn diese Zeit, die in ihrem Stil so sinnfällig als Einheit in Erscheinung tritt und zu einem Ganzen zusammengehalten wird, wenn sie einen dieser Einheitlichkeit gemäßen Zeitgeist und Stilträger besessen hat, dann kann dieser nicht durch irgendein beliebiges der vielfältigen Phänomene getragen worden sein, selbst dann nicht, wenn es sich um ein Phänomen von so tiefer revolutionärer Gewalt handelt, wie es der Protestantismus ist, vielmehr müssen alle diese Phänomene auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden, sie müssen eine gemeinsame Wurzel besitzen, und diese Wurzel muß in der logischen Struktur des Denkens liegen, an dieser spezifischen Logik, die alle Handlungen der Epoche durchtränkt und erfüllt.
Es läßt sich nun mit einigem Recht behaupten, daß eine durchgreifende Revolution des Denkstils – und die Revolutionierung aller Lebensphänomene weist auf solch vollkommenen Umschwung im Denken hin – stets dann erfolgt, wenn das Denken an seine Unendlichkeitsgrenze gestoßen ist, wenn es die Antinomien der Unendlichkeit nicht mehr mit den alten Mitteln zu lösen vermag und von hier aus genötigt ist, seine eigenen Grundlagen zu revidieren.
Am deutlichsten, weil in unmittelbarer Nähe liegend, kann ein derartiger Denkumbruch an der Grundlagenforschung der modernen Mathematik beobachtet werden, die, von den Antinomien des Unendlichen ausgehend, zu einer Revolutionierung der mathematischen Methode gelangt, zu einer Umgestaltung, deren Tragweite heute noch nicht abzuschätzen ist. Allerdings ist nicht zu entscheiden, ob es sich hiebei um eine neue Revolution des Denkens handelt oder um die letzte endgültige Liquidierung mittelalterlicher Logizität (wahrscheinlich ist beides der Fall.) Denn nicht nur ragen die Reste des mittelalterlichen Wertgebildes bis in unsere Zeit hinein und geben der Vermutung Raum, daß auch die dazugehörigen Denkreste noch in Kraft geblieben sind, es ist eben die Antinomie und es ist das Wesen der Antinomien des Unendlichen, daß sie auf dem Boden der Deduktion erwachsen, – damit aber wohl auch auf dem Boden der Theologie: kein theologisches Weltsystem, das nicht deduktiv wäre, d. h. das nicht alle Erscheinungen aus einem obersten Prinzip, also aus Gott, vernunftgemäß abzuleiten sucht, und jedweder Platonismus, von hier aus gesehen, ist letzten Endes deduktive Theologie. Wenn daher der platonisch-theologische Gehalt im System der modernen Mathematik auch nicht ohne weiteres sichtbar ist, vielleicht sogar unsichtbar bleiben muß, so lange diese Mathematik der adäquate Ausdruck der herrschenden und sie beherrschenden Logik ist, so zeigt sich dennoch eine auffallende Verwandtschaft zwischen ihren Unendlichkeitsantinomien und denen der Scholastik: gewiß spielte sich die Infinitendiskussion des Mittelalters nicht auf mathematischem Gebiete ab (oder nur höchst nebenbei in kosmischen Erwägungen), aber die »ethische« Unendlichkeit, wie man sie wohl nennen dürfte, und wie sie etwa in dem Problemkreis um die unendlichen Attribute Gottes zutage tritt, enthält alle Fragen des Aktual- und Potentiell-Unendlichen, stellt strukturgemäß das nämliche Grenzgebiet dar, auf dem die Antinomien und Schwierigkeiten der modernen Mathematik liegen. Da wie dort entsteht der antinomische Sachverhalt aus der Absolutierung der logischen Funktion, einer Absolutierung, die nicht zu umgehen ist, so lange eine herrschende Logik nicht sich selbst aufgeben will, und die erst bemerkt werden kann, wenn die antinomische Grenze erreicht wird. Für die Scholastik nimmt diese Fehlabsolutierung vor allem in der Symbolauslegung Gestalt an: die Sichtbarkeit der Kirche, also ihre irdische und endliche Daseinsform, die nichtsdestoweniger den Anspruch auf Absolutheit erhebt, die aristotelische »Verendlichung« des unendlich fernen platonisch-logischen Punktes mußte eine Verendlichung aller Symbolformen nach sich ziehen, und wurde es auch ein System bewunderungswürdiger Symbolspiegelungen, ein System von Symbolen zu Symbolen, allüberschattet und zu magischer Einheit verbunden durch das erhaben-irdische, unendlich-endliche Symbol der Eucharistie, so war der Denkumbruch im Unendlichen nicht mehr aufzuhalten, und an der antinomisch-unendlichen Grenze mußte das scholastische Denken umwenden, um die endlich gewordene platonische Idee dialektisch wieder aufzulösen, d. h. die Umkehr zum Positivismus vorzubereiten und jene automatische Entwicklung zu nehmen, deren Anfänge bereits in der aristotelischen Formung der Kirche sichtbar waren, deren weiterer Fortgang aber trotz mannigfacher Rettungsversuche von Seiten der Scholastik (Lehre von der doppelten Wahrheit, Streit der Nominalisten und Realisten, Occams Neubegründung der Erkenntnistheorie) nicht mehr gehemmt werden konnte; an der Absolutierung, an den Unendlichkeitsantinomien mußte sie scheitern, – die Logizität war aufgehoben.
Alles Denken stimmt aber nur insolange mit den Tatsachen überein, als das Vertrauen zu seiner Logizität aufrecht bleibt. Dies gilt für jedes Denken, nicht bloß für das deduktiv-dialektische (um so mehr als es unentscheidbar ist, wieviel Deduktion in irgendeinem Denkakt enthalten ist). Es wäre falsch, zu sagen, daß das Vertrauen in die Deduktion verloren wurde, weil man die Tatsachen plötzlich mit anderen, besseren Augen zu betrachten gelernt hat; gerade das Umgekehrte ist der Fall: die Tatsachen werden erst dann anders betrachtet, wenn die Dialektik zusammengebrochen ist, und dieser Zusammenbruch ist nicht auf ein Versagen vor der Wirklichkeit zurückzuführen, vor einer Wirklichkeit, deren Zurechtbiegung noch lange vorgehalten hätte, sondern er muß vorher auf dem eigensten Gebiet der Logik, nämlich angesichts des Unendlichkeitsproblems erlitten worden sein. Die Geduld des Menschen vor der Autorität der Logik ist schier unerschöpflich und sie läßt sich höchstens mit seiner unwandelbaren Geduld vor der ärztlichen Kunst vergleichen, und so wie der menschliche Körper den unsinnigsten Kuren vertrauensvoll ausgesetzt wird und dabei sogar gesundet, so erträgt die Wirklichkeit auch das unmöglichste Theoriengebäude, – insolange die Theorie nicht selber ihren Bankrott erklärt, so lange wird sie vom Vertrauen getragen und die Wirklichkeit ordnet sich ihr unter. Erst nach erfolgter Bankrotterklärung reibt sich der Mensch die Augen, erst dann wendet er sich der Wirklichkeit wieder zu, verlegt den Quell seines Wissens vom Gebiet des Vernunftschlusses auf das der lebendigen Erfahrung.
Diese beiden Phasen der geistigen Revolution sind nun im ausgehenden Mittelalter deutlich zu erkennen: Bankrotterklärung der scholastischen Dialektik und darauffolgend die – wahrhaft kopernikanische – Wendung zum unmittelbaren Objekt. Oder mit andern Worten, es ist die Wendung vom Platonismus zum Positivismus, von der Sprache Gottes zu der Sprache der Dinge.
Doch mit dieser Wendung vom zentralistisch ekklesiastischen Organon zur Vielfalt der unmittelbaren Eindrucksmöglichkeiten, mit diesem Übergang vom platonischen Gebilde mittelalterlicher Theokratie zur positivistischen Schau auf die empirisch gegebene und unendlich bewegte Welt, mit dieser Atomisierung der einstigen Ganzheit, mußte notwendigerweise eine Atomisierung der Wertgebiete, soweit sie mit den Objektgebieten zusammenfallen, Hand in Hand gehen. Kurzum, die Werthaltungen werden nicht mehr von einer Zentralstelle aus geleitet, sondern erhalten ihre Prägung vom Objekt aus, – nicht mehr um Aufrechthaltung der biblischen Kosmogonie handelt es sich, sondern um die »wissenschaftliche« Beobachtung des Naturobjektes und um das Experiment, das mit ihm angestellt werden kann, nicht um die Errichtung des Gottesstaates handelt es sich mehr, sondern um ein selbständig gewordenes politisches Objekt, das eine neue adäquate politische Methode in Gestalt des Machiavellismus erforderlich macht, nicht dem absoluten Krieg, wie er sich in den Kreuzzügen konkretisierte, gilt der Sinn des Ritters, sondern irdischem Streit, der mit neuartigen unritterlichen Feuerwaffen ausgetragen wurde, nicht mehr um die Christenheit geht es, sondern um bestimmte empirische Menschengruppen, die durch das äußere sprachliche Merkzeichen ihrer Nationalität zusammengehalten werden, nicht dem Menschen als Glied des ekklesiastischen Organons, sondern dem menschlichen Individuum in seiner Eigenbedeutung gilt das Interesse des aufkommenden Individualismus, und für die Kunst ist die Gemeinschaft der Heiligen und ihre Verherrlichung nicht mehr das einzige letzte Ziel, sondern es liegt in der getreuen Beobachtung der äußeren Welt, liegt in jener Treue, die den Naturalismus der Renaissance ausmacht. Aber so weltlich diese Wendung zum unmittelbaren Objekt auch aussehen mag, so wahrhaft heidnisch, daß sie mit Freuden die neuentdeckte Antike zum Eideshelfer aufrief, so drängte sich neben dem äußeren Objekt das innere mit nicht geringerer Mächtigkeit auf, ja, die Unmittelbarkeit der Renaissance ist vielleicht eben in dieser Innenschau am unmittelbarsten: Gott, der bisher bloß durch das Medium der kirchlich-platonischen Hierarchie in Erscheinung treten durfte, er wurde mit dem Blick auf das Seeleninnere, mit der Entdeckung des Fünkleins im Seelengrunde zur unmittelbaren mystischen Erkenntnis, er wurde zur wiedergefundenen Gnade, – und dieses auffallende Zusammensein äußerster heidnischer Weltlichkeit mit der konsequentesten Innerlichkeit des mystischen Protestantismus, dieses Zusammenwohnen disparatester Werttendenzen innerhalb eines einzigen Stilgebiets wäre wohl völlig unerklärbar, würde es nicht auf den gemeinsamen Nenner der Unmittelbarkeit zurückzuführen sein. Der Protestantismus wurde gleich allen anderen Phänomenen der Renaissance, und vielleicht noch stärker als die anderen, ein Phänomen der Unmittelbarkeit.
Aber noch ein weiteres und sehr entscheidendes Konstitutionsmerkmal dieser Epoche darf von hier aus seine Begründung erfahren: das Phänomen der »Tat«, das in jeder Lebensäußerung der Renaissance, und nicht zuletzt im Protestantismus, so sinnfällig in Erscheinung tritt, jene beginnende Verachtung des Wortes, die den sprachlichen Ausdruck womöglich auf seine poetische und rhetorische Autonomie einzuschränken wünscht, ihn aber in die übrigen Bereiche nicht eindringen läßt und statt dessen den handelnden Menschen als einzigen Faktor einsetzt, dieses Hinstreben zu einer Stummheit, die die Stummheit einer ganzen Welt vorbereiten sollte, all dies steht in einer nicht zu verkennenden Beziehung zu der Zerfällung der Welt in Einzelwertgebiete, ist abhängig von jener Wendung zur Sprache der Dinge, die, um im Bilde zu bleiben, eine stumme Sprache ist. Es ist fast so, als hätte damit dokumentiert werden sollen, daß eine Verständigung zwischen den einzelnen Wertgebieten überflüssig geworden ist, oder als könnte eine derartige Verständigung die Strenge und Eindeutigkeit der Ding-Sprache verfälschen. Die beiden großen rationalen Verständigungsmittel der Moderne, die Sprache der Wissenschaft in der Mathematik und die Sprache des Geldes in der Buchhaltung, sie haben beide in der Renaissance ihren Ausgangspunkt gefunden, sind beide aus jener ausschließlichen und eindeutigen Gerichtetheit auf das eigene Wertgebiet und aus einer Esoterik des Ausdrucks entstanden, deren Strenge beinahe als Askese zu bezeichnen wäre. Dennoch hat solche Sinnesrichtung mit der katholisch-mönchischen Askese wenig gemein, denn sie ist nicht wie diese Mittel zum Zweck, will nicht ekstatische »Hilfe« sein, sondern sie ist aus der Eindeutigkeit der Tat hervorgegangen, der Tat, die fortan als die allein eindeutige Sprache zu gelten hat und der allein sie sich unterordnet. So ist auch der Protestantismus seinem Ursprung und Wesen gemäß »Tat«, er setzt den gott-handelnden, den gottsuchenden, den gott-findenden Menschen mit einer ebensolchen Aktivität ausgestattet voraus, wie sie dem neuen Naturforscher, ja, wie sie dem neuen Kriegertypus und dem neuen Politiker eigentümlich war. Luthers Religiosität ist durchaus die eines Tatmenschen und im Grunde alles andere denn kontemplativ. Aber eben in der »Tat«, in dieser »Tatsächlichkeit« liegt auch hier die Strenge, die kategorisch-imperative Pflichterfüllung, die Absperrung gegen alle anderen Wertgebiete, jene geradezu bilderstürmende Askese eines Calvin, eine, man möchte sagen, erkenntnistheoretische Askese, die Erasmus sogar die Forderung erheben ließ, daß die Musik aus dem Gottesdienste ausgeschlossen werde.
Allerdings: auch das Mittelalter kannte die Tat. Und so sehr sich der neue Positivismus von der scholastischen Platonik abheben mochte, er legte mit der Verweisung des Individuums auf das einsame Ich zugleich die »positivistische Wurzel« alles Platonischen frei. Die neue Christlichkeit protestierte nicht nur, sie reformierte auch, sie empfand sich durchaus als Renaissance des christlichen Gedankens, und wenngleich sie fürs erste ohne Theologie auftrat, so entwickelte sie auf autonomer und schmälerer Basis späterhin doch eine rein platonisch-idealistische Theologie: denn als solche kann die Kantsche Philosophie aufgefaßt werden. Die »Wertrichtung«, die ethische Forderung an das Tun, hatte sich gegenüber dem Mittelalter nicht geändert und hätte sich auch nicht ändern dürfen, denn nur in dem handelnden Willen zum Wert und zu seiner Absolutheit konstituiert sich der Wert, – andere als absolute Werte gibt es nicht. Was sich geändert hat, war die Abgrenzung der wertsetzenden Tat: während sich bisher die Intensität der Absolutierung auf den Gesamtwert des christlichen Organons bezogen hatte, wurde nun die Radikalität der auf sich selbst gestellten Logik, wurde die Strenge ihrer Autonomie jedem Einzelgebiet separat zugeordnet, wurde jedes dieser Einzelgebiete zum eigenen Wertgebiet absolutiert, wurde jene Vehemenz in die Welt gebracht, mit der die absolutierten Wertgebiete brückenlos und beziehungslos nebeneinander bestehen sollen, jene Vehemenz, die der Renaissancezeit ihre eigentümliche Färbung verliehen hat.
Gewiß ließe sich einwenden, daß der Gesamtstil der Zeit all die disparaten Wertgebiete gleichmäßig umfaßte, ja, daß sogar die Persönlichkeit Luthers sich keineswegs asketisch auf ein einziges Gebiet beschränkte, vielmehr, daß sich gerade bei ihm die religiösen und weltlichen Momente in eigentümlicher Weise vereinen. Aber es läßt sich ebensogut sagen, daß hier erst der Anfang einer Entwicklung stattfindet, die zu ihrer vollen Entfaltung fünfhundert Jahre benötigte, daß die Zeit noch voller Sehnsucht nach mittelalterlicher Zusammenfassung war und daß eben eine Persönlichkeit wie die Luthers, die zwar nicht mehr logisch, doch kraft ihres menschlichen Reichtums die disparatesten Werttendenzen in sich zusammenfaßte, diesem Bedürfnis der Epoche entgegenkommend, die Epoche zu der seinen machte und eine Wirkung auf sie ausübte, die ungleich größer sein mußte, als die des »logischeren« Calvin. Es ist, als ob die Zeit noch voll Furcht vor der »Strenge« und der beginnenden Stummheit gewesen wäre, als ob sie diese fürchterliche kommende Stummheit hätte übertäuben wollen, und als ob sie vielleicht darum zur Geburtsstunde der neuen Sprache Gottes, zur Geburtsstunde der neuen polyphonen Musik hätte werden müssen. Aber dies sind unbeweisbare Vermutungen. Hingegen kann es als gesichert gelten, daß dieser Zustand der Epoche, daß diese Verwirrtheit des Beginns es war, die die katholische Gegenreformation ermöglichte, daß die Angst vor der beginnenden Einsamkeit und Isoliertheit die Bereitschaft für eine Bewegung auslöste, welche das Wiederfinden der Einheit versprach. Denn die Gegenreformation hatte die gigantische Aufgabe auf sich genommen, die von der asketischen Nur-Religiosität des Protestantismus ausgeschlossenen Wertgebiete neuerlich zu sammeln, eine neuerliche Zusammenfassung der Welt und all ihrer Werte zu versuchen und unter Leitung der neuen jesuitischen Scholastik nochmals die mittelalterliche Ganzheit anzustreben, auf daß die platonische Einheit der Kirche thronend als oberster Wert über allen anderen Wertgebieten ihre göttliche Stellung für immer bewahre.